Briefwechsel

# 1 | Gleichzeit

02.11.2023 8

In der Reihe „Gleichzeit“ schreiben Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman in insgesamt zehn Beiträgen über ihre ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Beobachtungen in den Wochen nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober. Ein literarischer Dialog zwischen Israel und Mitteleuropa.

Eine Geschichte für Sasha am Vorabend des Krieges

Wenige Tage vor dem Krieg habe ich einen Freund besucht, einen Künstler, der ma­nisch-depressiv ist und gerade – wie er selber sagte – durch die Nacht geht. Er hat sich selbst eingewiesen, in der Psychiatrie gab es aber noch keinen Platz, und so musste er die Nacht in der Notaufnahme des Krankenhauses verbringen. Er ist ein großer Mann, ein Deutscher, seine großen Füße in grauen, abgenutzten Socken schau­ten aus dem Bett, er versuchte, sich in die fahlblaue Wolldecke mit dem Em­blem des Krankenhauses zu wickeln, er zog die Decke über seinen Kopf, offenbar sind auch die Decken hier für kleinere Menschen gemacht, für Nahostler, nicht für Teu­to­nen, und so schauten seine Socken auch unter der Decke heraus.

Er habe Angst vor der Nacht im Krankenhaus, sagte er. Die Tür der Station knackte komisch jedes Mal, wenn sie geöffnet wurde. Eine alte Frau schrie alle drei Minuten – beinahe auf die Sekunde genau –, wobei ihre Schreie fast perfekt aufstiegen und wieder abebbten, es klang wie ein Alarm oder wie Gesang. Ich schlug meinem Freund vor, es als Künstler wahrzunehmen, um Abstand davon zu kriegen, er sagte nichts da­zu. Auf dem nächsten Bett, hinter einem Vorhang, lag ein junger Mann. Er rief immer wieder nach der Krankenschwester, laut auf Hebräisch, leise auf Russisch. Auch das habe ich versucht, meinem Freund als Ablenkung anzubieten, laute Sprachen und leise Sprachen, auch da­zu schwieg er. Ich schwieg auch und schaute auf den dunklen Flur, wo ein junger Hassid, ein Ultraorthodoxer, stand und schaukelnd betete. Er betete offenbar vor dem Bett eines älteren Rabbi, den konnte ich nicht sehen (nur seine mit einer Decke umhüllten Füße, die Decke war also rabbinerkonform, oder der Rabbi war deckenkonform). Der junge Hassid betete, hob seinen Kopf, berührte sei­nen Hut mit der Hand, ging ein wenig hin und her, unentschlossen, dann blieb er wie­der stehen und betete weiter. Ich werde hier die Nacht nicht überleben, wie soll ich hier schlafen, sagte mein Freund, und ich, da ich ihm die Kunst nicht als Lösung oder zumindest als Ablenkung verkaufen konnte, ging in den Drogeriemarkt des Kran­ken­hau­ses, um ihm Ohrstöpsel zu kaufen. Der nette arabische Verkäufer sinnierte mit mir über die verschiedenen Ohrstöpsel im Sortiment. Die blauen fürs Schwimmen kamen nicht in Frage, auch die, die man für Schießübungen verwendet, waren nicht adäquat. Die guten, die ich aus Deutschland kenne, hatte er nicht, schließlich verständigten wir uns auf milchige Silikonstöpsel, in Watte gehüllt.

Ein Krankenhaus wirkt sonderbar in der Nacht, die Zeit fließt da anders, der Gang der Dinge, man kann sich auch schnell verlaufen. Zum Glück haben die klugen Menschen, die das Krankenhaus gebaut haben, farbige Streifen als Wegweiser auf dem Boden angebracht. Man muss nur den richtigen farbigen Streifen finden und ihn ent­lang­lau­fen – schnell fand ich jenen, der die Notaufnahme mit dem Ausgang verbindet, folgte ihm in entgegengesetzter Richtung, bis ich das Knacken der Tür und die melodischen Schreie hörte, dann die hebräischen Rufe, dann die russischen, dann das murmelnde Beten, dann fand ich meinen Freund. Er war von den Stöpseln nicht sehr beeindruckt, stecke sie aber artig in die Ohren, nahm die Pillen, die die Krankenschwester ihm reich­te, und hüllte sich wieder in die zu kurze Decke. Wie soll ich …, sagte er noch einmal, machte eine vage Geste mit der Hand und schwieg wieder. Es war schon nach Mitternacht, ich wusste, er musste endlich schlafen. Also legte ich mich auf das Bett neben ihm, sodass mein Kopf neben seinem war (meine Füße waren hinter seinen Schenkeln), ich umarmte ihn und sang in seine israelischen Ohrstöpsel deutsche Wiegenlieder, Brahms, La-Le-Lu, bis er einschlief (vielleicht war es aber auch die Pille, das werde ich nie erfahren).

