
Die Rede von Stiftungspräsidentin Ulrike Lorenz
Jahresempfang 2022
„Als wir unser Themenjahr in aller Unschuld planten, dachten wir an Sprache im Guten und im Schlimmen, aber nicht an die Sprache des Kriegs“. Die Rede von Ulrike Lorenz beim Jahresempfang der Klassik Stiftung Weimar am 19. März 2022.
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Claudia Roth,
lieber Stiftungsratsvorsitzender und Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
verehrte Stiftungsräte und Gremienvertreter*innen, Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestags, Thüringer Landtags, Stadtrats Weimar,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Kultur, Museen, Bildung und Medien (AsKI, KNK), geschätzte Freunde und Förderer der Klassik Stiftung Weimar,
lieber Reinhard Laube – als Hausherr dieses Denkraums der Besonnenheit,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung,
sehr geehrte Damen und Herren,
lassen Sie mich zuguterletzt noch einmal von vorn beginnen: „Nie ist ein Krieg an sich selbst abscheulicher und in seinen Folgen schrecklicher gewesen; nie hat ein Krieg allgemeineres Interesse gehabt; nie ist ein Krieg so sehr Sache eines Jeden, so sehr allgemeine Sache der Menschheit gewesen, als der gegenwärtige.“ 1793 meldet sich Christoph Martin Wieland aus Weimar zu Wort. Anlass war der Erste Koalitionskrieg Preußens, Österreichs und einiger Kleinstaaten wie Sachsen-Weimar-Eisennach gegen das revolutionäre Frankreich.
Weiter Wieland – so viel Zeit zum Mitdenken muss sein: „Hierin stimmen die beiden Hauptparteien überein. Jeder glaubt, oder gibt vor zu glauben und will die Zweifelnden überreden, dass sie für die Sache der Menschheit fechte, dass das Heil der Welt, die Rettung der Völker […] ihr letzter Zweck sei […]. Jeder scheint daher entschlossen, zu siegen oder zu sterben […]; und keine will doch etwas vom Frieden hören, weil sie glaubt, dass er nur unter Bedingungen zu erhalten sei, welche sie noch mehr verabscheut […]; aber einen Frieden, der das gewisse Verderben der einen Partei zur Folge hätte, einzugehen, wäre ein Rat, der nur von Wahnsinnigen gegeben, und nur von Wahnsinnigen befolgt werden könnte […]“.
Wieland schließt seinen Aufsatz über „Krieg und Frieden“: „Auf alle Fälle ist zu hoffen, dass Friede – ein Friede auf Bedingungen, zu welchen eine gesunde Politik selbst beiden Teilen die Anleitung gibt – das Ziel sei, welchem man sich umso mehr zu nähern suchen wird, je mehr die Wahrscheinlichkeit, sich durch kluge Mäßigung solche Bedingungen verschaffen zu können, zunimmt […] – einen Feind, der das Leben so wenig achtet, dass er eine heutige Niederlage nur als Verpflichtung, morgen zu siegen oder zu sterben, ansieht, einen solchen Feind zur äußersten Verzweiflung zu treiben, kann in keinem Falle der Rat der Klugheit sein.“
Soweit Wieland, der perspektivenreiche, jedem absoluten Wahrheitsanspruch abholde Kommentator seiner eigenen grundstürzenden Umbruchszeit – Wieland, der den Götterdialog zur französischen Revolution als öffentliches Medium der Gegenwartsreflexion einführte und mit dem 1772 – vor genau 250 Jahren – die Erfindung Weimars begann.
Sein Ziehsohn Carl August beteiligte sich mit einem Weimarer Regiment am Feldzug Preußens gegen Frankreich in der Kampagne 1792 bis Dezember 1793. Beim anschließenden Rückzug führte er die Avantgarde. Dafür erhielt er 1794 den Rang eines preußischen Generalleutnants.
