
Willkommen oder nicht
1949: Thomas Mann in Weimar
Als Thomas Mann 1949 nach Frankfurt und Weimar fuhr, um Goethe zu würdigen.
„Abrollen eines wilden Reigens“, notierte Thomas Mann am 4. August 1949 rückblickend auf diesen ersten Deutschlandbesuch seit seiner erzwungenen Emigration. Das Gästehaus in Kronberg bei Frankfurt hatte einer von der Weltpresse belagerten Festung geglichen, wenige Tage später in Weimar sah es nicht anders aus. Hinter dem Exilanten mit amerikanischem Pass lag ein zwölftägiger „Volksfest-Trubel“ mit ihn bestürmenden Gästen, Schaulustigen, Fotografen und Bürgermeistern. Davor lag die Wegstrecke von 16 langen Jahren, in denen Thomas Mann gezwungen war, im Exil zu leben – vom Schicksalsjahr 1933, in dem kurz nach der NS-Machtergreifung der vier Jahre zuvor mit dem Literaturnobelpreis geehrte Autor Deutschland verlassen musste, bis zu jenem ersten Besuch 1949, vier Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Noch hatte Mann seinen Wohnsitz in Los Angeles.
In diesen Sommertagen 1949 ist die Nervosität in der alten Heimat zum Greifen nah. Katia und Thomas Manns Ankunft ist das erste international beachtete kulturelle Ereignis nach 1945, noch bevor es so etwas wie eine diplomatische Protokollroutine gab. Und da sich Mann entschieden hat, beide Teile Deutschlands zu besuchen, ist es zudem politisch von höchster Bedeutung, auch wenn er selbst hervorhebt, Frankfurt und Weimar zu besuchen, weil er Goethe an beiden zentralen Gedenkorten würdigen möchte. Die Symbolik aber zerrt auch an seinen Nerven. Es fühle sich an, „als ob es in den Krieg ginge“, notiert er und empfindet die Reise als „Prüfung“. Selbst das heftige Nasenbluten, das ihn vor dem Aufbruch nach Deutschland befällt, führt er zurück auf die „inneren Spannungen“.
Lange hat er gezögert, ob er überhaupt kommen soll. Auch seine Kinder Erika und Golo hatten abgeraten, und den ältesten Sohn Klaus Mann kann er nicht mehr befragen. Er hat sich wenige Wochen zuvor, am 21. Mai 1949, mit Schlaftabletten in Cannes das Leben genommen. Vermutlich wäre auch er gegen diese Reise gewesen.
... wird Thomas Mann schließlich sagen, als er am 1. August im Deutschen Nationaltheater in Weimar steht, und es klingt fast erleichtert, „nun habe ich alles wieder vor Augen“ von Goethes Stadt, die in seiner Vorstellungswelt eine so bedeutsame Rolle spielt und die ihm nun mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft gar zu einem der Ihren machen will. Er weiß nicht, dass es dazu beinahe nicht gekommen wäre, weil der Vorschlag in der Stadt der Sowjetischen Besatzungszone auf heftigen Widerstand gestoßen war, wie in den Sitzungsprotokollen nachzulesen ist.
Zu diesem Zeitpunkt ist Thomas Mann 74 Jahre alt. In Weimar war er das letzte Mal vor 17 Jahren, im Goethejahr 1932, als er zu dessen 100. Todestag als gefeierter Redner empfangen wurde, den die „Vermischung von Hitlerismus und Goethe“ indes schon damals befremdete. Dass er sich nun anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag Goethes schließlich zum Besuch in der alten Heimat entschließt, begründet er mit dem Genius Goethes – dem er keinesfalls nur von auswärts huldigen kann oder will, ob er nun in Deutschland „willkommen [ist] oder nicht“.
Noch während des Krieges konnte er sich nicht vorstellen, nach Deutschland zu reisen, selbst wenn es nicht mehr gefährlich für ihn wäre. Dass seine BBC-Appelle gegen die NS-Diktatur und das Menschheitsverbrechen der Schoah auch nach deren Ende von den Deutschen nicht mehrheitlich geteilt würden, steht ihm vor Augen. Zudem befürchtet er, dass die Deutschen auch nunmehr dem Nationalsozialismus noch immer anhängen würden. Er bezweifelt, dass es den Alliierten gelingen könnte, die Deutschen zur Demokratie zu bewegen. Seinen Schweizer Begleiter Georges Motschan fragt er am Abend nach seiner Frankfurter Rede, was er glaube, „wieviel Blut wohl an all den Händen klebt, die ich heute habe drücken müssen, wieviel?“.