Als ich sicher war, dass mein Freund tief und fest schlief, löste ich mich vorsichtig von ihm, stand vorsichtig auf und schlich mich weg – der Hassid schlummerte auf einem Stuhl neben seinem Rabbi, der junge Mann murmelte Unverständliches aus dem Schlaf, nur die Tür und die alte Frau knackten und sangen weiter in ihrem Takt. Ich ging den farbigen Streifen entlang zum Ausgang, aber mir schien, als würde er sich unter meinen Füßen immer weiter erstrecken, bis unter mein Auto, längs der Straße, durch die Stadt, über die Landstraße, durch meine Haustür, durch das Wohnzimmer, bis an mein Bett, sich in meinen Schlaf hinein in alle Richtungen ausbreitend, endlos.

Sasha an Ofer, 13. Oktober 2023

An dem Freitag, an dem zum Dschihad aufgerufen wurde und jüdische Einrichtungen angegriffen werden sollten, spazierte ich in der Sonne die Donau entlang, war auf dem Weg zu den Schuhen, wie es in Budapest heißt, zu dem Mahnmal für die am Ufer des Flusses Erschossenen und ins Wasser Geworfenen, damals, 1944, als ein Freund aus Charkiw per Videocall anrief.

„Bist du okay?“
„Ja, klar, und du?“
„Ja, klar, und du?“
„Ja, sicher. Meine Frau steht gerade vor der Fraenkelufer-Synagoge in Berlin Mahnwache. Ein paar Freundinnen sind mit ihr dort. Bist du okay?“
„Ja, sicher. Die eine Hälfte meiner Familie ist hier, in der Ukraine. Die andere in Israel. Ich bin super okay.“

Wir wechselten Sätze, als wären wir Klangschalen, die aneinanderstoßen. Ich zeigte meinem Freund die Aussicht von Pest nach Buda, redete darüber, wie warm es immer noch war – Mitte Oktober, ich im Shirt. Ich hielt die Kamera auf mich, er sprach mich auf meinen Davidstern an, ob ich ihn auch jetzt weiter so offen tragen würde. Ich stand am Ufer zwischen zwei Brücken, schwitzte, fingerte an der Kette herum, bis ich zu singen anfing, mir fiel einfach nichts Besseres ein.

„Weißt du noch, du hast doch dieses Lied geschrieben, wie ging nochmal die Strophe?“

Ich trällerte den Refrain, Gypsy, Jewish and Gay, das brachte ihn zum Lachen.

Die Schuhe am Ostufer der Donau sind aus Metall gegossen, gemacht für kleinere Füße, längliches, edles Schuhwerk, man muss sich akkurat angezogene Menschen vorstellen. In Kleidung, die vielleicht zum Flanieren gedacht war. Manche Schuh­spit­zen ragen über den Rand der Quaimauer, manche stehen noch auf der Promenade, zwischen ihnen abgebrannte Teelichter und abgerissene Blumenköpfe. Eine frische Nelke wand sich aus einem der Schuhe heraus. Eine Kinderzeichnung war halb unter den Absatz eines anderen Schuhs geklemmt, darauf der sechszackige Stern, Herzen mit Buntstift gemalt, das Wort Israel. Ich setzte mich auf einen Stein und sah statt der Nelke aus dem Schuh eine Wade wachsen. Aus allen Schuhen wuchsen jetzt vor meinen Augen Beine, in Nylonstrümpfen oder in Hosen mit Bügelfalte, ich sah die Hüften, Bäuche, Oberkörper, die herunterhängenden Arme. Ich sah die Ringe an den Fingern, die Uhren an den Handgelenken, die Muttermale auf den Handrücken, die Narben, die Falten. Nur die Gesichter dieser Menschen konnte ich nicht denken. Sie waren allesamt hellschimmernd, oval, blieben leer.

