
Briefwechsel
# 4 | Gleichzeit
In Reihe „Gleichzeit“ schreiben Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman in insgesamt zehn Beiträgen über ihre ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Beobachtungen in den Wochen nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober. Ein literarischer Dialog zwischen Israel und Mitteleuropa.
Ofer an Sasha, 18. November
Samstag, früher Nachmittag, von draußen dringt das weiche Licht ins Haus, das den herannahenden Regen ankündigt. Die Kinder rieseln barfuß ins Wohnzimmer herunter, nehmen sich ein Buch, spielen mit dem Hund, schneiden sich ein Stück von der Challah ab, die vom Shabbat-Abendessen übriggeblieben ist, setzen sich an den Tisch und kauen langsam vor sich hin, gedankenverloren. Ich bin in ein Buch vertieft, im Hintergrund läuft Musik (Bach, Goldberg-Variationen). Irgendwann fragt N., können wir was anderes hören, ihr Bruder pflichtet ihr bei, ja Aba, lass uns was anderes hören. Ich murre zuerst, Bach ist doch die perfekte Shabbes-Musik, aber (wie Yona Wallach sagte) die Kinder wollen, und sie kindern eben. Ich suche nach Musik, die es mit dieser Zeit aufnehmen kann, spiele dann den Soundtrack von Hair. „Aquarius“, „Donna“, „Black Boys“, „Good Morning Sunshine“. N. will wieder protestieren, schielt zu mir herüber, bemerkt meinen beschlagenen Blick und lässt es sein. Ich lege das Buch zur Seite, merke, ich habe eine neue Nachricht von dir bekommen, Sasha. Darin steht, dass du in einem Wiener Kaffeehaus sitzt und eines der Interviews hörst, die ich seit Kriegsausbruch deutschen Sendern gegeben habe. Um dich herum, so versuche ich es mir vorzustellen, das Klirren von Gläsern, das weiche Wienerisch, das Rücken von Stühlen, eine zischende Kaffeemaschine, vorbeifahrende Autos, vielleicht gar ein Klavier. In deinen Ohren: die Frage der Moderatorin, wie ist gerade Ihr Alltag in Israel, Herr W., wie macht sich der Krieg bemerkbar?
Durch Klänge, möchte ich ihr sagen, macht sich der Krieg bemerkbar, vor allen anderen Dingen. Vor den Bildern und den Gesprächen und den Gedanken, durch Klänge, die alles andere durchdringen, Bach und „Aquarius“ und barfuß rieselnde Kinder. Durch die fernen, dumpfen Schläge der Luftabwehr im Norden und Westen, als ob jemand riesige Zementsäcke auf den Boden wirft (das habe ich mal irgendwo gelesen, dieses Klangbild), oder als ob man innerhalb eines Corpus einer großen Trommel lebt, auf deren über den Himmel gezogene Haut weiche, gigantische Schläge niedergehen. Durch das Donnern der Kampfjets, deren Wellen von Crescendo-Diminuendo die Tage und Nächte durchziehen. Zuerst erreichen sie die Ohren, dann den Bauch, dann scheint die Luft, die ganze Welt, nur aus diesem Donnern zu bestehen, bevor es wieder verschwindet. Durch die Motorräder, die in der Nacht ihre Runden drehen, die beim Beschleunigen einen Klang produzieren, der jenem eines Luftalarms ähnelt. Und so, mit jedem Drehen am Gasgriff, lassen sie die Menschen ihre Muskeln anspannen, die Augen aufreißen, lassen ihnen die Ohren spitzwerden. Sowieso: Das Ohr sucht die ganze Zeit. Wie jemand, der auf dem Trödelmarkt einen Haufen alltäglicher Gegenstände nach etwas Bestimmtem durchwühlt, sucht das Ohr inmitten all der Alltagsklänge (Kinder Autos Küche schleudernde Waschmaschine Radio Regen Kampfjets Musik Klospülung) nach dem weichen, bleiernen Klang der Sirene. (Kann man sagen: Das Ohr hält Aushör, Aufhorch, wie Ausschau, nur viel innerlicher, auch im Schlaf, auch wenn jemand sich zu dir legt, die Hände auf deine Ohren drückt und leise summt?)