Zwölf Jahre später war der Krieg mitten in Weimar. Das aus der katastrophalen Schlacht von Jena-Auerstedt rückflutende französische Heer suchte 1806 die Kleinstadt heim, die da schon aus Frankreichs intellektuellem Munde als geheime Kulturhauptstadt der deutschen Länder apostrophiert worden war. Die Folgen: Plünderungen, Einquartierungen, Vergewaltigungen, niedergebrannte Häuser und Bibliotheken, tote Bürgerinnen und Bürger. Die Goethe-Legende der Rettung auf Schlafzimmers Schwelle durch eine handgreifliche Christiane Vulpius einschließlich Hochzeit danach kennen Sie alle. Des Dichters existentielle Erschütterung an der französischen Front hingegen, verschleierte der selbst 30 Jahre nach dem leibhaftigen Erleben – aktiv durch Ästhetisierung. Überlebt hat sein Denkspruch „Von hier und heute – eine neue Epoche der Weltgeschichte usw.“
So geht das in Weimar. Reinhard Laube wird am 5. Juni dieses Jahres im Rahmen unseres Themenjahrs „Sprache“ erstmals in der Geschichte der Klassik Stiftung Weimar einen öffentlichen Raum diesem Krieg von 1806 widmen, er wird gerade gebaut: im Stammgebäude unserer durch ein ziviles Brandtrauma 2004 weltberühmt gewordenen Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Dann reißt hier ein Spalt auf in eine verdrängte, aber „unvergangene“ Geschichte – und versetzt uns mit einem Schlag in die Gegenwart.
Wir beide – Laube und ich – standen kürzlich in diesem künftigen Kabinett einer paradoxen Intervention vor der Militärbibliothek Carl Augusts und im Handumdrehen waren wir in ein explosives Gespräch verwickelt über die Spracheskalationen Brüssels und Berlins zum hochbrandenden, aber noch nicht offen als Angriffskrieg ausgebrochenen Ukraine-Konflikt. Die Barbaren kommen offenbar seit Attilas Zeiten aus der Kälte des Ostens und in Gegenrichtung droht der Wertesieg des Westens. Die unversöhnte Dichotomie, die unsere Weltsicht bis 1989 – ob wir wollten oder nicht – bestimmte, sie ist plötzlich wieder da. Und kein Gedanke daran, dass das seit der Aufklärung festgeschriebene, mit dem vorzeitig ausgerufenen Ende der Geschichte fast schon verabschiedete, jedoch nach dem Mauerfall in Deutschland weltweit noch einmal auflebende Fortschrittsparadigma der westlichen Demokratien offenbar ein Aufschub auf Zeit gewesen ist.
Der Ukraine-Krieg schwelt seit 2014, seit die Massenbewegung des Euro-Maidan als Antwort auf die im letzten Moment nicht vollzogene Assoziierung der fünftlangsamsten Volkswirtschaft der Welt mit der EU eine zivilgesellschaftliche Demokratisierung von unten und als Antwort darauf die Krim-Annexion Russlands auslöste. Ungehört verhallte bis vor kurzem die entsetzte Enttäuschung ukrainischer Intellektueller und Schriftstellerinnen über die Ignoranz der westeuropäischen Staatengemeinschaft, die sich nach angestrengten, aber erfolglosen diplomatischen Bemühungen wieder ihren Tagesgeschäften und mit dem Syrienkrieg und der darauffolgenden Migrationswelle bald neuen Herausforderungen zuwandte. Heute Abend und in den folgenden Tagen und Wochen sollen Dichter und Denkerinnen zum Ukraine-Krieg durch Ihre Lesungen Gehör finden.
Als große Kulturinstitution in diesem Land des materiellen und mentalen Wohlstands quasi qua Amt für Gegenwartsdeutung und Orientierung aus historischer Tiefendimension zuständig, schüttelt uns im Moment die eigene Ohnmacht durch.
Klima – Covid – Krieg: eine bis Anfang dieses Jahres unvorstellbare globale Kriseneskalation stellt alles in Frage, was uns seit 1945 und 1989 ausmacht. Was können wir tun? Die Realität hat uns überholt. Als wir unser Themenjahr in aller Unschuld planten, dachten wir an Sprache im Guten – in Poesie, Philosophie, Diplomatie – und im Schlimmen – dachten an die Polarisierung unserer Gesellschaft, die Radikalisierung von Sprache, die Stigmatisierung anderer Sichtweisen durch Sprache, an Fake News im Internet und Hate Speech in den sogenannten Sozialen Medien, aber nicht an die Sprache des Kriegs, nicht an die Demagogie eines Wladimir Putin, der Krieg Frieden und Attacke Verteidigung nennt.
Unsere pinkfarbene Neujahreskarte würden wir heute überdenken. Zum Titel unserer Poesie-Interventionen im Stadtraum Weimars jedoch – „Sprachexplosionen“ – stehen wir fest und bewusst: Genau das ist gemeint, darum geht es – Sprache löst gesellschaftliche Umbrüche aus, kann zum Kriegsschauplatz werden, Sprache ist politisch, Sprache braucht Haltung und kritische Öffentlichkeit.
