500 Jahre Dezembertestament

Luthers Bibelübersetzung

19.12.2022 0

Lange Zeit stand Martin Luthers Dezembertestament im Schatten der drei Monate zuvor erschienenen Erstübersetzung. Im Interview von Dr. Reinhard Laube, Direktor der Herzogin Anna Amalia Baibliothek, erklärt Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte, was die Neuauflage einzigartig macht.

Heute vor 500 Jahren, am 19. Dezember 1522, wurde die zweite Ausgabe von Luthers wegweisender Übersetzung des Neuen Testaments abgeschlossen, das sogenannte Dezembertestament. Wir haben in diesem Jahr bereits das Septembertestament ausgiebig gefeiert, das wenige Monate vorher erschien. Warum verdient diese Neuauflage besondere Beachtung, auch durch eine Edition, die Sie im Jubiläumsjahr vorgelegt haben?
Das sogenannte Dezembertestament stand bisher ganz im Schatten der Erstausgabe, die zur Leipziger Herbstmesse im September 1522 erschienen war. Dass Luther dieses Septembertestament einer gründlichen Durchsicht unterzogen hatte, war bisher nur wenig im Bewusstsein der Forschung. Darin zeigt sich erstmals, was die weitere Publikationsgeschichte der diversen Ausgaben der Lutherbibel kennzeichnet: ein unabschließbares Ringen um eine möglichst adäquate, das heißt der Quell- und der Zielsprache entsprechende Wiedergabe. Beim Dezembertestament ist es allerdings vor allem der Ausdruck im Deutschen, den Luther verbessern, flüssiger machen, eingängiger gestalten will.

Der Drache und die Hure Babylon mit päpstlicher Tiara (Papstkrone), Holzschnitte von Lukas Cranach d. Ä., Das Newe Testament Deutzsch (Johannesoffenbarung, sog. Septembertestament), gedruckt in Wittenberg im September 1522 durch Melchior Lotter d. J. (Signatur: Cl I: 56 [b], Foto: Digitale Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)

Der Drache und die Hure Babylon mit päpstlicher Tiara (Papstkrone), Holzschnitte von Lukas Cranach d. Ä., Das Newe Testament Deutzsch (Johannesoffenbarung, sog. Septembertestament), gedruckt in Wittenberg im September 1522 durch Melchior Lotter d. J. (Signatur: Cl I: 56 [b], Foto: Digitale Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)

Der Drache und die Hure Babylon ohne päpstliche Tiara (Papstkrone), Holzschnitte von Lukas Cranach d. Ä., Das Newe Testament Deutzsch (Johannesoffenbarung, sog. Dezembertestament), gedruckt in Wittenberg im Dezember 1522 durch Melchior Lotter d. J. (Signatur: Cl I: 56 [c], Foto: Digitale Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)

Der Drache und die Hure Babylon ohne päpstliche Tiara (Papstkrone), Holzschnitte von Lukas Cranach d. Ä., Das Newe Testament Deutzsch (Johannesoffenbarung, sog. Dezembertestament), gedruckt in Wittenberg im Dezember 1522 durch Melchior Lotter d. J. (Signatur: Cl I: 56 [c], Foto: Digitale Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)