”Walking in Space” verklingt gerade, es folgt das Lied “Easy to be hard”: “How can people be so heartless? / How can people be so cruel? / Easy to be hard, Easy to be cold / How can people have no feelings / How can they ignore their friends / Easy to be proud / Easy to say no.” Ich habe den Film Hair als Jugendlicher in Dauerschleife gesehen, als ich gerade anfing, in der israelischen Friedensbewegung aktiv zu werden. 1992, 1993, die Zeit der Osloer Friedensverträge. Ölzweige in Jericho und jüdisch-arabische Begegnungen in Beit Jalla. Die Filmsequenzen mit Massendemonstrationen vor dem Weißen Haus, mit “Let the Sun Shine“ singenden Hippies vermischten sich in meiner Vorstellungswelt mit unseren Massendemonstrationen auf dem Malkej-Israel-Platz (der nach dem Attentat in Rabin-Platz umbenannt wurde). Aber dieses eine Lied habe ich damals eben nicht verstehen können. Wie kann man den herrlichen Filmhelden Zeilen entgegenschleudern wie: “Especially people who care about strangers / Who care about evil and social injustice / Do you only care about the bleeding crowd / How about a needy friend / I need a friend.”
Jetzt denke ich allerdings: Wie weise war der Mensch, der mit diesem Lied vor einer gewaltvollen Selbstherrlichkeit warnen wollte. Vor der Gefahr, durch das selbstvergewissernde Gerede über die Menschheit den Menschen nicht mehr sehen zu können.
Denn der Krieg, dieser Krieg, macht sich nicht nur durch die Welt des Klanges bemerkbar (ob in Israel oder Gaza: Klang, der zu Eisen und Staub wird oder zu werden droht). Sondern auch durch Schweigen. Nicht das Schweigen, das die (wenigen, kaum möglichen) Worte von Freund*innen umgibt, aus den Ritzen zwischen ihnen quillt und eine geschriebene, verbindende Wortlosigkeit herstellt und wahrnehmbar macht. Nein, es ist ein Schweigen, das die Klangschale des Krieges in die Hand nimmt (so hast du uns doch genannt, Sasha: Klangschalen), sie einordnet, beurteilt und fallen lässt. Alle Klänge des Krieges rinnen dann aus der zersprungenen Schale, gehen verloren im Rauschen vorgefertigter politischer Meinungen, integritätslose Relikte einer Welt, die bis zum 7. Oktober existierte. Übrig bleibt der giftige Geschmack des Metalls auf der Zunge und die blutscharfen Kanten der zersprungenen Schale. Es ist ein Schweigen, das die zerronnenen Klänge des Krieges mit einem knöchernen Finger wie Schlieren auf dem Boden zieht, mit dem Staub vermischt und mit dieser so hergestellten Tinte Worte schreibt, die mir nicht verständlich sind.
Doch, so viel weiß ich: Sie sprechen von Gewalt.
Sasha an Ofer, 20. November
Ja Wien, Ofer. Wie wunderbar Wien ist. Wie wien Wien ist. Wie herausgesputzt, all diese sauberen Straßen, und alles funktioniert, sogar der öffentliche Nahverkehr, und die Post liefert die Pakete an die richtige Adresse, und auch noch in kürzester Zeit … Verrückt. Die Weihnachtsmärkte mit ihrem Glühwein- und Punschgeruch meide ich, aber wenn ich nachts zwischen den geschlossenen Buden umherstreife, habe ich die Fantasie, dass sich sogar die Ratten ihre Beute hier manierlich aufteilen und dabei Pirouetten drehen.
Kaum war ich hier angekommen, rief ich meine Familie in Hannover an und schwärmte am Telefon: Diese Kaffeehäuser (genau so, wie du sie beschreibst, in manchen steht tatsächlich ein Klavier, irgendwer spielt darauf am Abend), die auf hölzerne Halter gespannten Zeitungen, die blasierten Kellner, das Burgtheater mit seinen 6-Euro-Tickets für Horvaths Geschichten aus dem Wiener Wald, das Leopold Museum, auf das ich von meinem Studiofenster aus schaue, an jeder Ecke ein Kino, der Geruch der gebratenen Maroni in der Mariahilfer Straße. Ich erzählte, wie glücklich ich war, hier zu sein, dass ich mich hier von Berlin erhole, und irgendwann unterbrach mich mein Großvater: „Hat es bei euch in Wien nicht auch einen Anschlag gegeben?“
„Anschlag? Nein. Der jüdische Friedhof wurde mit Hakenkreuzen beschmiert, wenn du das meinst. Und es wurde etwas angezündet. Aber ich würde das nicht einen Anschlag nennen.“
„Wie würdest du es dann nennen?“
„Nein, Danja, da haben irgendwelche Idioten noch nicht mal gewusst, wie rum man das Hakenkreuz malt. Nennst du das einen Anschlag? Das ist eine Blamage. Die haben es falsch herum hingeschmiert. Und Hitler konnten sie auch nicht ordentlich schreiben.“
Mein Großvater lachte: „Haben Sie Hitler mit D geschrieben?“
„Ja, so ungefähr.“
Und so fand ich mich plötzlich in einem längeren Gespräch mit meinem bald neunzigjährigen Großvater wieder – der den Zweiten Weltkrieg nur überlebt hat, weil er sich als Kind vor der in der Ukraine wütenden Wehrmacht im Wald versteckte und giftige Beeren von essbaren unterscheiden konnte –, in dem ich versuchte, Danja davon zu überzeugen, dass die Schändung des jüdischen Friedhofs in Wien nicht bedrohlich sei. Ich spielte den Schaden in der Zeremonienhalle herunter. Ich erwähnte nicht die für immer verlorenen wertvollen Bücher im ausgebrannten Raum, den zerstörten Thoraschrein. Auch redete ich nicht über das Foto des Wiener Rabbiners, der die falsch herum auf die Mauer geschmierten Hakenkreuze übermalt. Der Rabbiner trägt eine blaue Kippa mit goldenem Rand auf dem Hinterkopf, er streckt den rechten Arm mit der in weiße Farbe getränkten Walze weit von sich und rollt damit über die orangen Achsen des Hasssymbols. Fast einen ganzen Vormittag habe ich auf dieses Bild gestarrt. Und über Wien nachgedacht. Wie gut es mir hier gefällt. Weil ich einfach keine Ahnung von dieser Stadt habe.