Ich saß auf dem Stein und wartete, bis mein ungarischer Übersetzer auftauchte. Er setzte sich zu mir, zeigte mit dem Finger auf das Mahnmal und sagte: „Das hätten meine Eltern sein sollen. Sie wurden abgeführt und waren schon auf dem Weg hier­her. Dann gab es einen Luftalarm, und sie konnten fliehen. Zufall.“ Er zog die Schultern hoch. „Zufall.“ Da bekamen vor meinen Augen all die Menschen, die ich in den Me­tall­schu­hen imaginiert hatte, das Gesicht meines Übersetzers. Breite Stirn, schmale, gerade Nase, Bart. Die, die Röcke trugen, und die in Anzughosen, sie alle sahen jetzt aus wie László. Sie sahen aus wie László und wie du, Ofer, und wie ich.

Auf dem Weg zu meinem Vortrag im Soros-Center fragte ich meinen Übersetzer, wie es sich hier in Budapest mit dem Aufruf zum Dschihad verhielt. Gebe es einen Grund zur Sorge? Habe der Aufruf überhaupt eine Resonanz?

László winkte ab. „Die Ungarn brauchen keine Dschihadisten, um die Juden fer­tig­zu­ma­chen. Das machen sie ganz allein. Die hören nicht auf den Ruf der Hamas.“

Wir überquerten die Straße, und ich sah, dass auch wir – so wie du im Krankenhaus bei deinem Freund – Orientierungslinien auf dem Boden folgten. Sie verliefen quer über die Tramschienen, über die vierspurige Allee, vorbei an dem Mahnmal, dem Ver­gnü­gungs­park mit seinem Riesenrad, der Basilika. Auch als wir das Soros-Gebäude be­tra­ten, fanden sich diese Wegweiser auf dem Boden. Die Hallen und Korridore standen leer, die Cafeteria verkaufte noch Wasser und Kaffee, und nur in dem Raum, in dem ich auftreten sollte, saßen Studierende, drehten ihre Köpfe zu mir.

Nach meinem Vortrag folgte ich den Wegweisern auf die Dachterrasse, von der aus man auf Orbáns Palast blickt. Prunkvoller Bau, drumherum Baukräne. Ich ging die Treppen hinunter, folgte den Farbstreifen so lange, bis es dunkel wurde und ich das Piepen der Krankenhausmaschinen vernahm, dann ein Gebet auf Hebräisch und ein Murmeln auf Russisch, und jemand schrie, und etwas knackte im Takt. Ich stand im Krankenhauszimmer deines Freundes und schaute ihn an. Ich konnte dich hinter ihm nicht ausmachen (du viel kleiner als er), aber ich erkannte den Freund – wusste genau, wer er ist – an den grauen, abgenutzten Socken. Ich ging um das Bett herum, sah jetzt euch beide, hörte dich ihm ein Lied ins Ohr singen. Ich legte mich hinter dich, drückte meine Hände auf deine Ohren und summte.

Eine weitere Person betrat den Raum, ich erkannte eine Freundin, ich spürte ihr Ge­wicht auf der Matratze, als sie sich hinter mich legte. Ihre Hände waren kalt auf mei­nen Ohren, ich verstand nicht, was sie sang, aber spürte die Vibration ihrer Stimme in den Handflächen. Dann kam eine weitere Person in den Raum, die Matratze ächzte, die Federn gaben nach. Noch eine Freundin kam in den Raum und noch eine und noch eine und noch eine und noch eine. Eine hinter der anderen. Wir sind eine un­end­li­che Kette. Wir singen, wir summen, wir rezitieren Gedichte, bis die Vordere endlich schlafen kann.

Das Buch "Gleichzeit"

Das Buch "Gleichzeit - Briefe zwischen Israel & Europa" aus dem Suhrkamp Verlag bündelt zehn Beiträge der Autorin und des Autoren, die zwischen November 2023 und Januar 2024 erschienen.

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