Bepackt mit elf Koffern bricht das Ehepaar Mann am 10. Mai 1949 von New York mit dem Schiff Richtung Europa auf und erreicht nach einem längeren Aufenthalt in der Schweiz zunächst Frankfurt, wo Mann am 25. Juli der Goethepreis verliehen werden soll, ehe die Reise über München, Nürnberg und Bayreuth nach Weimar führt, immer im Buick des „getreuen Motschan“. Der Schweizer Mann-Bewunderer, ein damals 29 Jahre alter Angestellter eines Chemieunternehmens, wird dem Paar während dieser zwölf Tage nicht von der Seite weichen und es in seiner langgestreckten Limousine durch die West- und die Ostzone kutschieren.

Das Auto, mit dem Thomas Mann nach Weimar kam: ein schwarzer Buick Super Sedan (vermutlich Baujahr 1948), hier vor Goethes Wohnhaus am Frauenplan. Am Steuer: Georges Motschan
Zu diesem Zeitpunkt weiß freilich noch niemand, wie es mit Deutschland weitergehen wird. Niemand ahnt, woran Günther Rüther in seinem Aufsatz Thomas Manns Deutschlandbilder im Goethejahr 1949 erinnert, dass mit der Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949 und der Gründung der DDR am 7. Oktober desselben Jahres zwei deutsche Staaten nunmehr einer vierzigjährigen Teilung entgegensehen.
Die Blockade der Sowjetunion über Westberlin liegt erst wenige Monate zurück, und ob sich womöglich ein System gegen das andere durchsetzen wird in diesen Anfängen des Kalten Kriegs, ist längst nicht ausgemacht. Es ist daher auch Neugier, die Thomas Mann dazu bewegt, beide Teile Deutschlands aufzusuchen. Er will das zerrissene Land vor Ort in Augenschein nehmen. In der Weimarer Vorrede zu seiner Ansprache im Goethejahr spricht er zudem noch einen weiteren Grund an, der ihn dazu bewogen hat, als er sagt, dass seine erste Wiederkehr „dem alten Vaterland als Ganzem“ gelte. Die sich gründende Teilung vollzieht er nicht mit, sondern empfände es vielmehr als „Treulosigkeit“, wenn er die deutsche Bevölkerung der Ostzone gleichsam „links liegen“ lassen würde.
In Frankfurt hatte er schon bekannt: „Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst. Deutschland als Ganzem und keinem Besatzungsgebiet.“ Der Auftritt im Westen und im Osten, verbunden mit der programmatischen Ansage, sollte Manns prekäres Image in der jungen Bundesrepublik auf lange Zeit prägen, wie der Literaturwissenschaftler Friedhelm Marx in seinem lesenswerten Aufsatz Thomas Mann und die Bundesrepublik in den Jahren 1949–1955 resümiert, weil man diese doppelte Präsenz in weiten Teilen der westdeutschen Bevölkerung als Anmaßung wahrnahm, als Missachtung der politischen Neuorientierung und als Tabubruch.

Der Dichter im Damenbad: Arbeiterinnen und FDJ-Mitglied umringen den Wagen mit Thomas Mann, © Klassik Stiftung Weimar
Manns Haltung zu seiner neuen Heimat Amerika ist zu diesem Zeitpunkt von wachsender Distanz geprägt, und er wird bald darauf die antidemokratischen Umtriebe der McCarthy-Ära zum Anlass nehmen, in die Schweiz zu gehen. Seine Haltung zu Deutschland und den Deutschen schwankt in diesen ersten Nachkriegsjahren zwischen härtester Bestrafung einerseits und Mitleid anderseits. Mal möchte er, dass eine Million Deutsche „ausgemerzt“ werden, und nennt Namen wie den des NS-Schriftstellers Hanns Johst, bis 1945 Präsident der Reichsschrifttumskammer, zu dem er vor 1933 gelegentlich Kontakt hatte. Dann wieder gesteht sich Mann ein, dass Siegermächte keine Massenhinrichtungen vornehmen können, „ohne die Methoden der Nazis nachzuahmen“.