Ich war immer wütend auf diejenigen, die davon redeten, auszuwandern. Nicht nur jüdische Menschen natürlich. Spätestens seit dem Auffliegen des NSU redeten ja viele in meinem Freundeskreis davon, dass wir die Koffer packen sollen. Gründe gäbe es genug. Und ich war wütend, weil ich dachte, die Frage nach dem „Wohin gehen?“ ist wie die Frage nach der Zukunft („Was soll nur werden?“) – sie ist nutzlos. Sie ist eine Übersprungshandlung, um sich nicht die eigentliche Frage zu stellen, nämlich, was wir mit dieser Gegenwart machen.
Am Abend lief ich durch den Zweiten Bezirk, vorbei an Shalom Food, vorbei an der koscheren Bäckerei Ohel, über die Mazzesinsel, wie man hier so sagt, unterwegs zu Freund*innen, die mich, anlässlich meiner Ankunft in Wien, zu einem Abendessen eingeladen hatten. Ich fragte nach der Stimmung in der Stadt. Die Freundin, die neben mir saß, erzählte, dass sie und andere aus der Gemeinde jetzt Wachdienste machten. Sie stünden vor der jüdischen Schule, vor Ohel, sie drehten Runden in den Straßen des Karmeliterviertels (dem Zentrum des jüdischen Lebens in Wien, wie es in allen möglichen Reiseführern heißt). Jeden Tag. Erst da fiel mir auf, wie blass sie war.
„Und, gab es Vorfälle?“, fragte ich.
„Nicht in den Straßen, aber in unserem Haus.“ Die Freundin holte ihr Telefon heraus. In dem Video, das sie mir zeigte, gehen zwei Männer, die in dem Haus offensichtlich fremd sind, von Tür zu Tür. Sobald sie eine Mesusa am Türrahmen entdecken, fotografieren sie diese mit ihren Handys und schreiben sich dann den Namen auf, der auf der Klingel steht. Die Freundin packte ihr Telefon weg. „Das hat die Überwachungskamera in unserem Stiegenhaus aufgezeichnet.“ Dann sagte sie nicht mehr viel an diesem Abend.
Die Schlusspointe eines meiner Lieblingswitze geht so: „Und, weißt du, wo es gut ist?“ „Ja, natürlich: Dort, wo wir nicht sind.“ Ich werde mir Wien also weiterhin schönreden, Ofer, von Kaffeehaus zu Kaffeehaus laufen, mit Freund*innen im Prater spazieren und in die Geschichten aus dem Wiener Wald gehen. Gestern saß ich in der Theaterkantine des Schauspielhauses, eine Frau mit schimmernden Wangen setzte sich zu mir. Sie sagte: „Weißt du, wo es gut ist? In Island. Sie haben dort eine Elfenbeauftragte, und es gibt sogar ein Feenministerium.“ Ihre Wangen schimmerten grün-silbrig, sie strahlte. Und da dachte ich: Vielleicht sollten wir dorthin. Ich stelle mir das schön vor: grüne Polarlichterschlieren in der absoluten Dunkelheit, man kann sich alles wünschen. Weil Gras verboten ist, rauchen wir nicht, sondern lecken an den Flügeln der Elfen, die wir mit bloßen Händen aus der Luft fangen (oder vielleicht setzen sie sich auch freiwillig auf unsere Schulter? Vielleicht gibt es sogar Lieferdienste für Feenstaub?), und fantasieren uns ganz kurz weg, bis wir uns wieder die eigentliche Frage stellen: Diese Gegenwart ist unsere. Was machen wir nun? Was machen wir damit?
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