Briefwechsel

# 2 | Gleichzeit

09.11.2023 8

In der Reihe „Gleichzeit“ schreiben Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman in insgesamt zehn Beiträgen über ihre ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Beobachtungen in den Wochen nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober. Ein literarischer Dialog zwischen Israel und Mitteleuropa.

An Sasha von Ofer, 22. Oktober 2023

Wo sind die Oliven geblieben, denke ich, während ich an der Baumreihe vorbeilaufe, die die Felder von einem der sanften Hügel trennt, die sich zwischen meinem Wohn­ort und dem Carmel-Berg erstrecken. Die Bäume hier gehören einem Freund, letztes Jahr waren sie schwer von Oliven, eine ganze Woche haben wir für ihre Ernte ge­braucht und über eine Tonne von ihnen geholt, das Öl davon verwende ich heute noch. Und jetzt – eine, zwei einsame Oliven hängen an einem der Äste, sonst nichts. Haben sie ohne mich geerntet? Kann nicht sein, die Erntezeit ist jetzt, der Freund hat sich aber gleich wenige Tage nach Kriegsausbruch mit seiner Familie ins Ausland abgesetzt, die Bilder der Pogrome aus den Dörfern im Süden haben ihn in einen Schockzustand versetzt.

Ich bin zu weit gelaufen, merke ich plötzlich, eigentlich ist es verantwortungslos, was soll ich machen, falls es wieder Luftalarm gibt (ich weiß es genau: mich auf den Boden werfen, 10 Minuten mit beiden Händen über dem Kopf liegenbleiben. Das habe ich schon mal gemacht – anderer Krieg, gleiche Übung – und kann mich an den Klang erinnern, in einem Ohr das Rascheln zertretener Grashalme, im anderen die dumpfen Schläge der Luftabwehr). Als ich Gili sagte, ich muss raus, ich kann die flimmernden Bildschirme nicht mehr sehen, die bleichen Gesichter, darunter das eigene im Spie­gel, zog sie mich ins Nebenzimmer (die Kinder könnten ja, na klar) und sagte, das sei verantwortungslos. Ich wollte sie beruhigen und sagte, ich laufe ja an der Nekropolis vorbei, die in dem weichen Kalkstein unter unserem Ort vor 2000 Jahren gegraben wurde, um jüdischen Gelehrten und sonstigen Würdenträgern eine letzte Ruhestätte zu geben. Ich springe einfach in eine der Höhlen rein, sagte ich. Die Idee, beim Alarm neben Rabi Yehuda HaNasi, der die Mishna besiegelt hat, zu liegen, fand ich fast lustig.

Später werde ich erfahren, dass es dieses Jahr im ganzen Land keine Oliven gibt. Nicht in den Hainen Galiläas, nicht auf den Hügeln hinter der Küste, nicht auf den Bergen Jerusalems, Hebrons und Ramallahs, nicht entlang der langen Alleen die in die Wüste führen. Kein Öl fürs Kochen, kein Öl fürs Leuchten, kein Öl fürs Salben, als ob die Erde selber eine Vorahnung davon hatte, was kommt.

Wieder zuhause lese ich deinen Brief, Sasha, gehe mit dir und mit László die farbigen Streifen entlang durch Budapest. Durch die Stadt also, in der Alexander, der Vater meiner Mutter, geboren wurde. Aus der er auszog, noch bevor die Deutschen kamen, zu Fuß, über Bukarest, Sofia, Istanbul, Damaskus bis nach Haifa. Er war ein imposanter Mann, der Alexander. Ich spüre noch meine alte Furcht vor ihm wenn ich an ihn denke, wie er in einem weißen Unterhemd auf seinem Balkon in Haifa saß, unkoschere Würs­te aß, die er sich aus den Läden der Christen besorgte, und Fernsehsendungen aus dem Libanon auf Englisch schaute. Mein Bruder, der meiner Mutter eine Zärtlichkeit erweisen wollte, gab seinem jüngeren Sohn den zweiten Namen Alexander. Nun sitzt Alexander der Zweite in einem Militärlager im Norden und hofft, nichts aus dem Libanon empfangen zu müssen.

