
Briefwechsel
# 8 | Gleichzeit
In der Reihe „Gleichzeit“ schreiben Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman in insgesamt zehn Beiträgen über ihre ganz persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Beobachtungen in den Wochen nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober. Ein literarischer Dialog zwischen Israel und Mitteleuropa.
Ofer an Sasha, 6. Dezember 2023
Sasha, schau mal: J., mein Jüngster, steht barfuß in einer Sonnenpfütze auf dem großen Teppich im Wohnzimmer, noch im Pyjama, in seinen Händen ein kurzes Stück schwarzer Wasserschlauch. Der Schlauch ist relativ dick, er springt immer wieder in seine ursprüngliche Form eines Dreiviertelkreises zurück, egal wie stark man an ihm zieht. J. führt den Schlauch an seine Lippen, das andere Ende hält er an sein Ohr. Seine Augenbrauen steigen in die Stirn, sein Blick wandert zu einem unbestimmten Punkt in der Luft. Ich sehe an seiner Kehle, an seiner kindlichen, zarten Wangenhaut, dass er redet. Er redet in den Schlauch hinein, direkt in das eigene Ohr. Was er sagt, weiß ich nicht, ich kann es nicht hören. Seine Augen fixieren weiterhin einen unbestimmten Punkt im Raum, er scheint aufmerksam zuzuhören.
Ein geschlossener Kreis.
***
G. schreibt, er kommt auf einen Kaffee vorbei. Er ist gerade zurück aus Eilat, aus jenem Hotel, in dem die Überlebenden des Kibbuz Nir Oz seit dem 7.10. untergebracht sind (ein Viertel des Kibbuz fehlt: Von seinen 392 angemeldeten Anwohner*innen wurden 38 ermordet und 77 verschleppt, von denen wiederum 14 bereits freigelassen wurden). G. ist Shiatsu-Therapeut, er verbringt jeweils eine Woche zuhause und eine Woche im Hotel, gibt den Überlebenden kostenlose Shiatsu-Behandlungen, geht mit ihnen in den hohen Wüstenbergen nördlich von Eilat wandern, sitzt mit ihnen am Strand, trinkt mit ihnen in der Hotel-Lobby.
Er erscheint in meiner Tür, barfuß wie immer, sein langes, schwarz-graues Haar ist zum Pferdeschwanz gebunden, seine schwarzen Augen blicken aus einem von der starken Sonne des Südens gezeichneten Gesicht. Er spuckt Satzfetzen aus, nimmt die Kaffeetasse, flucht, stellt sie wieder hin, stopft seine Graspfeife, flucht, zündet ein Streichholz an, hält es an die Pfeife, zieht an ihr, und dann, mit Lungen voller Rauch, sagt er mit gepresst wirkender Stimme – „sehr schlimm. Alles. Sehr, sehr schlimm“. Er pustet den Rauch aus, flucht, nimmt einen Schluck Kaffee, steht auf, dreht eine Runde durch das Wohnzimmer, geht in den Garten, kommt zurück, setzt sich hin, flucht wieder. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche, zeigt mir ein Bild von sich und einem anderen Mann in seinen Mittvierzigern, beide blicken in die Kamera, hinter ihnen die Wüstenlandschaft. Die Sonne scheint von der Seite auf sie, sie müssen also ihre Augen nicht schützen, dafür werfen ihre Nasen, Hände, Taschen komische Schatten, die auf dem Bild wie Schlieren wirken. „Das ist R., wir waren zusammen in der Armee. Sein Bruder wurde ermordet, sein Vater verschleppt. Er hat seine Frau und seine Kinder am 7.10. gerettet, hat sich den Weg aus dem Kibbuz freigeschossen wie ein fucking Rambo. Er erzählte mir während einer Shiatsu-Behandlung eine banale, aber sehr persönliche, fast intime Geschichte über sich und seine Frau“, sagt G., legt das Handy weg, nimmt nochmal die Pfeife in die Hand, zündet ein weiteres Streichholz an, lässt es ausbrennen, ohne es an die Pfeife zu führen. „Es war mir unangenehm, danach hat er die Geschichte auch in der Runde im Hotelrestaurant erzählt. Er war so verstört, dass er nicht merkte, wie falsch das ist.“ G. schaut mich intensiv an, ich spüre, mir entgeht hier was.
