
Briefwechsel
# 7 | Gleichzeit
In der Reihe „Gleichzeit“ schreiben Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman in insgesamt zehn Beiträgen über ihre ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Beobachtungen in den Wochen nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober. Ein literarischer Dialog zwischen Israel und Mitteleuropa.
Sasha an Ofer
Berlin, Chanukkah 2024
Mein Chabadnik-Schuster fragt mich nun zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen, ob ich denn auch weiß, wo ich die koscheren Kerzen für den Chanukkah-Leuchter finde und was ich überhaupt mache an den Tagen des Lichts und mit wem. Schon gestern hat er mir eine E-Mail geschrieben mit einer Einladung zum Essen und mich angerufen, und ich habe beschlossen, es nicht als Stalking, sondern als Fürsorge zu sehen.
Ich erinnere mich an letztes Jahr, als die Lage so verzweifelt war, dass atheistische Jüd*innen an Schabbat lieber mit Ultraorthodoxen zusammensaßen, als sich Abend für Abend in ihren linken Kreisen für die eigene Existenz rechtfertigen zu müssen, und ich lächle. Vorbei, vorbei. Ich beschließe, dem fürsorglichen Schuster trotzdem nicht zurückzuschreiben. Ich bin spät dran. Du, Ofer, bist mit Doris schon seit dem Vormittag dabei, Challah zu backen, Gili hat die Kinder bei uns abgeliefert uns ist noch einmal losgezogen, und ich hatte versprochen, mit den Einkäufen für das Essen heute Abend schon vor einer Stunde zurück zu sein, aber ich trödle. Der Schnee ist meine Ausrede – wie kann es bitte schräg von links nach rechts und von rechts nach links gleichzeitig schneien? Ich würde eine Ski-Brille brauchen, stattdessen schaue ich hoch, starre geradewegs in den Himmel. Er ist so faltig wie die Haut auf der Milch, die ich heute morgen den Kindern für das Müsli im Topf warm gemacht habe. Ich warte kurz, ob der Himmel sich als warme Milch über mich ergießt, während die Schneeflocken meine Wimpern verkleben. Ich versuche nicht auszurutschen, laufe zwischen den Marktständen hindurch. Der Einkaufszettel ist mir irgendwo auf dem Weg verlorenen gegangen, und wahrscheinlich habe ich die Hälfte der Einkäufe vergessen, denke ich, als ich zu Hause auf die Dielen im Flur tropfe, aber Doris liebt mich trotzdem. Ich spüre mein Gesicht wieder, als sie mir einen Kuss gibt. Sie nimmt mir die Tüten ab, hängt die Jacke über die Heizung, stopft meine Schuhe mit Zeitung aus. „Zeig mal dein Innenleben“, heißt es auf Österreichisch, wenn es darum geht, das Innere der Schuhe zu zeigen. Das habe ich mir gemerkt. Hier ist mein Innenleben. Ausgestopft mit Zeitungen, die nichts Schreckliches mehr berichten. Heute sind Zeitungen nur zum Stiefelausstopfen da.
Doris und du seid immer noch am Kochen. Mir war natürlich klar, dass es nicht bei der Challah bleiben und dass ihr daraus eine Tagesbeschäftigung machen würdet. Ich lasse euch am Herd zurück und gehe zu deinen Kindern hinüber. Sie schauen zusammen mit W. HipHop-Videos auf meinem Computer und zeigen mir die neu eingeübten Moves. W. macht mit und scheitert am Moonwalk. Ich versuche auch ein paar Schritte. In einem anderen Leben werde ich Tänzer werden, habe ich dir von meinem Plan erzählt? Im nächsten Leben bin ich Tänzer und Rapper. Aber in diesem kann ich nur deinen Kindern dabei zusehen, wie sie auf ihren Händen balancieren. Und sie anfeuern. Und ein wenig beatboxen, was den Kids sichtlich peinlich ist.
Es klingelt an der Tür, und K. stürmt herein. Auch nass vom Schnee von Kopf bis Fuß, sie stellt das alkoholfreie Bier in den Kühlschrank, füllt Wasser in den Napf für ihre Hündin. Wir hatten mal geplant, uns die Sorge für Sam zu teilen, aber als ich K. mit Sam zum ersten Mal am Kanal sah (sie hatte das Tier gerade aus Rumänien abgeholt und diesen Gesichtsausdruck, als würde sie direkt ins Weltall blinzeln), war mir klar, es wird keine geteilte Sorge um einen Straßenköter geben. Sam und K. sind für immer ein Team. Sam liebt allerdings auch Doris und schmiegt sich an ihre Beine, will Streicheleinheiten, während Doris noch beim Gemüsehacken ist. Sie sagt: „Ich habe Chili an den Fingerkuppen, Liebes, das willst du nicht, dass ich dich jetzt kraule“, und neigt ihren Kopf zu Sam, wischt mit der Stirn an ihrer Stirn.