In deinem Brief schreibst du, du stehst vor den Schuhen, dem Mahnmal am Ostufer der Donau „für die Erschossenen und ins Wasser Geworfenen“. Zuerst fehlt mir etwas am Ende deines Satzes, wie die fehlenden Gesichter der Figuren, die vor deinen Au­gen entstehen. Dann aber, so schreibst du, bekommen sie Gesichter, von dir, von László, auch von Alexander dem Großen und Alexander dem Bangenden, von mir. Ich lese deinen Brief, du schreibst meinen Namen. Du schreibst meinen Namen in Bu­da­pest am Mahnmal für die Erschossenen und ins Wasser Geworfenen, ich schreibe das Wort Pogrome in Israel. Mein Atem stockt, ich spüre, wie die Erde kippt, ich rutsche den farbigen Zeitstreifen zurück, versuche, mich in der Erde festzukrallen (zer­tre­te­nes Gras, Schläge in der Luft), Haifa Damaskus Istanbul Sofia Bukarest Budapest, das Israelische droht von mir abzublättern, wie aufgeplatzte Farbe, die das Jüdische unter sich preisgibt, mit Gedanken an Pässe und Sprachen. Ich rutsche weiter, du schreibst meinen Namen in Budapest, und die Zeit verklebt sich, Vergangenheit und Gegenwart. Die Zukunft, in die wir schauen, wird zum Spiegel. Ein Trost, immerhin: Ich sehe dich darin.

Sasha an Ofer, 1.11.2023

Das Licht floss warm, wie durch die dünne Schale einer Orange, auf die noch grüne Wiese in der Hasenheide. Junge Menschen im Schneidersitz, ich hörte ihre Bier­fla­schen gegeneinanderstoßen. Ich hörte ihr Lachen, als ich an ihnen vorbeilief auf dem Weg ins Jüdische Museum. Eine Freundin hatte ein paar Leute zusammengerufen. Ich war dagegen, dass wir uns im Jüdischen Museum treffen, das weißt du. Nicht weil ich den Ort nicht liebe (ich liebe ihn sehr), sondern weil ich das Gefühl hatte, damit sind wir genau dort, wo uns die anderen sehen wollen. Im Museum. Unsere Kultur und un­ser Leben: ein Relikt. Darum hätte ich die anderen lieber in einer Kneipe oder einem Club getroffen, aber ich ging natürlich trotzdem hin und freute mich darauf, sie zu sehen.

Einer der Freunde kam zu spät. Er stolperte verschwitzt und blass in das Restaurant des Museums, stieß gegen ein paar Stühle, erklärte uns, er habe sich ein paar Blocks entfernt absetzen lassen. Er bringe es gerade nicht über sich, das Ziel „Jüdisches Museum“ in die Uber-App einzugeben. Das habe er einfach nicht geschafft, und so musste er nun ganz schön weit laufen. Ich hätte gleich von zu Hause aus zu Fuß gehen können, meinte der Freund, und ein anderer stimmte ein: Er nenne seinen Nach­na­men nicht mehr am Telefon. Vor allem nicht in der Bahn, nicht laut, und den leicht lesbaren Schmuck habe er auch abgenommen.

Was geht hier vor? Was geht hier gerade verloren?

Ich beobachtete uns alle an diesem Tisch, unsere Gesichter, die Schatten darin.

Der Freund, der der Uber-App nicht mehr traut, sprach in Spiralen – brach mitten im Wort ab, setzte immer wieder neu an, starrte vor sich hin, kratze sich die Handrücken. Als habe die Erzählung seines Lebens am 7. Oktober einen Riss bekommen, als sei das, was er gerade erlebt, nicht mehr integrierbar in ein Leben, als käme er nicht mehr heran an das, was er eigentlich habe sagen wollen, an den heißen Kern. Er erzählte von seinen Großeltern, wie sie sich versteckt und so überlebt hatten, damals, dann be­rich­te­te er über ein Theaterstück, das er vorige Woche gesehen hatte. Dann sprach er übers Essen, und dann weinte er.

