
„Believe It!“
Lee Millers Buchenwald-Fotografien
Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 fotografiert Lee Miller einen Beerdigungszug – Buchenwald-Überlebende tragen ihre Toten zu Grabe. Eine Bildbetrachtung
Die amerikanische Surrealistin Lee Miller kam als von der US-Armee akkreditierte Kriegsfotografin am späten Nachmittag des 15. April 1945 mit einer Gruppe Militärkorrespondent*innen nach Weimar.1 Sie fuhren sofort zu dem Ort, der sie zum Kommen veranlasst hatte – das am 11. April befreite Konzentrationslager Buchenwald. Noch bevor sie das Hauptlager erreichten, begegnete ihnen auf der sogenannten „Blutstraße“, die noch heute zur Gedenkstätte Buchenwald führt, ein langer Zug ausgemergelter Männer, viele noch in der gestreiften Häftlingskleidung.
Der amerikanische Reporter Percy Knauth beschrieb die Szene eindrücklich: „Up that hill in the gathering twilight there came a long column of men, marching three abreast as silently, it seemed as shadows. It was a long, long line whose end we could not see. At its head were two coffins on little handcarts, covered with shining new French flags. These were two of the most recent dead among the French prisoners of Buchenwald. Behind them marched the living dead, heads bowed, feet scuffling up small clouds of dust, a thousand ghostly men to whom the fact of life had been a nightmare.”2 Auch Tage nach der Befreiung starben die entkräfteten ehemaligen Häftlinge weiter. Ihre Körper waren nicht mehr in der Lage, die Ihnen zugefügte Nahrung aufzunehmen. Diese Toten wurden von ihren Kameraden in namentlich gekennzeichneten Reihengräbern am Südhang des Ettersbergs bestattet.3 Einen solchen Beerdigungszug hielt Miller mit der Kamera fest. Einige der Männer schauten Sie direkt an. In ihren Gesichtern spiegeln sich Wut und Erschöpfung in gleichen Maßen.
Auf dem Kontaktbogen mit diesen Bildern befinden sich oben rechts zwei Aufnahmen, die im Kontext der fotografischen Dokumentation der gerade befreiten Konzentrationslager einzigartig sind. Miller hatte dem Zug von der Straße aus nachgesehen und verfolgt, wohin er sich bewegte. Dabei gelangen ihr Aufnahmen, die die grausamen Folgen des Lagerbetriebs im Kontext des Ortes zeigen, an dem er stattgefunden hatte, denn sie lenkt den Blick vom Ettersberg über den Trauerzug hinweg hinab Richtung Weimar. Im Vordergrund eines dieser Bilder sehen wir zunächst karges und vegetationsloses Gelände. Dann folgen Baumgruppen, der spitze Kirchturm von Gaberndorf und andere Vororte Weimars sind auszumachen. Im Hintergrund sehen wir die lieblichen Hügel der Thüringer Landschaft. Vielleicht dachte Miller, die sich in ihren Kompositionen wiederholt auf die europäische Kunstgeschichte bezog, bei der Gestaltung an die bekannten britischen Landschaftsgemälde von John Constable und J.M.W. Turner, oder die romantischen Landschaften eines Caspar David Friedrich. Der Gegenstand der Fotografie aber bewirkt, dass uns der ästhetische Naturgenuss im Halse stecken bleibt. Denn das Bindeglied von Karst- und „Kulturlandschaft“ ist die lange Reihe dunkler, nun kaum mehr zu erkennender Teilnehmer der Begräbnisprozession. Es ist ein ruhiges, kontemplatives Bild, das Miller an diesem milden Frühlingsabend einfängt. Ein Bild voll Empathie, das die ehemaligen Lagerhäftlinge nicht mehr als Opfer, sondern als Akteure darstellt, bei einem Akt der Selbstermächtigung und der Menschlichkeit. Katharina Menzel-Ahr spekulierte, dass die Aufnahmen des Zuges so selten publiziert worden seien, die beiden Landschaftsaufnahmen erstmals 2023, da sie ein würdevolles Ereignis zeigten und frei von jeder Sensationslust seien.4
Doch so leise das Bild daherkommt, soviel Sprengkraft wohnt ihm inne. Diese macht sich auf verschiedenen Ebenen bemerkbar. „‚Believe It!‘ Lee Miller Cables from Germany“, war der Titel des Essays in dem die amerikanische Vogue im Juni 1945 erstmals einige von Millers Bildern aus Buchenwald publizierte. Die Fotografin wollte, dass die Welt hinsah und glaubte, was sie im befreiten Lager beobachtet hatte. Dafür leisteten ihre Aufnahmen der Leichenberge und des Krematoriums, die die Zeitschrift mit ihren Texten veröffentlichte, Zeugenschaft.5 Sie machten die monströsen Gräuel des nationalsozialistischen Regimes international bekannt. Diese Bilder vermittelten so für die breite Öffentlichkeit einen Einblick in die Schrecken des Konzentrationslagers, der in seiner Unmittelbarkeit an den Gang in das Lager anknüpfte, zu dem der amerikanische General George S. Patton – ebenfalls von Miller dokumentiert – die Bewohner Weimars am folgenden Tag zwang.6 Gleiches gilt für die Aufnahmen des Beerdigungszuges.
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Entsprechend explosiv und dauerhaft wirksam erscheint dieses Bildmaterial. Doch mit Tatsachen und Ereignissen mag es manchmal sein wie mit den Konturen der Hügel und den Silhouetten der befreiten Häftlinge in Millers Fotografie: Sie werden in der Rückschau unscharf, verschwimmen in der Abenddämmerung und lösen sich in der Entfernung im Dunst über den thüringischen Hügeln auf. Die ehemaligen Gefangenen sind längst abgereist und nur noch wenige können ihre Geschichte selbst erzählen. Doch ebenso wie der weithin gut sichtbare Glockenturm des Mahnmals, auf dessen Gelände sich heute die Reihengräber befinden, die Ereignisse in Buchenwald fest in der Weimarer Landschaft verankert und zum Gedenken auffordert, verankern Millers Bilder die Geschehnisse, die sich in den Tagen nach der Befreiung ereigneten und was sie im befreiten Lager vorfand, in der Geschichte. Denn das kann die Fotografie, sie zeigt „Es-ist-so-gewesen“7 und verhindert damit, auch für zukünftige Generationen, den Zweifel und das Vergessen.