In seinen Rundfunkreden für die BBC hat er von der „nationalen Gesamtschuld“ der Deutschen gesprochen, und keinen Zweifel daran gelassen, dass für ihn „alles, was deutsch heißt, darin eingeschlossen“ sei. Dennoch will er jetzt die Möglichkeit eines politischen und geistigen Neuanfangs unterstützen. Während er sich einerseits vor einem renazifizierten Westdeutschland fürchtet – anders als später betrachtet er Stalins Machtpolitik jetzt noch als milde –, hofft er, dass sich mit dem Erbe Goethes die deutsche Diskrepanz „zwischen Geist und Macht, Gedanke und Tat“ auflösen ließe, weil dieser es vermocht habe, das „Deutsch-Volkhafte“ und „Mediterran-Europäische“ in zwangloser Synthese zu vereinen. Auch Thomas Mann selbst, für den in zunehmendem Alter Goethe als Referenz immer wichtiger wurde, wird den Umschwung von der Vorstellung eines von Deutschland geprägten Europa hin zu einem europäischen Deutschland vollziehen.
In diesem Sinne sind wohl auch seine versöhnlichen Gesten den ehemaligen Landsleuten gegenüber zu verstehen. So spendet er sowohl das Frankfurter Preisgeld (bedürftigen Schriftsteller*innen) wie auch das Weimarer (dem Wiederaufbau der Stadtkirche St. Peter und Paul) und wird in seiner Ansprache im Goethejahr, die er identisch in Frankfurt und Weimar hält, seine lange Zeit des erzwungenen Exils aufs Äußerste beschränken. Das Exil lässt er etwa dann aufscheinen, wenn er erwähnt, wie er dort 1939 an Lotte in Weimar schrieb, dem Roman, der den Kontrast zum Kultur, Humanität und Moral vernichtenden Nationalsozialismus darstellt, und wie es ihm „durch die unselige Zeit verwehrt war, hierher zu kommen und den Schauplatz meines Buches und die Räume wiederzusehen, in denen Goethe lebte und dichtete und deren erneuter Anblick damals für meine Arbeit so wichtig gewesen wäre“.
Statt also über Ausbürgerung und Weltkrieg zu sprechen, erwähnt er die „sechzehn von Geschehen überfüllten Jahre“, ehe er zu unliebsamen Wahrheiten übergeht. Das Abfassen der Rede im Engadin hatte ihm „lächerliche Mühe und Qual“ bereitet, wie er dem Schriftstellerkollegen Hermann Hesse gestand. In Frankfurt sprach Thomas Mann in der Paulskirche, dem Ort, der als Sitz der Nationalversammlung 1848 aufs Engste verknüpft ist mit dem deutschen Parlamentarismus, von dem Mann einst bekanntlich nicht viel gehalten hatte.
Auf dem Weg dorthin wird er von Kriminalbeamten begleitet, nicht nur wegen der großen Menschenmenge auf dem Vorplatz, sondern auch wegen der Drohbriefe, die er erhält: „Das Verhalten der Deutschen zu mir ist durchaus hysterisch“, schrieb Mann dem Publizisten Dolf Sternberger: „Schmähgedichte und Artikel wechseln mit Schreien des Verlangens. Es ist unheimlich.“ In Weimar wird er wenige Tage später den Behörden auf den Leim gehen. So erleichtert ist Thomas Mann, dass die Hassbotschaften ausbleiben, dass er übersieht, wie sehr die freie Rede in diesem Teil Deutschlands längst eingeschränkt ist. Zumal die Kritik in Westdeutschland noch aus anderem Grund bis nach Weimar Wellen schlägt. Denn Thomas Mann folgt den an ihn herangetragenen Bitten nicht, dort auch das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald aufzusuchen. Das Lager ist zu diesem Zeitpunkt nicht aufgelöst. Vielmehr befinden sich dort etwa zwölftausend politische Häftlinge der Sowjetischen Besatzungszone.
Eugen Kogon, Verfasser einer Studie über den SS-Staat, der während der NS-Diktatur fünf Jahre lang in diesem Konzentrationslager acht Kilometer außerhalb von Weimar interniert war, hatte am 30. Juni in einem offenen Brief in der Frankfurter Neuen Presse entsprechend an Thomas Mann geschrieben. Trotz widersprüchlicher Äußerungen auch von Zeitzeugen ist sich die Forschung heute indes nahezu sicher, dass Thomas Mann nicht in Buchenwald war. Und auch beim KZ Dachau hielt er nicht an, als die Manns zuvor auf dem Weg nach München das Ortsschild am Wegesrand auftauchen sahen. Er habe, wird sich später ihr Chauffeur erinnern, lediglich lakonisch angemerkt, dass ihn die Nazis hier erniedrigen und umbringen wollten.
