„An den Mond“: Goethes Gedicht im Wandel

Lyrik für Charlotte von Stein

Art: LyrikAutor: Dr. Elke Richter
11.11.2021 3

Der Mond faszinierte Goethe ein Leben lang. Doch nie hat ihn das Gestirn so inspiriert wie in den frühen Weimarer Jahren. Das belegen zahlreiche Mond-Zeichnungen und ein wunderbares Gedicht an Charlotte von Stein.

Eine der zentralen Metaphern ist der ‚Mond‘ auch in Goethes Lyrik, vor allem aber in den frühen Briefen an Charlotte von Stein. Im Juli 1776 schwärmt er aus seinem Garten an der Ilm: „Nachts hab eilf der Mondschein war so göttlich ich lief noch ins Wasser. Auf der Wiese und Mond.“ Wenig später, im August 1776, bittet er die Freundin: „Beym Monde dencken Sie mein.“ Für Charlotte von Stein hingegen verwendet er in seinen Tagebüchern als Symbol das astronomische Sonnen-Zeichen ☉.

„Abend Mondenzeichnung“ vermerkt Goethe unter dem 13. Januar 1777 in seinem Tagebuch. Am 17. Februar 1777 hält er fest: „Gezeichnet. Nachts 10 zurück in Garten. Die Bäume voll blickenden Dufts im Mondschein.“

Johann Wolfgang Goethe: Mond zwischen Bäumen, Bleistift, 1777, Foto: © Klassik Stiftung Weimar

In Anspielung auf den Wechsel zwischen Anziehung und Abstoßung, Nähe und Rückzug, der ihr Verhältnis in der frühen Zeit charakterisiert, schreibt er ihr Anfang Dezember 1776: „Sie sind immer gleich und ich wie der Mond in seinen Veränderungen sich auch gleicht!“ Unter den mehr als 1.600 Briefen, die Goethe bis zum Ende seiner ersten Italien-Reise 1788 an die Freundin schreibt, findet sich auch das Gedicht „An den Mond“.

Brief Goethes an Charlotte von Stein mit den Noten zum Text der ersten Strophe, Komposition von Philipp Christoph Kayser, zwischen Oktober 1777 und Ende Januar 1778, Foto: © Klassik Stiftung Weimar

»An den Mond

Füllest wiederʼs liebe Thal
Still mit Nebelglanz
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick
Wie der Liebsten Auge, mild
Uber mein Geschick.

Das du so beweglich kennst
Dieses Herz im Brand
Haltet ihr wie ein Gespenst
An den Fluss gebannt

Wenn in öder Winternacht
Er von Todte schwillt
Und bey FrühlingslebensPracht
An den Knospen quillt.

Seelig wer sich vor der Welt
Ohne Hass verschliesst
Einen Mann am Busen hält
Und mit dem geniest,

Was den Menschen unbewust
Oder wohl veracht
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.«

Konrad Horny: Das „Nadelöhr“ im Weimarer Park, Graphit, Feder in Graubraun, laviert, ohne Jahr, Foto: © Klassik Stiftung Weimar

Die eigenhändige Reinschrift für Charlotte von Stein mit den Noten zum Text der ersten Strophe gibt das Gedicht in der frühesten bekannten Fassung wieder. Wie die meisten seiner Gedichte für die Freundin wurde es zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt. 1789 veröffentlichte Goethe zwar ein Gedicht unter demselben Titel. Es weicht jedoch im Wortlaut stark ab und umfasst drei Strophen mehr. Die frühe Fassung ist erst seit 1848 bekannt, als ein Teil der Briefe Goethes an Charlotte von Stein im Druck erschienen ist.

Der Herausgeber der Briefe Adolf Schöll veröffentlicht dazu eine Anmerkung Friedrich von Steins, des jüngsten Sohnes der Adressatin. Sie hat seither das Verständnis des Textes stark beeinflusst. Nach Friedrich von Stein war der Freitod eines jungen Mädchens in der Nähe von Goethes Garten an der Ilm Anlass für die Entstehung des Gedichts: Am 17. Januar 1778 fanden Goethes „Leute“, darunter sein Sekretär Philipp Seidel, die etwa 17-jährige Christiane von Laßberg, Tochter des Weimarer Stadtkommandanten, leblos im Fluss und brachten sie zur Wohnung Charlotte von Steins an der Ackerwand. Goethe war von dem Ereignis tief erschüttert, zumal Gerüchte aufkamen, die junge Frau habe den „Werther“ bei sich gehabt, als sie in die Ilm ging.

Im „Andencken der armen Cristel“ ließ er oberhalb der Floßbrücke aus den Resten eines alten Steinbruchs eine Felsen- und Grottenanlage, das „Nadelöhr“, errichten. Am 19. Januar 1778 schreibt er an Charlotte von Stein: „Ich hab mit Jentschen ein gut Stück Felsen ausgehölt, man übersieht von da, in höchster Abgeschiedenheit, ihre lezte Pfade und den Ort ihres Tods. Wir haben bis in die Nacht gearbeitet, zulezt noch ich allein bis in ihre Todtes Stunde, es war eben so ein Abend.“ Lange Zeit wurde der Gedichtbrief für Charlotte von Stein aufgrund dieses zwar romantischen, aber nicht belegbaren biographischen Bezugs zum Freitod Christiane von Laßbergs datiert.

Einen Hinweis auf eine viel frühere Entstehung liefert stattdessen die Melodie. Sie stammt von Goethes Frankfurter Jugendfreund Philipp Christoph Kayser und war ursprünglich für ein Gedicht von Heinrich Leopold Wagner komponiert worden, das Goethe wahrscheinlich schon seit Ende August 1776, spätestens aber seit Anfang 1777 kannte:

„An den Mond

Unbewölktes Silberlicht,
Heiligkeuscher Mond!
Leuchte keinem Bösewicht,
In dem Falschheit thront. […]“

Die Übereinstimmungen nicht nur im Titel, sondern auch in Strophenform und -anzahl legen nahe, dass Wagners ‚Mond-Lied‘ in Verbindung mit Kaysers Melodie Goethe zu seinem eigenen Gedicht angeregt hat. Bis heute lässt sich Goethes Gedichtbrief an Charlotte von Stein nicht genau datieren. Von der Wandelhaftigkeit des Mondes aber bleibt der ‚Augenmensch‘ Goethe lebenslang fasziniert, ja er fühlt sich magisch angezogen und nähert sich ihm auf mannigfaltige Weise: in seiner Dichtung ebenso wie als Zeichner und Naturwissenschaftler.

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