Wir haben den Tag des Terrors nicht verlassen. Ich würde gerne Shiva für unsere Toten sitzen, aber dafür ist es noch zu früh. Der 7. Oktober, er dauert noch an – das sind deine Worte, Ofer.

Warum fühlt ihr euch so allein?, höre ich jetzt oft. Es gibt doch all diese So­li­da­ri­täts­be­kun­dun­gen, der Bundespräsident, der Kanzler, alle haben gesagt, was zu sagen war. Reiche das nicht? Reicht euch das nicht?

Wie erklärt man dieses Erbe? Vermutlich gar nicht. Es ist nicht vermittelbar. Erfahrungen sind nicht teilbar. Man hat sie, oder man hat sie nicht.

Für manche sind Hakenkreuze, nach den Massakern am 7. Oktober eingeritzt in die Betonstelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin, einfach nur eine Meldung. Sie sehen die Bilder von Davidsternen, frisch an Türen geschmiert, hinter denen man jüdische Menschen vermutet, wischen die Bilder weg, springen auf ihr Rad, gehen zum Yoga, holen danach die Kinder von der Kita ab, beantworten rasch noch ein paar E-Mails, bevor sie sich an den Herd stellen und für alle im Haus einen großen Topf Kür­bis­sup­pe kochen. Dann verkleiden sie sich und ihre Kinder als Skelette, Metzger und Vam­pi­re, klingeln an den Türen, und die Kinder schreien: „Süßes oder Saures!“ Und ich gebe ihnen frische Rugelach, die eine Freundin gerade von Russ & Daughters aus New York mitgebracht hat.

Das muss so sein. Genau so muss das sein. Irgendwie müssen wir uns aus der toten Ecke bewegen. Irgendwann wird das wieder möglich sein. Ein Morgen denken. Die Olivenernte für das nächste Jahr schon vor dem inneren Auge, den Geschmack des Öls, das aus dieser Ernte gewonnen werden wird, auf der Zunge. Das Licht der Öllampen sehen. Das Öl auf der Haut deiner Kinder riechen, Ofer.

Es überrascht mich, wie oft ich jetzt Jüd*innen sagen höre, Israel sei diese eine si­che­re Option für die Zukunft gewesen. Sollte es hier, in Europa, einmal nicht mehr gehen, gehe man nach Israel, das habe immer festgestanden. Das war für viele hier, mit oder ohne Bezug zu der Region, eine Selbstverständlichkeit. Und nun hat sich diese Option mit einem Mal zerschlagen. Und damit Zukunft an sich – weg.

Ich hatte das nicht, nie. Weder das Land, aus dem ich komme (Russland), noch das Land meiner Vorfahren (Ukraine), noch das Land, das mir versprach, mein gelobtes zu sein (Israel), noch das andere gelobte Land (USA) waren eine Option für mich. Es hatte mich einfach nicht interessiert, ein Land zu haben.

Gestern rief mich eine Freundin an, sie ist Künstlerin, Kurdin, Alevitin, und sagte: Ich wollte dich nur wissen lassen: Ich sehe, was gerade passiert. Ich stelle mich vor dich. Blöderweise bist du doppelt so groß wie ich, aber das macht nichts. Ich frage Meh­met, er kommt auch und stellt sich auch vor dich, und ich klettere auf seine Schultern. Wir stellen uns alle vor euch. Nichts kann dir passieren, nichts.

Und ich dachte: Das ist es eigentlich. Ich habe ein Morgen. Wir alle haben ein Morgen, Ofer, und meine Zukunft, mein Eretz Israel, seid ihr.

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