Die Bilder zur Johannesoffenbarung machen einen Unterschied zur vorhergehenden Ausgabe eindrucksvoll sichtbar: Papstkronen für die Hure Babylon und Drachen werden geschliffen. Was verrät die Entschärfung der apokalyptischen Gegenwartskritik über Akteure und Publikationsstrategie im Dezember 1522?
Natürlich ist nicht bekannt, wer für diese Veränderungen verantwortlich ist, aber ich halte es für ausgeschlossen, dass Luther dies veranlasst hat. Erstens, weil er vermutlich keinen Einfluss auf die Einfügung der Holzschnitte zur Apokalypse nahm und zweitens, weil seine polemische Deutung des Papstes als des Antichristen unvermindert anhielt, es von ihm aus also keinen Grund für eine ‚Entschärfung‘ gegeben hätte. Für wahrscheinlich halte ich, dass der Drucker Melchior Lotter d.J., dessen Vater das Stammhaus in Leipzig – die größte Druckerei Mitteldeutschlands – betrieb, kommerzielle Interessen verfolgte und das Dezembertestament auch für Leser attraktiv machen wollte, die das Neue Testament auf Deutsch lesen und noch keinen expliziten Bruch mit der Papstkirche vollzogen hatten. Gerade diese potentielle Leserschaft, die in einen ersten Meinungsbildungsprozess zu den durch Luther und seine Kollegen aufgeworfenen Fragen einzutreten begann – die „pious middle class people“ – wird damals noch eine Mehrheit gebildet haben. Denn die Neugier nach der Heiligen Schrift war groß.
In unserer Ausstellung „Übersetzung als Streit – Bücher auf Reisen“ haben wir mit Ihrer Hilfe in diesem Jahr gezeigt, wie Luthers Übersetzung als neues Buch Gestalt annimmt, das mit jeder weiteren Ausgabe die Idee eines neuen Formats und Layouts weiterentwickelt. Welche Rolle übernimmt in diesem Prozess das Dezembertestament?
Im Dezembertestament hat der Drucker die unbefriedigende Positionierung der Holzschnitte in der Apokalypse, die im Septembertestament zu einigen weitgehend unbedruckten Seiten geführt hatte, durch ein numerisches Verweissystem gelöst. Ansonsten blieb das Neue Testament ein Lesebuch – ein übersichtlicher, nicht in Spalten gesetzter, lesefreundlicher Satzspiegel mit Erläuterungen einzelner Begriffe etc. in Marginalien sowie der Anfügung von weiterführenden Bibelstellen am inneren Rand. Auf diese Weise konnte man das Neue Testament zum einen gut und bequem lesen, zum anderen auch intensiv studieren. Die relativ großen Typen gewährleisteten wohl auch, dass man selbst unter bescheideneren Lichtverhältnissen noch etwas länger lesen konnte, als es bei einer in kleinem Spaltensatz gesetzten Version der Fall gewesen wäre.
Für Sie ist das „Neue Testament Deutsch“ ein revolutionäres Buch. Welchen Anteil hatte Martin Luther und welchen der Drucker Melchior Lotter an der revolutionären Entscheidung, ein solches Buch vorzulegen?
Entscheidend dürfte zunächst gewesen sein, das Neue Testament als buchliche Einheit zu publizieren. Das war keineswegs selbstverständlich. Und gegen Anfang des Jahres 1522 sah es so aus, als ob man es eher in einer Serie von einzelnen Flugschriften geringen Umfangs – das hatte Johannes Lang in Erfurt begonnen – erscheinen lassen wollte. Luther hatte gewisse theologische Gründe für den Zusammenhalt des Kanons; es wird wohl ein Zusammenspiel drucktechnischer und ökonomischer Überlegungen Lotters und hermeneutischer Interessen Luthers gewesen sein, das zu dem deutschen Neuen Testament als einem Buch führte. Dass Erasmus´ zweisprachige griechisch-lateinische Ausgabe im Hintergrund stand und natürlich auch bei Luthers Übersetzung eine wichtige Rolle spielte, sollte aber nicht vergessen werden.

Beginn des Lukas-Evangeliums, Das Newe Testament Deutzsch (sog. Dezembertestament), gedruckt in Wittenberg im Dezember 1522 durch Melchior Lotter d. J. (Signatur: Cl I: 56 [c] Foto: Digitale Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)

Lukas 2, 8-14, Das Newe Testament Deutzsch (sog. Dezembertestament), gedruckt in Wittenberg im Dezember 1522 durch Melchior Lotter d. J. (Signatur: Cl I: 56 [c] Foto: Digitale Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek)

Möchten Sie uns in Luthers Dezembertestament von 1522 eine Passage besonders ans Herz legen?
Nicht nur der Jahreszeit wegen, sondern weil der Text so stark und tief verwurzelt ist und vielen in eine weit zurückliegende Heimat scheinen mag: „Vnd es waren hirtten yn der selben gegend auff dem feld/ bey den hurtten/ und hutteten des nachts yhrer herde/ Vnd sihe/ der engel des herrn tratt zu yhn/ vnnd die klarheyt des herren leuchtet umb sie/ und sie furchten sich seer/ Vnd der Engel sprachn zu yhn/ furcht euch nit/ sehet/ ich verkundige euch grosse freude/ die allem volck widderfaren wirt/ denn euch ist heutte der heyland geporn/ wilcher ist Christus der herre/ ynn der stadt David/ vnnd das habt zum zeychen/ yhr werdet finden das kind ynn windel gewickelt/ vnnd ynn eyner krippen ligen/ Vnd als bald war da bey dem engel/ die menge der hymlischen heerscharen/ die lobten Gott/ vnd sprachen/ Preys sey Gott ynn der hohe vnd frid auff erden/ vnd den menschen eyn wolgefallen.“ (Lk 2, 8-14)

In der letzten Revision der Lutherbibel von 2017 lautet der Passus: „8Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. 12Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. 13Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Zum Weiterlesen:

Thomas Kaufmann: Die Erfindung des Neuen Testaments Deutsch als Buch. Vortrag in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 3. Juni 2022, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 69, Heft 5 (2022), S. 257-263.

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