Er steht wieder auf, nimmt die Kaffeetasse in die Hand, flucht. Er ist wütend, das merke ich. Ich sage es ihm auch: „Du bist wütend.“ Er macht eine ablehnende Handbewegung, einige Kaffeetropfen fallen auf den Boden, wir achten nicht darauf. „Viele Menschen tun nichts, nichts“, zischt er. Ich sage vorsichtig, alle Menschen sind vom 7.10. berührt, jeder geht damit unterschiedlich um. Er geht einige Schritte in den Garten, ich hinter ihm her. „Auch die, die helfen wollen“, sagt er, „tun nur das, was ihnen passt, nicht das, was nötig ist.“
Dann flucht er wieder.
„Ich tue auch nicht genug“, sage ich.
„Wieso, du erzählst doch deinen Freunden in Deutschland was hier los ist, oder?“
Ich sage ihm, dass ich, kurz bevor er kam, einen bereits angenommenen Auftrag wieder zurückgegeben habe, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich sollte für einen deutschen Radiosender die Leiterin der Stabsstelle zur Dokumentation der durch die Hamas systematisch begangenen sexuellen Verbrechen am und seit dem 7.10. interviewen (ich sage es ein paarmal, wiederhole es zwanghaft: am und seit, am und seit, am und seit, am und seit, am und seit. Ich schaffe es kaum, aus diesem Wortkreis auszubrechen). Während der Recherche habe ich ein Detail erfahren, das eine der freigelassenen weiblichen Geiseln betrifft. Danach habe ich der Redakteurin geschrieben – ich schaffe das nicht. Ich kann dir gerne helfen, jemand zu finden, der das Interview führt.
Ich weiß, sage ich G., dass die Welt davon hören muss. Aber ich schaffe das nicht. Dieser eine Satz …
„Lass es, ich will es nicht hören“, fährt er mich an, schließt die undichte Stelle im Wortkreis (am und seit, am und seit, am und seit, am und seit).
Wir schweigen, er trinkt den Kaffee aus, überreicht mir die Tasse, will gehen.
Jedes Mal, wenn er von einer Woche mit den Überlebenden zurückkehrt, kommt er erst einmal mich besuchen. Es ist immer hart, obwohl er eigentlich kaum etwas erzählt. Er ist immer wütend, flucht, spuckt Satzfetzen aus, bleibt nur kurz, kann nicht stillsitzen. Ich höre ihm zu, rede kaum dazwischen.
„Denk an Tschernobyl“, sage ich ihm, will ihn nicht so gehen lassen.
„Wieso?“
„Es ist so: Als Tschernobyl passiert ist, gab es die Westeuropäer, die sich Sorgen um verseuchte Lebensmittel machten. Dann gab es die Schlaumeier, die in Moskau saßen und kluge Ratschläge herunterratterten. Dann gab es die, die in Kiew saßen und dachten, das geht böse aus. Dann gab es die Anwohner*innen von Prypjat, direkt neben dem Kraftwerk, die die Explosion gehört, den Ascheregen gesehen, den Metallgeschmack im Mund gespürt und begriffen haben, ihr Leben, so wie sie es kannten, ist vorbei. Und dann gab es die Leute, die aufs Reaktordach gejagt wurden, um die Graffitstücke aus dem Inneren des Reaktors, die nun freilagen, zu beseitigen. Das bist du. Du bist vollkommen verstrahlt.“
***
Am Abend schicke ich dir eine Nachricht, Sasha, ich schreibe dir, dass heute ein schlimmer Tag war.
„Wieso?,“ fragst du mich. „Erzähl.“
Ich erzähle es dir nicht. Was ich gehört habe, was ich höre. Was die Freigelassenen erzählen. Was die Ärzte, die sie untersuchen, feststellen. Was ich mir seitdem ins eigene Ohr flüstere. Am und seit, am und seit, am und seit, am und seit, du fragst, ich schweige, du fragst, ich schweige, du fragst, ich schweige, du fragst, ich schweige. In Tschernobyl wurde ein Betonsarkophag um den freiliegenden Reaktorkern gebaut, wir errichten geschlossene Wortkreise, Absperrungen, die die verstrahlte Stelle versiegeln sollen. Und auf welcher Seite der Absperrung stehst du? Und G.? Und die Überlebenden aus Nir Oz? Und die Geiseln? Was verletzen wir, wenn wir versuchen, den Wortkreis zu brechen, das Ende des Schlauchs vom eigenen Ohr wegzuziehen?
Und ich, Sasha, wo stehe ich? Vor mir eine Absperrung, hinter mir eine Absperrung. In der Ferne, in Gaza, eine Absperrung. Ich höre die Worte rauschen.
Sasha an Ofer 18.12.
