
Unternehmer, Kulturbürger, NS-Verfolgter
Restitution von NS-Raubgut
Anfang Juli 2023 hat die Klassik Stiftung Weimar ein Buch restituiert, das dem Spirituosenfabrikanten Adolf Sultan gehörte. Vorausgegangen war eine umfassende Recherche, zu der eine kleine Druckgrafik den Anlass gegeben hatte.

Die Villa Sultan in Berlin-Grunewald, Ansicht vom Hubertussee, 1908
Ende Oktober 1906 war es endlich soweit: Adolf Sultan und seine Ehefrau Ida Rosa, die von allen „Coba“ genannt wurde, konnten mit ihren sieben Kindern die viel zu klein gewordene Wohnung in der Berliner Rankestraße verlassen. Die Villa in der Delbrückstraße in Berlin-Grunewald, die der bedeutende Münchner Jugendstil-Architekt Richard Riemerschmid (1868–1957) für die Familie entworfen hatte, stand nach zwei Jahren Bauzeit für den Einzug bereit. In der renommierten Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration wurde das Gebäude 1908 mit zahlreichen Innen- und Außenaufnahmen vorgestellt. Die Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen ein am Ufer des Hubertussees gelegenes herrschaftliches Domizil.
Schon 1922 verkauften die Sultans die Villa wieder. Danach hatte das Haus eine wechselvolle Geschichte, bis es 1965 schließlich abgerissen wurde. Seine markante Fassade mit ihren beachtlichen Ausmaßen ist nicht nur auf den Fotografien aus dem Jahr 1908 überliefert. Sie ist auch auf einer nur 14 x 8,4 cm kleinen Druckgrafik zu sehen, die den Anlass dazu gab, sich im Rahmen der Provenienzforschung an der Klassik Stiftung Weimar genauer mit der Geschichte der Familie Sultan zu befassen.
Das Exlibris von Bruno Héroux
Bei der Grafik handelt es sich um ein Exlibris, ein Bucheignerzeichen, das der Leipziger Grafiker Bruno Héroux (1868–1944) im Jahr 1907 für Adolf Sultan gestaltet hat. Wie der Architekt Riemerschmid war auch Héroux ein zu seiner Zeit herausragender und gefragter Vertreter seines Fachs.
Das Exlibris zeigt ein für ihn typisches Aktmotiv mit Schwänen im Hintergrund. Es lässt sich ikonografisch wohl als Verweis auf die aus der germanischen Mythologie bekannte Figur der Schwanenjungfrau verstehen, die sich durch das Überwerfen eines entsprechenden Gewandes in einen Schwan verwandeln kann. Unter dem Aktmotiv ist die zum Seeufer gelegene Längsseite der Grunewald-Villa zu sehen, die von dem Schriftzug „EX LIBRIS ADOLF SULTAN“ und zwei antiken Säulen gerahmt wird.
Ein solches Exlibris wurde bei Erschließungsarbeiten in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in einem Buch gefunden. Das Exemplar einer 1909 im Leipziger Insel-Verlag erschienenen Auswahl Ludwig van Beethovens Briefe war 1945 in den Bestand der Thüringischen Landesbibliothek Weimar gekommen, einer der Vorgängereinrichtungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Zuvor gehörte es Georg Haar. Der Weimarer Rechtsanwalt, Unternehmer, Kunst- und Büchersammler hatte am 22. Juli 1945 seinem Leben gemeinsam mit seiner Ehefrau Felicitas durch Suizid ein Ende gesetzt. Gesicherte Erkenntnisse zu den Beweggründen für diese tragische Entscheidung gibt es nicht. Das auf den 6. Juni 1945 datierte, im Stadtarchiv Weimar überlieferte Testament enthält keine diesbezügliche Aussage. Ein Abschiedsbrief ist nicht bekannt. Der schriftliche Nachlass des Ehepaares gilt als weitgehend verschollen. Im Testament hatte Georg Haar unter anderem festgelegt, dass seine Büchersammlung in das Eigentum der Landesbibliothek übergehen sollte. Wann und wie aber war das Buch mit dem Exlibris Adolf Sultans in die Sammlung von Georg Haar gelangt?

Bruno Héroux: Exlibris Adolf Sultan, 1907

Werbeanzeige der Firma Sultan, Adressbuch für Thorn, 1908
Ein bürgerliches Familienleben
Adolf Sultan, geboren am 2. Februar 1861 als Abraham Sultan in Thorn (heute: Toruń), war jüdischer Herkunft. Nach dem Abitur trat er in das väterliche Spirituosen-Unternehmen ein und absolvierte dort eine kaufmännische Ausbildung. Als der Vater 1897 starb, übernahm er die Firma.
Seit 1889 war Adolf Sultan mit Mirjam Margarete Sultan, geb. Victorius, verheiratet. Auch sie war jüdischer Herkunft. Das Paar bekam drei Kinder, von denen eines 1899 im Alter von 10 Jahren starb. 1901 zog die Familie nach Berlin in die Wohnung in der Rankestraße. Unerwartet starb Margarete Sultan bereits 1902.
Im Jahr 1904 heiratete Adolf Sultan Coba Victorius, geb. Lewino, die Witwe seines ebenfalls 1902 verstorbenen Schwagers. Sie brachte ihrerseits drei Kinder mit in die Ehe. Adolf und Coba Sultan bekamen zwei weitere gemeinsame Kinder. Nach dem Umzug in die Grunewald-Villa lebten die Sultans in den folgenden Jahren ein großbürgerliches, von kulturellen Interessen geprägtes Leben. In ihrem neuen Domizil veranstalten sie Hauskonzerte, Lesungen und Abendgesellschaften. Zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis gehörten namhafte Künstlerinnen, Künstler und Kunstvermittler wie die Schauspielerin Tilla Durieux, der Komponist Richard Strauss, der Galerist Paul Cassirer und der Maler Max Liebermann, der Adolf Sultan auch porträtiert hat.
Infolge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde Thorn 1920 polnisch. Adolf Sultan verkaufte deshalb seine dort gelegene Spirituosenfabrik. 1922 wurde auch die Grunewald-Villa verkauft. Adolf und Coba Sultan zogen in den kleinen Ort Kümmernitz nahe der Stadt Havelberg, wo sie im Jahr zuvor ein Gutshaus erworben hatten.
Fünf Jahre später kehrten sie nach Berlin zurück und bewohnten nun gemeinsam mit der jüngsten, 1906 geborenen Tochter Johanna Margarete „Grete“, einer aufstrebenden Konzertpianistin, eine kleinere Villa in der Ernst-Ring-Straße in Berlin-Schlachtensee.