Lee Miller, Kontaktbogen, Erster Leichenzug, Buchenwald, 1945
Zudem verbinden Millers Landschaftsaufnahmen eindrücklich die Folgen des Holocausts mit der Stadt Weimar. Das Konzentrationslager, ohnehin 1937 bereits eingemeindet und mit der Stadt infrastrukturell, administrativ und wirtschaftlich eng verknüpft,8 war kein Ort, der außerhalb der deutschen Geschichte, Kultur, Gesellschaft und der eigenen Erfahrungswelt existierte. Natürlich gibt es, auch von Miller angefertigt, explizitere Bilder, die das Grauen des Konzentrationslagers vermitteln. Doch vielleicht kann gerade die Vertrautheit dieses Blicks vom Lagergelände herunter, mit der Landschaft, die im Wesentlichen noch so daliegt wie 1945, uns dieser Tage besonders berühren. Damals wie heute ist der Ettersberg ein beliebtes Ziel sonntäglicher Ausflüge und der Blick über Weimar, den Miller einfing, kann leicht von jedem, der sich auf den Berg begibt, reproduziert werden.
Die Aufnahmen des Zuges hat sie vermutlich von jenem Straßenabschnitt gemacht, der heute zwischen dem Gebäude, das die Ausstellung der Geschichte der Gedenkstätte beherbergt, und der Treppe verläuft, die zum Glockenturm herabführt. Die leicht abschüssige Kurve, die die Straße an dieser Stelle macht, erkennt man in ihren Bildern. Der Blick gen Weimar, den Miller fixierte, deckt sich weitestgehend mit dem von der Terrasse des Glockenturms und den umliegenden Stufen. Noch heute zeigen sich uns von dort die Kirche von Gaberndorf, die Bahnlinie nach Erfurt, dahinter Tröbsdorf und Teile der Innenstadt sowie dieselbe Hügelkette, die die Fotografin, aber auch die Teilnehmer des Begräbniszugs sahen.

Katharina Günther: Blick vom Mahnmal Buchenwald auf Weimar, 2024

Katharina Günther: Blutstraße, 2024
Dieser Blick hindert uns auch heute noch daran, uns zu entziehen. Er verbindet die Aufnahmen des Beerdigungszugs mit unserer Gegenwart, denn dort unten befinden sich unsere Häuser, unsere Arbeitsstätten und dort findet unser Alltag statt – in Sichtweite des ehemaligen Konzentrationslagers. Hier liegt die Wirkmacht dieser stillen Landschaftsaufnahmen: Millers Bilder legen uns gleichsam den Massenmord in den Konzentrationslagern vor die eigene Haustür. Damit wir ihn nicht vergessen.
1 United States Holocaust Memorial Museum, Archivdokument (Régis Gignoux papers, Accession Number: 2006.66.1): undatierter Brief eines Piloten, der nach eigener Aussage Lee Miller, Percy Knauth, Marguerite Higgins und Margaret Bourke-White nach Weimar geflogen hat; Margaret Bourke-White: Brief an ihren Redakteur Elmer Lower mit einem Bericht über die Ankunft im Lager, datiert 15. April 1945, in: Margaret Bourke-White Papers, Syracuse University Libraries, Box 27. Mein herzlicher Dank geht an Luzia Schmid.
2 Percy Knauth: Germany in Defeat, New York: Knopf, 1946, S. 32.
3 Website der Gedenkstätte Buchenwald hier (gesehen am 8. April 2024).
4 Katharina Menzel-Ahr: Lee Miller. Kriegskorrespondentin für Vogue. Fotografien aus Deutschland 1945, Marburg: Jonas Verlag, 2005, S. 196; Katharina Günther, „‘Goethe’s house is severely wrecked‘ – Lee Miller at Buchenwald and Weimar“, in: The Burlington Magazine, Mai 2023, Bd. 165, Nr. 1442, ‘Photography’, S. 508 und 509, Illustrationen Nr. 8 und 9.
5 Die britische und amerikanische Vogue wählten für ihre Juni-Ausgaben mit Millers Beiträgen unterschiedliche Bilder aus.
6 Katharina Günther: „Das Unglaubliche Glauben. Lee Millers Kriegsfotografien in der Kunsthalle Erfurt“, in: Rundbrief Fotografie, Bd. 28 (2021), Nr. 1, S. 35.
7 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, suhrkamp taschenbuch: Frankfurt a.M., 1989, S. 87.
8 Zur engen Verbindung von Stadt und Lager siehe Jens Schley: Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager 1937-1945, Böhlau: Köln 1999.
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