
250 Jahre Goethes „Leiden des jungen Werthers“
Die „Odyssee einer Seele auf der Suche nach sich selbst“
Goethes Werther zeigt, wie das moderne Individuum an der Unbegrenztheit seiner Existenz scheitert. Goethes „eigene Geschichte“ ist er nicht.
Angeblich in vier Wochen hat Goethe seinen erfolgreichsten Roman aufgeschrieben, Die Leiden des jungen Werthers, wie ein „Nachtwandler“ und ohne „ein Schema des Ganzen“. Goethe war damals, 1774, gerade 25 Jahre alt. Die genialische Selbststilisierung stammt aus Dichtung und Wahrheit, dem Jahrzehnte später geschriebenen Erinnerungsbuch des alt gewordenen Goethes über den jungen Goethe, der den Werther-Ruhm erlebt und erlitten hat. Der Werther, ein kurzes Buch von hundert Seiten, wurde geliebt von Generationen, die ihre eigene Seelenwelt entdecken, und es wurde bekämpft, gekürzt, verboten als Rechtfertigung des Suizids. Der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze sah in dem Roman eine „Lockspeise des Satans“. Der Bischof von Mailand ließ die Bücher aufkaufen, und in Rom musste Goethe später, zunächst unter falschem Namen reisend, Maßnahmen des Kirchenstaates fürchten.
Werther, der gebildete, bequeme Dandy ohne Beruf, trägt den Todeswunsch von Anfang an in sich. Er scheitert nicht an der unglücklichen Liebe zu Lotte, die an den biederen Albert vergeben ist. Er scheitert am Übermaß des Emotionalen, das ihn am Leben hindert. Werther erschießt sich und wälzt sich sterbend um seinen Schreibtischstuhl herum. Goethe hingegen nutzte das Schreiben als „Hausmittel“ zur Selbstheilung und überlebte seinen unglücklichen Helden um Jahrzehnte.
Wanderer der Innenwelt
Wenn Werther sagt, er lese „einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir, als säh’ ich in mein eignes Herz“, dann hat ihn das Übermaß des Emotionalen zur Fehllektüre verleitet. Die Identifikation ist ein Irrtum. Werthers Wanderschaft ist anders als die des Odysseus keine äußere, sondern eine innere Notwendigkeit. Der Werther-Roman ist – so hat es der verstorbene Germanist Gert Mattenklott gesagt – „die Odyssee einer Seele auf der Suche nach sich selbst“. Werther ist der Wanderer der Innenwelt. Für ihn ist die Vorgabe des epischen Erzählens der alten Welt nicht mehr stimmig. Insofern ist Werther ein Buch über ältere Bücher. Sie werden aufgegriffen, neu erzählt und – modernisiert.
Auch die Schlüsselszene des Romans – der Abschied der Liebenden kurz vor Werthers Selbstmord – spiegelt das Elend der Romanfiguren in älteren Geschichten. Werther, hoffnungslos, liest Lotte, die inzwischen verheiratet ist, aus der damals verbreiteten Ossiandichtung vor, alte gälische Heldenlieder, empfindsam modernisiert, über die schuldlose Tragik und über den heroischen Tod junger Liebender.
Das Literatur-Missverständnis
Ist Werther Goethes „eigene Geschichte“? Es ist dies das Literatur-Missverständnis schlechthin, das die Geschichte des Romans von den ersten Lesern an begleitet hat. Johann Heinrich Voß, später als Homer-Übersetzer berühmt geworden, gehörte als junger Göttinger Student zur ersten Werther-Generation. Seiner Verlobten Ernestine Boie schrieb er, der lesende Liebende, vier Wochen nach Erscheinen des Romans, im Oktober 1774: „Göthe hat einen Roman gemacht, der über alles geht, was wir von Romanen haben. Ich glaube, es ist seine eigne Geschichte.“ Der Roman habe ihn „ungemein gerührt“. Denn: „Ich dachte beständig an dich, und fühlte Werthers Leiden als meine.“ In Vossens Betrachtung steckt die ganze Rezeptionsgeschichte mit ihrem Widerspruch: Die irrige Annahme, der Dichter erzähle doch immer nur „seine Geschichte“. So wie man später meinte, Thomas Mann erzähle im Tonio Kröger seine Geschichte. Dem steht aber die Möglichkeit der Identifikation entgegen, auf die der Text angelegt ist. Die Romanfigur erscheint mit ihren Leiden gerade nicht als individuell, sondern als transparent, als ein gutes Gefäß für den Leser, und der fühlt, zu Recht, eben doch seine Leiden am meisten.

Titelseite des Romans „Die Leiden des jungen Werthers“

Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden 1771. Exemplar aus Goethes Besitz. Die Nennung des Dichternamens verrät Werther und Lotte ihre Literaturvorliebe