Ich liebe diesen Film von Andrei Tarkowski: Stalker. Er ist sieben Jahre vor der Katastrophe von Tschernobyl entstanden, aber seit 1986 lässt er sich kaum anders als prophetisch verstehen. Ich habe ihn als Jugendliche*r oft geschaut: Die ersten Szenen in Sepiafarben, die Ecken und Kanten scharf ausgeleuchtet, die bleichen Gesichter der Protagonist*innen, die Bar an der letzten Station, bevor es in die Zone geht, alles wirkt zweidimensional. Als hätte die Kamera den Bildern die Tiefe entzogen, so dass nur das Nötigste von allem bleibt, kaum mehr als der Umriss der Dinge. Eine nervös raschelnde Plastiktüte in der Hand einer der Männer, die in das verstrahlte Niemandsland wollen – alles wirkt wie aus Bronze. Geschliffen. Nachkoloriert. Die drei Körper bewegen sich durch eine Landschaft, der etwas zugestoßen ist. Unaussprechliches, Unbekanntes, die Gegend hat dieses Ereignis aufgesaugt wie ein Schwamm. Sie ist selbst zu einem Organismus geworden, unberechenbar. In diesem Terrain herrschen andere Gesetze, oder genauer: es gibt keine Gesetzmäßigkeiten mehr, die ein Mensch erkennen könnte. Eine Straße, die gerade noch da ist, kann im nächsten Augenblick verschwinden. Ein Wasserfall kann eine Tür oder eine tödliche Falle sein. Man sieht kein Lebewesen, aber hört tierische Schreie und menschliches Murmeln, und alles um die Wanderer herum ist lebende Materie. Ob es Glückssache ist, dass die Zone einen durch sich hindurch und dann auch wieder hinaus in die bekannte Welt lässt, oder ob man sich dieses Privileg durch irgendetwas – Haltung, Charakter, eine besondere Leistung – verdient haben muss, bleibt offen.
Ich dachte wieder an den Film, als du von Tschernobyl, von der Radioaktivität schriebst, die deinen Freund G. und auch dich und uns alle erfasst hat (am und seit). Was für ein treffendes Bild für die alles zerstrahlende Wolke der Gewalt, die uns, je nach Nähe zum Kern, unterschiedlich kontaminiert. Ich kenne mich mit Verstrahlung ein wenig aus: mein Großvater, der Geophysiker in der Sowjetunion war, wurde verstrahlt. Er lebt noch, er wird bald 90. Man kann damit also auch alt werden. Aber eine Zeitlang wurde mein Großvater fast jedes Jahr operiert. Seine Eingeweide, so hat er es mir einmal zu erklären versucht, werden durch eine Art Netz, das in ihn hineingenäht wurde, an ihrem Platz gehalten, sonst würden die Leber, die Gedärme, der Magen herumwandern und sich gegenseitig einquetschen, abschnüren.
Ich schrieb meinem Freund E., der nach meinen Tagen fragte, ich wisse jetzt, was mit mir los sei. Was dieses Gefühl ist. Das Ziehen im Kopf. Der Gleichgewichtsverlust, die Gesichtsfeldausfälle. Ich stelle mir vor, so ist es in Tarkowskis Zone. Die Gewissheiten, die wir hatten, gelten nicht mehr. Es ist nicht klar, ob der Himmel im nächsten Augenblick auf einen niedergeht oder ob es Fallen im Boden gibt. Die Strahlung wirkt bis hierher, auch weit weg vom Reaktor. Gut möglich, dass ich damit alt werde. Und meine Freund*innen, die näher dran sind? Ich weiß es nicht. Das kann keiner wissen. Aber es hilft, an meinen Großvater und seine inneren Netze zu denken.
Die Welt teilt sich gerade (mal wieder) in jene, die von dieser Strahlung wissen und sie jeden Morgen spüren, wenn sie die Füße aus dem noch warmen Bett auf den Boden setzen, und in alle anderen. Und es macht mich wütend, dass ich es tue, aber weil diese Briefe hier nicht nur du und ich lesen, glaube ich, dass ich hinzufügen muss: mit jenen, die verstrahlt werden, meine ich nicht nur Jüd*innen. Das sollte eigentlich klar sein. Warum muss ich das dazusagen? Warum habe ich das Gefühl, dass die Veranschaulichung jüdischer Realität immer auch unter einer Art Rechtfertigungsdruck steht: Ja, ich weiß, wir sind nicht die einzigen, die leiden. Was ist das für ein Reflex?