Max Liebermann: Adolf Sultan, 1918
Verfolgung in der NS-Zeit
Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gehörten Adolf und Coba Sultan sowie ihre Kinder und deren Familien zu den nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 durch das Regime Verfolgten. Coba Sultans Tochter Käte Wolf, geb. Victorius, emigrierte mit ihrem Mann frühzeitig in die Schweiz. 1936 beging der gemeinsame Sohn Wolfgang Carl Sultan unter dem Druck der Verfolgung Suizid. 1937 emigrierte Coba Sultans Sohn Jacob Curt Victorius in die USA. Seine Frau und seine Tochter konnten ihm aufgrund fehlender Visa erst im Herbst 1939 folgen. Coba Sultans Tochter Anna „Anni“ Victorius emigrierte 1937 nach Japan. Adolf Sultans Sohn Herbert Siegfried Sultan rettete sich 1939 nach Großbritannien.
Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden Adolf und Coba Sultan – wie alle noch in Deutschland verbliebenen, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Verfolgten – durch Zwangsabgaben systematisch ihres Vermögens beraubt. Im September 1940 musste das Ehepaar, mittlerweile 79 und 67 Jahre alt, in eine kleine Wohnung in der Konstanzer Straße in Berlin-Wilmersdorf umziehen. Im Mai 1941 emigrierte die gemeinsame Tochter Grete Sultan über Portugal in die USA. Adolf und Coba Sultan erhielten im Juni 1941 Visa für die Schweiz. Während sie auf die Ausreiseerlaubnis warteten, starb Adolf Sultan am 16. August 1941 an einem Lungeninfarkt. Coba Sultan konnte Deutschland wenig später im September 1941 verlassen. Adolf Sultans Tochter Clara Paula „Claere“ Sultan, geschiedene Guttsmann, gelang die Emigration trotz eines Visums für Venezuela nicht mehr. Sie tauchte unter, wurde aber im September 1943 verhaftet, ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und wenig später dort ermordet. Paul Adolf Guttsmann, mit dem sie von 1912 bis 1929 verheiratet war, und ihre Söhne Peter und Ulrich Guttsmann waren 1939 nach Großbritannien emigriert.

Barani Guttsman, Ur-Ur-Enkelin von Adolf Sultan, und Arno Barnert, stellvertretender Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, bei der Übergabe des Buches am 5. Juli 2023.
Restitution an die Familie
Der Weg, den die im Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek identifizierte Beethoven-Briefausgabe mit dem Exlibris Adolf Sultans aus dessen Privatbibliothek nach Weimar in die Sammlung von Georg Haar genommen hat, ließ sich nicht im Detail klären. Die weiteren Recherchen zum Verfolgungsschicksal der Familie führten zu der Einschätzung, dass der Eigentümerwechsel aufgrund eines NS-verfolgungsbedingten Verlustes erfolgte. Georg Haar hat das Exemplar, das für ihn nicht zuletzt aufgrund des eingeklebten Exlibris interessant gewesen sein dürfte, danach vermutlich über den Antiquariatsbuchhandel erworben.
Die Ergebnisse der durch das Exlibris Adolf Sultans ausgelösten Recherchen wurden im Online-Katalog der Herzogin Anna Amalia Bibliothek sowie im ProvenienzWiki, einer Online-Plattform für Provenienzforschung und Provenienzerschließung, in knapper Form veröffentlicht.
Im Frühjahr 2023 meldete sich Barani Guttsman bei der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Die Ur-Ur-Enkelin Adolf Sultans, die eigentlich in New York lebt, erforscht derzeit von Berlin aus das Schicksal ihrer im Nationalsozialismus von Verfolgung und Vernichtung betroffenen Verwandten. Bei Online-Recherchen war sie auf die Einträge im Bibliothekskatalog und im ProvenienzWiki aufmerksam geworden. Es folgte ein reger Austausch per E-Mail. Am 5. Juli 2023 kam Barani Guttsman auf Einladung der Klassik Stiftung nach Weimar. Stellvertretend für ihre Familie nahm sie Ludwig van Beethovens Briefe mit dem Exlibris Adolf Sultans als Restitution entgegen.
Zur Erinnerung an verfolgte Mitglieder der Familie Sultan hat Barani Guttsman gemeinsam mit der AG Spurensuche Berlin-Schlachtensee die Verlegung von neun Stolpersteinen in der Berliner Ernst-Ring-Straße initiiert, vor dem letzten frei gewählten Wohnsitz von Adolf, Coba und Grete Sultan. Eine Vertreterin der Klassik Stiftung Weimar war bei der Verlegung am 10. August 2023 zugegen.