Von der alten Heimstätte München war die kleine Reisegruppe auf ihrem Weg durch das zerstörte Deutschland schließlich weiter nach Bayreuth gereist, wo sie zum Zonenwechsel von Johannes R. Becher und Klaus Gysi höchstpersönlich in Empfang genommen wurde. Die beiden späteren DDR-Kulturminister geleiteten den Dichter und seine Frau ins Weimarer Hotel Kaiserin Augusta, wo sie dem Paar eine ganze Etage für sich allein zur Verfügung stellten, um es vor Zudringlichkeiten zu schützen. Dass Katia Mann später in den Gesichtern der Menschen einen besonderen Ernst auszumachen glaubte, hält der Thomas-Mann-Biograf Klaus Harpprecht rückblickend weniger der Ehrfurcht vor dem prominenten Gast geschuldet als vielmehr der Not und der Entbehrung sowie einer tiefen Unsicherheit der Weimarer Bevölkerung angesichts der gleichzeitigen Gegenwart eines Dichters aus dem Westen und der Vertretern eines Regimes, das seine diktatorischen Züge bereits erkennen ließ.
Als Thomas Mann im Nationaltheater spricht, ist auch Oberst Tulpanow unter den Anwesenden, Chef der sowjetischen Informationsabteilung und schillernde Gestalt in der Berliner Intellektuellenszene. Er lädt die Manns im Anschluss zu einer privaten Soiree, um sich über die russische Romankunst des 19. Jahrhunderts auszutauschen. Den Erinnerungen des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer nach, der später in den Westen ging, soll Thomas Mann bei der Gelegenheit die Erfahrungen in Frankfurt und in Weimar miteinander verglichen haben, wobei die hessische Stadt schlechter wegkam. Daraufhin habe Katia Mann ihren Mann irgendwann am Rockzipfel gezogen, um ihn davon abzuhalten, sich weiter „ins Unheil“ zu reden.
Ist es ein Zeichen, dass die Abreise aus Weimar mit noch mehr Aufwand betrieben wurde als die Ankunft? Zehn Autos mit Würdenträgern aus Stadt und Land eskortierten Motschans Buick. Der Dichter soll Harpprecht zufolge den Triumphzug genossen haben, nicht weil es ihn etwa an den organisierten NS-Enthusiasmus erinnert habe, sondern an die wilhelminischen Festlichkeiten, mit der königliche Hoheiten in Manns Kindheit bejubelt wurden.
Vielleicht aber war Thomas Mann vor allem erleichtert, Deutschland wieder zu verlassen. In seinem zwei Jahre zuvor veröffentlichten Roman Dr. Faustus hatte er unmissverständlich klargemacht, dass die NS-Zeit Folge deutscher Mentalitätsgeschichte war. Wie sehr man ihm das in Deutschland übel nahm, dafür steht exemplarisch die Herabwürdigung Gerhard Nebels knapp ein Jahr nach Manns erstem Deutschlandaufenthalt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als er den Autor zum „Exponenten einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland“ abstempelte, der sich noch dazu mit seiner west-östlichen Reise „zum Anwalt der östlichen Schinderwelt“ gemacht habe. Dort freilich hatten die Auseinandersetzungen zur Ernennung des Ehrenbürgers die Anfeindungen gegenüber Mann bloßgelegt.
Thomas Mann kehrte nach Amerika zurück und übersiedelte drei Jahre später nach Europa, aber nicht nach Deutschland, sondern in die Schweiz. Seinen Kritikern zum Trotz unternahm er im Frühjahr 1955 kurz vor seinem Tod noch einmal eine Grenzüberschreitung – diesmal anlässlich des 150. Todestags von Friedrich Schiller, als er zunächst im Stuttgarter Staatstheater und dann im Weimarer Nationaltheater eine Schiller-Rede hielt. Anders als 1949 bereiste Thomas Mann diesmal zwei Länder, deren Trennung politisch besiegelt war.
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