Briefwechsel

# 3 | Gleichzeit

16.11.2023 10

In der Reihe „Gleichzeit“ schreiben Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman in insgesamt zehn Beiträgen über ihre ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Beobachtungen in den Wochen nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober. Ein literarischer Dialog zwischen Israel und Mitteleuropa.

(Ofer holt sich ein Bier. Sasha trinkt Rotwein. Sie haben eine Neshama-Kerze angezündet – Ofer im Norden Israels, Sasha im Osten Österreichs.)

Sasha an Ofer, 22:22

Wien würdest du lieben, vielleicht mehr als Berlin.

Ofer an Sasha, 22:22

Ich kann mir ohnehin gerade nicht vorstellen, nach Berlin zu kommen.

Sasha an Ofer, 22:23

Das verstehe ich. Irgendwann vielleicht wieder.

Ofer an Sasha, 22:24

Wenn ich es mir überlege, wenn ich also meine Augen zumache und versuche, mir vorzustellen, wie es wäre, jetzt in Berlin anzukommen, stelle ich mir Ruinen vor.

Sasha an Ofer, 22:24

Im Freundeskreis? Oder meinst du die Schmierereien an den Türen?

Ofer an Sasha, 22:25

Als ob der Berliner Himmel, der immer so hoch über der Stadt hing, auf einmal nach unten abgesackt wäre und nun das dumpfe, erstickende Gefühl einer Neubauwohnung erzeugt. Eng.

Ofer an Sasha, 22:25

Ich dachte bei einigen Menschen, dass sie einen Kompass hätten, der ihnen die Richtung zeigt. Aber es war kein Kompass, sondern nur das Bild von einem Kompass. Theorie. Eine Zeichnung auf einer Zeichnung einer Welt. Und in dem Moment, in dem die Welt kopfsteht, zerreißen sie lieber die Welt als ihre Zeichnung.

Ofer an Sasha, 22:26

Man glaubt immer, der Krieg frisst die Menschen nur da, wo er stattfindet, aber er frisst sie alle, die ihn spüren (auch mich).

Ofer an Sasha, 22:27

Wie ist es für dich? (Ich denke an Deinen letzten Brief.)

Sasha an Ofer, 22:28

Die Freund*innen, die ich hatte, habe ich immer noch. Ihr Kompass funktioniert. Aber die anderen gibt es natürlich auch. Ich kenne Menschen, die ein großes Herz haben und ein großes Hirn, aber die Verbindung dazwischen hat eine Art Funkstörung.

Sasha an Ofer, 22:29

Aber das ist dann so. Mit Menschen, die sich lieber in einer Zeichnung von Welt bewegen, als es in der Welt selbst auszuhalten, lässt sich gerade nicht gut zusammensitzen. Im Zweifelsfall trinke ich lieber ohne sie. Speaking of which: Wie war Shabbes?

Ofer an Sasha, 22:30

Meine Familie traf sich bei meiner Schwester. Ich bin allein zu ihr gefahren, es gibt dort jetzt häufiger Luftalarm, das wollte ich den Kindern möglichst ersparen, vor allem auf dem Weg. Da muss man ja aus dem Auto springen und sich auf den Boden legen.

Sasha an Ofer, 22:31

Bist du ohne Alarm durchgekommen?

Ofer an Sasha: 22:32

Ich habe unterwegs endlich die 4. Brahms gehört (und mitgesungen und geschrien), dachte die ganze Zeit, wenn jetzt der Luftalarm kommt, werde ich ihn nicht hören trotz des geöffneten Fensters. Ich habe auch die Zivilschutz-App nicht (mein Handy denkt, ich sei in Deutschland, und akzeptiert keine Raketen), und so sang ich Brahms‘ Horn-Partien, während ich danach Ausschau hielt, ob die anderen Autofahrer*innen plötzlich stehen bleiben, aus den Autos springen und sich auf den Boden werfen. Taten sie nicht.

Am Abend dann dumpfe Schläge, Raketenabschüsse über Tel Aviv, mein Handy blieb stumm (wir sind ja in Neukölln, na klar). Das Essen war herrlich, mein Bruder redete und redete, redete ununterbrochen, so dass ich ihn nicht fragen konnte, wie es seinen Söhnen geht (der beste Freund seines ältesten Sohnes wurde auf der Nova-Party ermordet, ein anderer Freund wurde entführt. Der jüngere Sohn sitzt nun wieder an der Grenze zum Gazastreifen und schiebt Wachdienste). Dann, kurz vorm Abschied, merkte ich, dass sich meine Nichte in eine Ecke verkriecht und weint. Wieso weint sie, fragte ich meine Schwester, die ebenfalls zu weinen anfing und sagte: Ein guter Freund. Die Nachricht kam gerade eben. In Gaza. Zwei andere sind schwer verwundet. Er ist der Sechste bereits.