Fünfbändige Homer-Ausgabe von Ernesti, jene Ausgabe, die der fiktive Werther besitzt, die wegen ihres Umfangs für Spaziergänge aber ungeeignet ist
Werther ist ein Buchmensch
Goethe empfahl viel später in Dichtung und Wahrheit, das Büchlein gewissermaßen werkimmanent zu verstehen, also seinen Kunstcharakter anzuerkennen, anstatt immerzu zu fragen, „was denn eigentlich an der Sache wahr sei?“ Eine Antwort darauf würde das „Werkchen, an dem ich so lange gesonnen“, wieder zerstören. Damit räumt Goethe unfreiwillig ein, was er zuvor verschleiert hat: Die Niederschrift ist nicht genialisch, sie beruht vielmehr auf genauer Vorbereitung. Der emotionale Protagonist Werther – sein Vorname ist unbekannt – erscheint dabei als ein Buchmensch; er lebt in ständiger Selbstbespiegelung durch Lektüre. Die gemeinsame Liebe zur damaligen Gegenwartslyrik – nämlich zu der Friedrich Gottlieb Klopstocks – führt ihn mit Lotte zusammen, schon die Nennung des merkwürdigen Namens Klopstock offenbart ihnen ihre Übereinstimmung. Doch seine eigentliche Neigung gilt der antiken Heldendichtung, der Odyssee Homers. Diese führt Werther ständig in einer griechisch-lateinischen Ausgabe mit sich, denn einen deutschen Homer gab es noch nicht.
Die Zusendung weiterer Bücher, die ihm Wilhelm, der Brieffreund, anbietet, lehnt Werther ab: „Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, lass mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer.“ Dass Werther sich wie Odysseus als ein Wanderer sieht, mag angehen. Die archaische Brutalität der homerischen Heldendichtung aber als „Wiegengesang“ umzudeuten, ist grotesk.
Der zweibändige Wetsteinischen Homer, eine ebenfalls griechisch-lateinische Homer-Ausgabe, ist so klein wie ein Taschenbuch und für Spaziergänge (für den „lesenden Wanderer“) geeignet. Die Buchmaße sind ca. 13,8 x 7 cm, das Reclambändchen daneben dient dem Größenvergleich. Werther erhält die Wetstein-Bände von Lotte und Albert zum Geburtstag. Fotos: © SLUB Dresden / Signatur: Lit.Graec.A.1251 (für die historische Homer-Ausgabe), 2005 8 021125 (für die Reclam-Ausgabe)

Fingal, an ancient epic poem. Translated from the galic language by James Macpherson. London 1762. Die Ossianmode prägte die Sturm und Drang-Zeit. Goethe selbst übersetzte die „Lieder von Selma“ aus dem Englischen und fügte seine Übersetzung dem Werther ein
Das gemeinsame Lesen löst den Zusammenbruch aus: Werther und Lotte „fühlten ihr eigenes Elend in dem Schicksal der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen vereinigten sie“. Doch die Übereinstimmung ist ironisch gebrochen. Zwar weisen die von Ossian beklagten Toten voraus auf Werthers eigenen Tod: Allerdings steht echte Heldentragik einem seelischen Bankrott gegenüber.

Joseph Anton Koch: Francesca und Paolo, von Giancotto Malatesta überrascht („Das lesende Liebespaar“)
Das lesende Liebespaar
Die Szene des lesenden Liebespaars indes ist auch nicht Goethes „eigene Geschichte“, sie lässt vielmehr eine ältere Geschichte durchscheinen, die Dante in der Göttlichen Komödie erzählt und die Goethe durch Anthologien italienischer Literatur in der Bibliothek seines Vaters in Frankfurt gekannt haben kann: Die Geschichte von Francesca und Paolo, die erst bei der gemeinsamen Lektüre ihrer Leidenschaft erliegen und daraufhin ihr Leben lassen müssen, erdolcht von Malatesta, Francescas Ehemann, Paolos Bruder.
Das Buch wird zum Kuppler, zum Vermittler der Liebe. Das lesende Liebespaar ist mit den Worten der Romanisten Edoardo Costadura und Karl Philipp Ellerbrock eine der „Urszenen der europäischen Literatur“. Paolo und Francesca finden sich im Zeichen gemeinsam gelesener weltlicher Dichtung – nämlich des Artus-Romans –, und sie bleiben auch als Tote, wenn auch in der Hölle leidend, liebend vereint, begleitet von der Sympathie ihres Autors. Dante zeigt, wie die gemeinsame Lektüre einer Liebe zur Sprache verhilft, die ein eigenes, von der christlichen Moral unabhängiges Recht hat.
„Dante, ein offenes Buch“ – 2015 widmete die Herzogin Anna Amalia Bibliothek ihre Jahresausstellung dem italienischen Dichter Dante Alighieri. Mehr Infos hier.
Der zweibändige Wetsteinischen Homer, eine ebenfalls griechisch-lateinische Homer-Ausgabe, ist so klein wie ein Taschenbuch und für Spaziergänge (für den „lesenden Wanderer“) geeignet. Die Buchmaße sind ca. 13,8 x 7 cm, das Reclambändchen daneben dient dem Größenvergleich. Werther erhält die Wetstein-Bände von Lotte und Albert zum Geburtstag. Fotos: © SLUB Dresden / Signatur: Lit.Graec.A.1251 (für die historische Homer-Ausgabe), 2005 8 021125 (für die Reclam-Ausgabe)
Auch Werthers und Lottes gemeinsame Lektüre ist zu einer der Urszenen der europäischen Literatur geworden, freilich anders als bei Paolo und Francesca: Ihre Lektüre scheitert ebenso wie ihre Liebe, sie führt die Liebenden dauerhaft auseinander. Goethe zeigt nicht die tragische Liebe als großartig, er zeigt die Ambivalenz des subjektiven, modernen Individuums, das nicht von tragischer Liebe zerrissen wird, sondern am Fehlen seiner eigenen Begrenzung scheitert, an seinem Irrationalismus. Werthers Liebe ist nicht heldenhaft und nicht großartig. Sie ist literarisch kunstvoll begleitet von charakteristischen Fehllektüren.
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