Im Hinblick auf die uns alle erschütternden Bilder aus der Ukraine tun wir das Nächstliegende: improvisieren spontan bei Twitter Space ein Gespräch über Krieg, Kultur und Geschichte, passen unser Jahresprogramm an, räumen Wohnungen im Pogwisch-Haus und Nietzsche-Archiv für ehemalige Fellows frei, besorgen Stipendien und Partner. Svitlana Shkvarchuk aus Czernowitz wird Anfang April mit ihren Kindern bei uns unterschlüpfen. „Ich bin jetzt in Rumänien, ich versuche mich hier auszuruhen um ein bisschen psychologisch stabiler zu werden. Ich bin hier mit meinen zwei Kindern, der Kleine ist 1 Jahr und 3 Monate alt, der Mann ist in der Ukraine geblieben. Ich überlege mir verschiedene Varianten, wie es mit meinem Leben weitergehen kann. Ihr Angebot kommt also echt rechtzeitig und ich danke Ihnen sehr dafür!“
Wir checken unsere Lager- und Restaurierungskapazitäten für Kulturgut aus der Ukraine, wir halten aber auch Kontakt mit russischen Wissenschaftlerinnen und Forscher. „We all pray für peace“, schrieb vorgestern eine Kollegin auf unsere zurückhaltende Absage einer Beteiligung an einem Fachkolloquium. Lassen Sie mich deutlich in differenzierender Abschattierung zu staatlichen Empfehlungen hier sagen: Der Kultur- und Wissenschaftsaustausch mit allen muss erhalten bleiben. Kritische Wissenschaft in repressiven Systemen ist auf internationale Unterstützung angewiesen; der Abbruch von Beziehungen wird bei unseren Partnern als Alptraum empfunden. Die friedenstiftende Macht der Kunst, die brückenbauende Kraft von Wissenschaft und Kultur sind das einzig Verlässliche, Vertrauensbildende, wenn nicht gar für Versöhnung Sorgende für eine Epoche nach dieser Katastrophe in Europa.
„Der Test für die Politik ist, wie sie endet, nicht wie sie beginnt,“ mahnte Henry Kissinger in der Ukraine-Krise 2014. Regierungspolitiker werden nicht für ihre Entrüstungsbereitschaft bezahlt, sondern für ihre Fähigkeit, vorausschauend widerstreitende Interessen mit friedlichen Mitteln auszubalancieren – das ist Schwerstarbeit. Dafür haben wir Bürgerinnen und Bürger höchsten Respekt zu zollen. Offen ist jedoch zu bemerken, dass wir im Moment von gestaltender Politik weder semantische Aufrüstung, noch die beschämende Sprachlosigkeit von vorgestern erwarten, sondern verantwortliches Handeln eingedenk einer äußerst komplexen, aus einer seit je konfliktreichen Geschichte und einer Mitverantwortung dafür herrührenden, brandgefährlichen Schieflage. Eingedenk aber auch unserer eigenen Verständnisgrenzen, die aus dem universalen Anspruch einer – auch im Weimar der Spätaufklärung geprägten – humanistischen Werte-Architektur herrührt.
Wahrscheinlich heißt es jetzt Abschied nehmen von einer Welt von gestern. Ich zitiere den Soziologen Andreas Reckwitz mit seiner Analyse in der aktuellen ZEIT (17.03.2022, Nr. 12, S. 47): „Man kann Trauer empfinden über den Verlust des Glaubens an die Unvermeidlichkeit einer historischen Entwicklung in jene Richtung, die man als Fortschritt erkannt hat. Aber man muss nüchtern sehen, dass die optimistischen drei Jahrzehnte von 1990 bis 2020 einer außergewöhnlichen Konstellation entsprangen.“ Das heißt nicht, dass man das Habermas’sche Projekt einer liberalen Moderne ad acta legen darf, wohl aber müssen wir es – so Reckwitz – „neu begreifen“: „als ein seiner eigenen Schwächen bewusstes strategisches Projekt“. Es braucht eben darum unser kraftvolles Engagement, unsere ganze Umsicht und kreative Intelligenz, weil der Erfolg dieses wieder heiß umkämpften Projekts ungewiss ist.