Hier stehen wir also in einer Reihe: Mein Vater, der 67 und 73 gekämpft hat; mein Bruder und mein Schwager: Libanon, 2. Intifada; und meine Nichte, diese Generation, die gerade vor unseren Augen nach Luft ringt. Mein Bruder fragte meinen Vater: Was macht man damit? Du kannst dich doch erinnern, an damals, 73, da habt ihr auch links und rechts Freunde verloren, was macht man da? (Im Hintergrund das Weinen meiner Nichte). Mein Vater, so kenne ich ihn nicht, senkte den Blick und blieb stumm. Die Zeit (DAMALS) flatterte kurz über sein Gesicht. Ich stehe nicht in dieser Reihe, wie könnte ich auch, ich bin Musiker, habe nie gekämpft. Auf dem Rückweg hörte ich deine Voice-Message, keinen Brahms mehr.

Sasha an Ofer, 22:34

Und deine Mutter, was sagt sie?

Ofer an Sasha, 22:34

Ich glaube, sie hat ihre ganze Angst für ihren Mann und ihren Sohn aufgebraucht. Um mich brauchte sie keine Angst zu haben (Musiker halt). Und nun hat sie zwei Enkelkinder, Jungs, in der Armee, und die Nichte läuft von einer Beerdigung zur nächsten. Ich habe meine Mama angeschaut, sie war nicht darauf vorbereitet, auch um diese Generation Angst haben zu müssen.

Sasha an Ofer, 22:36

Doris sagt manchmal: Man darf von Menschen nicht erwarten, dass sie Helden sind. In meinen Ohren klingt es wie: Man darf Menschen nicht in Situationen bringen, in denen sie Helden sein müssen, um Menschen zu bleiben. Das alles fühlt sich wie eine furchtbare Falle an. Wer weiß, wer da noch als Mensch wieder herauskommt. Wer überhaupt noch da sein wird.

Ofer an Sasha, 22:41

Ich schaue die jungen Menschen hier an, die Generation meiner Nichte, und denke, das jetzt wird ihr Moment sein, der in allen Momenten fortleben wird, ihr DAMALS. Die endlose Kette von Beerdigungen und Shiv´aas, die Löcher die im Freundeskreis klaffen. Wie viele von ihnen werden ins Ausland gehen, wie viele werden religiös? Wie damals, nach ´73. Was werden sie machen, wenn der Krieg vorbei ist? Wohin mit der Wut, mit der Trauer? Das ist eine Kraft, der man nur zuschauen kann, die man nicht bändigen kann und vielleicht auch nicht soll. Hoffentlich wird sie die Regierung wegfegen.

Sasha an Ofer, 22:42

Glaubst du das? Meinst du, das ist möglich?

Ofer an Sasha, 22:42

Möglich, ja. Man merkt auch, diese hohle, verlogene Regierung hat Angst davor. Vor der Wut einer Generation, in der jede und jeder eine*n Freund*in verloren hat (mindesten eine*n). Dieser Wut wird die Regierung hoffentlich nicht standhalten. Und nicht nur sie. Wir werden alles neu denken. Alles. Alles, was uns jetzt als Gewissheit erscheint, werden wir auf Wahrheit abklopfen. Daran halte ich mich fest.

Sasha an Ofer, 22:44

Kennst du Leute, die in Gaza leben oder gelebt haben?

Ofer an Sasha, 22:45

Ich habe in Berlin einige Menschen aus Gaza kennengelernt, aber ich habe jetzt zu niemandem dort direkten Kontakt. Ich höre aber Berichte, Geschichten, von israelisch-palästinensischen Freund*innen, auch von Freund*innen aus Deutschland, die Menschen dort kennen. Du?

Sasha an Ofer, 22:45

Nicht viele. Ein paar. Ich sehe in ihren Gesichtern die Trauer und den Schock, die komplette Lähmung.