Es gab Kritik an einer Veranstaltung, die meine Kolleg*innen und ich hier in Wien zum 9. November organisiert haben, weißt du? Der Titel lautete „Jüdische Lebendigkeit“, und der Grund des Anstoßes war, dass wir am Tag der Pogromnacht über jüdisches Leben gesprochen haben (wir waren übrigens nicht nur Jüd*innen auf der Bühne, but who cares). Sei das nicht ausschließend, einseitig?, wurde kritisch nachgefragt. Warum wir nicht auch andere Perspektiven abbilden? (Was, bitte, könnten unterschiedliche Sichtweisen auf die Reichspogromnacht sein?)
Darum buchstabiere ich hier aus, dass am und seit dem 7. Oktober (am und seit) nicht nur Jüd*innen verstrahlt werden. Und auch nicht nur arabische, palästinensische Menschen. Wer es versteht, versteht es. Und alle anderen machen eben weiter wie bisher.
Ich beschrieb also meinem Freund E. dein Bild von der Strahlung, Ofer. Und er antwortete: „Ich würde dir so gerne einen Anzug schenken, der dich vor der Radioaktivität schützt.“ Ich dachte kurz nach und schrieb zurück: „Das hast du gerade getan.“ Natürlich werden unsere Freundschaften uns nicht vor der Strahlkraft der Kriege schützen. Aber trotzdem: Es hilft. Weißt du, es gab doch diejenigen, die sich mit Jod abwuschen, als die Katastrophe von Tschernobyl bekannt wurde. Unsere Freundschaften sind so eine Art Antidot. „Löse zwei Tropfen Jod in einem Glas Wasser auf. Wasch dir die Haare ...“, heißt es bei Swetlana Alexejewitsch.
In Tarkowskis Stalker gehen die drei Männer durch eine unberechenbare Landschaft, ein kompliziertes System von möglicherweise tödlichen Fallen (so nennt sie der titelgebende Held), auf der Suche nach dem Wunsch-Raum im Herzen dieses Geländes. Es heißt, wenn man diesen betritt, erfüllen sich die verborgensten Sehnsüchte. Und vielleicht ist es viel mehr die Neugier, welcher Art diese Wünsche eigentlich sind als das Verlangen nach ihrer Erfüllung, die die Besucher der Zone antreibt. Wer kann schon mit Sicherheit sagen, was er oder sie wirklich will? Der Einzige, von dem man weiß, dass er den Raum betreten und wieder verlassen hat, wurde über Nacht unerhört reich und erhängte sich eine Woche später.
Ich liebe diesen Film. Ich habe mich nie nach meinen eigentlichen Wünschen gefragt. Aber ich habe oft über zwei Dinge nachgedacht: Die Sucht des Stalkers, immer wieder in das gefährliche Gebiet zurückzukehren. Das Leuchten in seinem Gesicht, wenn er die Zone betritt. Seine geweiteten Augen. Gerade hat er noch Frau und Kind mit steinerner Miene zurückgelassen, um Unbekannten ein Führer durch die Landschaft zu sein. Ihre Strahlung hat ihn süchtig gemacht. Er ist ein Junkie. „So, jetzt sind wir zu Hause“, ist sein erster Satz, als die Männer die Zone betreten. Diese mit rostigen, verrottenden Überresten übersäte Gegend ist sein Heim. Er legt sich auf den Boden und scheint in ihn einzutauchen wie in Wasser.
Und dann habe ich noch oft über sein Kind nachgedacht. Von diesem Kind geträumt. Es trägt die Verstrahlung in sich, obwohl es selbst natürlich nie in der Zone war. Sein Vater schreitet mit anderen Männern, mutig oder nicht, aber sicheren Schrittes durch eine zerstörte Gegend und trägt diese Strahlung nach Hause, und dort sitzt dieses Kind. Verzeih, dass ich dir die letzte Einstellung des Films verrate (lies nicht weiter, wenn du ihn sehen willst). In diesem letzten Bild liegt die Tochter des Stalkers mit der Schläfe auf der Tischplatte. Sie trägt ein goldenes Tuch eng um den Kopf gebunden. Für uns, die Betrachter*innen, ist das Kind der Fluchtpunkt. Es ist weit weg von uns. Vor ihm auf dem Tisch bewegen sich Gläser. Das Kind bewegt sie nur mit seinem Blick: zuerst das Teeglas auf uns zu, dann ein anderes Glas quer über die Tischplatte. Mit nichts anderem als seinen Augen lässt es die Gläser über den Tisch gleiten, weg von sich, auf die Kamera, auf uns zu, näher und näher und näher. Und dann, am Ende, fegt es das Glas mit einem einzigen Blick vom Tisch.

Filmstill Stalker, Regie: Andrei Tarkovski, Quelle: YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=Q3hBLv-HLEc, 02:40:03.
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