Die Klassik Stiftung Weimar kann als ein Labor der Humanität dienen – in aller Demut, aber auch Präzision. Als öffentliche Kultureinrichtung planen wir seit 2020, in unserer menschlich dimensionierten Wissenstopographie einer hochverdichteten Museums-, Archiv-, Bibliotheks-, Denkmal- und Parklandschaft Jahr für Jahr immer mehr und immer wirksamere „Denkräume der Besonnenheit“ (wie der Kulturwissenschaftler Aby Warburg sagen würde) zur Verfügung zu stellen: Orte für gesteigerte Wahrnehmung und blitzartiges Begreifen, für Begegnung, Austausch und Diskurs – Orte, die zu Testfeldern für Differenzierung und Distanz werden können. Nicht mehr, aber auch nicht weniger – das ist unser Plan. Und – wenn wir es klug anstellen und durchhalten – dann könnte hier bei einer kritischen Dichte, die gerade noch orchestrierungsfähig ist, tatsächlich etwas gelingen, das die Welt mit Recht von diesem Ort größtmöglicher Ambivalenz und Ambiguität erwarten kann. Denn es gilt, aus der von Claudia Roth bewusst hier und heute thematisierten unauflösbaren Spannung von Humanität und Bestialität handlungsstiftende Energie für die Herausforderungen von heute zu entwickeln.
Eine Frage muss dabei brennend bleiben: Gelingt es uns – kann es uns gelingen, an den mit Sinnüberschüssen aufgeladenen Orten und Ordnungen, aus den hier eingeschriebenen Geschichten und aufbewahrten Zeugnissen unserer Abend- und Abgrundkultur etwas herauszulesen, das uns ganz persönlich angeht, das unser Leben ändert? Was schafft das Gute und das Schöne, was helfen Dichter und Diskurse, wenn Gier nach Macht, Lust an Vernichtung sich anschickt, all unsere Gewissheiten, unsere Ideen vom guten Leben über den Haufen zu werfen?
Die größte Gefahr, der wir in Zeiten des Informationskriegs, der Manipulation unserer Wahrnehmung, der Sabotage unseres Realitätssinns ausgesetzt sind, ist der Orientierungsverlust. Auch in Weimar begegnen wir (noch) einer Erinnerungskultur, die statt auf kritischer Reflexion auf Identifikation und Emotionalisierung und im Digitalen auf Fiktionalisierung setzt. Das wollen wir beenden.
Weimar ist ein Ort, an dem seit der Reformation über Aufklärung und Klassik hinweg bis zum viermaligen Fundamentalumsturz diametraler Gesellschaftssysteme im 20. Jahrhundert Geschichte sich immer wieder neu erfunden, ereignet, in Stein und Gesellschaftsentwürfen manifestiert hat. Die Klassik Stiftung Weimar arbeitet daran, diese Geschichte auch als eine Konstruktion, als sich überlagernde, widerlegende Erzählungen lesbar und dabei die vielerorts simulierte Authentizitätsmasche bewusst zu machen. Wir wollen den Blick öffnen für Inszenierungen und Instrumentalisierungen und Material aus den Bergwerken unserer Archive und Sammlungen zur Verfügung stellen – für heute wieder oder neu gültige Sinnzusammenhänge, Zukunftsentwürfe, Lebensmodelle, die uns vielleicht helfen, uns und unsere Welt besser zu begreifen und zu gestalten.
Mit dem Themenjahr Sprache, das am 5. Mai mit dem Sprachlabor vor dem Stadtschloss, dem Poesie-Parcours in der Stadt, der Wieland-Weltgeist Ausstellung im Goethe- und Schiller-Archiv und der Öffnung der Wohnhäuser beider Dichter beginnt – mit Cranachs Bilderfluten im restaurierten Renaissance-Saal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 3. Juni weitergeht – und am 2. September mit der neu gestalteten Ausstellung zu Werk und Wirken Wielands in Oßmannstedt noch nicht endet – mit diesem Themenjahr beginnen wir unserer institutionellen Verantwortung für die unverfügbare Macht der Sprache und Literatur wieder wirksamer nachzukommen.
Dabei kann uns Christoph Martin Wieland mit seiner Methode, in literarischen Modellsituationen unterschiedliche, ja diskrepante Denk- und Lebensarten als gleichwertig anzusehen und zu gestalten, Anstoß und Vorbild sein.
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