Sasha an Ofer, 22:45

Es gibt die echten 240 israelischen Geiseln der Hamas in Gaza, ganz unmetaphorisch. Und dann gibt es uns alle, Jüd*innen, Palästinenser*innen, Israelis, Araber*innen, die auf ihre sehr unterschiedliche Art in Geiselhaft genommen werden von der Situation. Von den Regierungen, von den Communities, von den Demagogen. Als würden andere über unser aller Leid verfügen. Sie machen Politik damit, während wir versuchen, Menschen zu bleiben.

Ofer an Sasha, 22:50

Weißt du, die erste große Veranstaltung, die ich seit Kriegsbeginn besucht habe, war in einem arabischen Gemeindezentrum in Haifa, eine Notversammlung einer jüdisch-arabischen Organisation. Ich bin nicht hingegangen, weil ich das Bedürfnis hatte, irgendwelche großen Reden zu hören. Ich wollte einfach mit anderen Menschen weinen, ohne flatternde Fahnen. Das war alles. Ich bin ins Auto gestiegen, mit diesem Klumpen im Hals, aber ich wusste, gleich wird’s besser. Und so war es auch. Arabische Jungs haben mir den Weg zum Eingang gezeigt, haben verlegen gemurmelt, ich habe verlegen gemurmelt, „danke“. Hätte ich mehr zu sagen versucht, hätte ich losgeweint, und ich wollte sie nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. Ich stellte mich an die Wand im hinteren Teil des Saals. Eine Rednerin, palästinensische Israelin aus dem Norden, sprach über ihre Mutter. Ihre Stimme brach, das hat uns allen, den Rote-Augen-Verwandten, das Zeichen gegeben. Danach fuhr ich einfach nach Hause. Kann ich das auch in Berlin? Weiß ich nicht.

Sasha an Ofer, 23:01

Das kannst du nicht. Gerade nicht. Aber ich kann dir sagen, was – zumindest für mich – möglich ist. Wir sind hier wirklich weit davon entfernt, Shiva zu sitzen, wonach mir seit Wochen so schmerzhaft ist, dass ich auf den Boden fallen und mich nicht mehr bewegen möchte, aber ich laufe herum wie aufgedreht, wie unter Strom, natürlich tue ich das, so wie wir alle. Wir funktionieren, weil wir funktionieren, weil wir funktionieren, weil wir funktionieren, weil wir funktionieren.

Sasha an Ofer, 23:01

Aber meine Realität in Berlin ist auch: Jeden Tag, wirklich jeden, mindestens fünf Anrufe von Leuten, die an mich denken, oder jemand kommt vorbei (das ist fast wie bei einer Shiva), oder jemand sucht mich in der Stadt und sagt: Was machst du? Wo bist du? Komm mit, komm her, die Heizkohle auf der Shisha ist heiß. Oder: Du isst jetzt diese Suppe auf, hörst du mich, die ist vielleicht nicht so gut wie deine Linsensuppe, aber ich bewege mich nicht vom Fleck, bevor du nicht aufgegessen hast. Oder sie backen mir einen Notfall-Kuchen. Und wir sitzen leichenblass voreinander. Aber wir sitzen zusammen. Über all diese Freund*innen werde ich irgendwann Gedichte schreiben.

Ofer an Sasha, 23:42

Die Freund*innen habe ich auch: Ich bin aber zu weit weg für eine Suppe, also schickt man sich gegenseitig die eigene Wortlosigkeit zu. Man schweigt – wie du sagst – leichenblass zusammen. Aber das ist ein Schweigen, das zählt.

Sasha an Ofer 23:42

Es gibt Schweigen und Schweigen. Das Schweigen der Freund*innen und das Schweigen der Welt. Ich schwöre dir, was hätte ich darum gegeben, dass die Welt mehr geschwiegen hätte nach dem 7.10. Ich hätte alles drum gegeben – habt doch nicht sofort Meinungen. Positionen. Was für Positionen denn angesichts …

Ofer an Sasha, 23:50

Kommst du irgendwann nach Jerusalem? Ich würde dir gerne Jerusalem zeigen. Die Zwischenräume.

Sasha an Ofer, 23:51

Du hast mal zu mir gesagt, Jerusalem ist nicht Teil des Problems, sondern ein Teil der Lösung. Klar komme ich.

Ofer an Sasha, 23:51

Ja. Aber jetzt erstmal Wien.

Sasha an Ofer, 23:52

Jetzt erstmal Wien.

Ich gehe morgen in die Mosergasse für dich. Ich schicke dir ein Foto von dem Haus, in dem deine Großeltern gelebt haben. Würdest du das mögen?

Haustür in Wien

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