Meine Mutter ruft an, sie stehe unten im Hauseingang, ich möge ihr bitte mit dem Koffer helfen, unser Fahrstuhl sei mal wieder ausgefallen. Als ich das Teil hochschleppe, frage ich vorsichtig, was sie für den einen Tag, den sie bleibt, den alles eingepackt habe, und sie antwortet, als wäre ich wieder ein dummer Teenager: „Champagner natürlich! Wir sind doch heute viele, oder? Da sind zehn Flaschen drin.“
Wir treffen R. im Treppenhaus. Sie hatte letztes Jahr an Chanukkah Fieber und Husten und musste die Tage allein auf dem Sofa verbringen. Ich war damals in Wien, hörte mir auf der Feier der liberalen Gemeinde Schreckensgeschichten darüber an, wie jüdische Schüler an unterschiedlichen Schulen der Stadt verprügelt wurden, und wollte nichts lieber, als R. einen Teller Suppe vorbeibringen. Sie ist diejenige, die mir beigebracht hat, wie man jüdische Feste feiert. Und sie half mir, die Mesusa, die meine Mutter aus Israel mitgebracht hatte, am Türrahmen anzubringen. In der Zeit, in der jüdische Menschen ihre Mesusot aus Angst abnahmen, kam R., gutgelaunt und glamourös mit wehendem grünen Schal, und sagte: „So, liebe Nachbar*innen, das wird jetzt etwas lauter.“ Sie sprach die Gebete, ich hämmerte im Takt.
A. kommt mit N. durch die offenstehende Tür. N. hat gerade noch im Radio die neuesten Musikalben vorgestellt, nun bindet sie sich eine Schürze um, stellt sich zu dir, Ofer, und fängt ein Gespräch über dein neues Buch an, das erst vor einer Woche erschienen ist und schon in jedem Feuilleton besprochen wurde. Sie schnippelt das Gemüse mit Händen, die letztes Jahr müde und krank waren und nicht mehr wollten. Aber das ist passé. Jetzt sind alle wieder gesund. Ihr drei verschwindet fast hinter den Möhren, Kartoffeln, Zwiebeln, Porree, Paprika und Zucchini. Kurz halte ich den Brokkoli ganz oben auf dem Berg Gemüse für deinen Kopf, oder andersrum, ich halte deinen Kopf für einen Brokkoli. (Du wolltest nicht zum Friseur vor den Feiertagen, damit es nicht wieder würde wie im letzten Jahr, als sie dir die Haare so kurz geschnitten hatten, dass du dich nicht mehr zeigen mochtest, weil deine schönen Locken wie bei Samson gestohlen waren, und so fühltest du dich auch. Samson ohne Locken. Aber siehst du: Es wächst alles wieder nach.)
A. ist gerade erst aus der Ukraine zurück. Seit sich die russische Armee aus Saporischschja zurückgezogen hat, besucht sie ihre Eltern regelmäßig und bringt jedes Mal Geschenke mit. Sie holt aus ihrem Rucksack zwei große Einmachgläser mit Salzgurken hervor, nach einem Rezept, das es nur dort gibt, im Osten. Ich schreie auf vor Glück. Eingelegte Salzdillgurken fehlen mir wahrscheinlich am meisten im Westen (auf alles andere kann ich verzichten, glaube ich). Knoblauchzehen schwimmen im Sud vorbei an Rosmarin und Dill. Dazwischen Johannisbeer- und Lorbeerblätter, und Pfefferkörner und Kümmelsamen bilde ich mir auch ein zu sehen. Ich widerstehe dem Verlangen, mit den Fingern ins Glas zu tauchen, und verstaue die wertvollen ukrainischen Geschenke zwischen den Champagnerfalschen und dem alkoholfreien Bier, damit nicht schon alle Gürkchen weg sind, noch bevor wir uns hingesetzt haben.
Ich schaue auf mein Handy. D. schreibt in kurzen, herzlichen Sätzen, wünscht ein schönes Lichterfest und fragt dann, ob ich bei seinem Gedenkabend für den 7. Oktober mitmachen möchte. Ich gehe auf den Balkon, vorbei an deinen Kindern. Gili ist inzwischen zurückgekommen und liest ihnen etwas vor. Es ist so spannend, dass sie ganz still sind, als wären sie eingefroren. Als wären wir alle kurz eingefroren. Als hätte der Schnee uns auch in der Wohnung dick eingepackt, und für einen Augenblick sind wir unbeweglich, wie aus Marmor. Kurz atmet keiner. Aber das geht vorbei. Vom Balkon aus sehe ich auf die einst feierlich wirkende Leuchttafel über der Spielhalle auf der anderen Straßenseite, auf ihr steht: NEUE WELT. Ich rufe D. an und sage: „Natürlich. Ich bin dabei. Lass uns morgen reden. Happy Chanukkah.“
Als ich hineingehe, ist der Tisch gedeckt. Alle sind da. Meine Mutter, Doris, du, W. und B. und S. und I. und N. und T. und F. und M. und E., mein ganzes Freund*innen-Alphabet, alle meine Anker. Besteckgeklapper im Wohnzimmer, irgendetwas fällt in der Küche hinunter, aber es bricht nicht. Heute bricht nichts.
Ich wünsche meinem Chabadnik-Schuster frohe Feiertage, und dann lege ich das Handy endgültig beiseite.

Auf dem abgerissenen Zettel steht auf Hebräisch „es wird schon“. Foto: © Ofer Waldman