Ich : Ottilie. Weibliche Selbstbilder um 1800 und heute


Schülerinnen Projekt

23.01.2023 5

Wer bin ich? Dieser Frage ging Ottilie von Pogwisch, verheiratete von Goethe, in acht selbst angefertigten Aquarellen nach. Sprechen die Bilder auch noch die junge Generation unserer Zeit an? 13- bis 15-jährige Mädchen einer Schulklasse aus Mutlangen (Baden-Württemberg) haben sich während einer Projektwoche in Kooperation mit dem Goethe- und Schiller-Archiv eingehend mit den Ottilie-Zeichnungen beschäftigt und griffen dann selbst zu Papier und Stift. Dabei entstanden beeindruckende persönliche Interpretationen, die das Goethe- und Schiller-Archiv vom 2. Januar bis 19. März ausstellt.

Das Goethe- und Schiller-Archiv widmete Ottilie von Goethe 2022 eine Ausstellung, die den Titel Mut zum Chaos trug. Gezeigt wurden verschiedene Facetten und kulturelle Unternehmungen einer faszinierenden Frau, die sich den konventionellen Rollenzuschreibungen ihrer Zeit entzog oder sie in ihren Texten, Briefen und Bildern hinterfragte. Als Mittel der Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen sah Ottilie die Kunst. Entsprechend wirkte sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Vermittlerin von Kunst und Literatur und trat als Schriftstellerin, Übersetzerin, Sammlerin und Herausgeberin auf.

Ottilies Selbstdarstellungen: Die Buchstaben unter den Bildern ergeben von links nach rechts gelesen ihren Namen.

Im Nachlass ihrer engsten Freundin Adele Schopenhauer ist ein Journal überliefert, das wohl ein Geschenk Ottilies war: In das Buch sollte Adele Reiseeindrücke und persönliche Notizen aller Art festhalten. Das in rotem Pappband eingeschlagene Buch trägt den Schriftzug „Allerlei“ in Goldprägung und enthält acht aquarellierte Selbstdarstellungen Ottilies auf unterschiedlich farbigem Papier. Die Zeichnungen sind zwischen die leeren Seiten als thematische Untergliederung des Journals geheftet, unter den ersten sieben Darstellungen steht jeweils ein Buchstabe von Ottilies Namen. Die Bilder zeigen Ottilie in zum Teil mutigen, zum Teil ironischen Selbstinszenierungen, etwa als eine auf Wolken stehende Fantasiegestalt in buntem Gewand, als strenge Hausfrau oder als enttäuschte Liebende. Das letzte Bild, das ihren vollen Namen trägt, vereint alle Facetten miteinander. Die Botschaft dahinter: Eine feste Rollenzuschreibung soll und kann bei ihr nicht gelingen. Ihre Persönlichkeit ist schillernd, ist „Allerlei“, und damit keinesfalls langweilig oder alltäglich. In der Privatsphäre, in die diese Bilder eingebettet sind, als Geschenk an die Freundin, ist all dies erlaubt: eine Überwindung der Einschränkungen, wie sie Frauen im 19. Jahrhundert erlebten. Als adlige, gebildete Frau gelang Ottilie immer wieder eine für ihre Zeit ungewöhnliche und oft kritisierte Selbstbehauptung.

Eine Mädchenklasse des Franziskus Gymnasiums Mutlangen hat sich mit ihrer Deutschlehrerin Dr. Phöbe Häcker im Rahmen einer Projektwoche im Sommer 2022 mit den einzelnen Ottilie-Darstellungen beschäftigt. Zuvor hatten die Schülerinnen das Goethe- und Schiller-Archiv während einer Klassenfahrt besucht. Sie arbeiteten in Gruppen. Jede erhielt eines der Bilder zur Bearbeitung. Ausgehend von der Frage „Welche Rolle nimmt Ottilie hier ein, welche Fähigkeiten werden dargestellt und wie aktuell ist dies in Bezug auf mich selbst?“ wurden die Bilder interpretiert. Anschließend stellten die Schülerinnen eine Beziehung zwischen sich und den Darstellungen Ottilies her, die sie in Wort und Bild festhielten.

In der Gegenüberstellung der Bilder von Ottilie und denen der Schülerinnen zeigt sich, wie stark die Suche nach dem weiblichen Selbst an die Sehnsucht nach Selbstbestimmung gekoppelt ist. Es kommt zu interessanten Konstellationen, zu nachdenklich stimmenden Parallelen zwischen heute und damals, zu starken Kontrasten.

Mit der Fantasie-Darstellung Ottilies können sich die Mädchen gut identifizieren: Taraa (14) kommentiert ihr ausdrucksstarkes Bild eines wild tanzenden Mädchens: „Das Bunte in Ottilies Bild zeigt ihre Verrücktheit, das habe ich so dargestellt, indem ich tanze in meinem Bild und viele knallige Farben trage.“ Es gibt auch nachdenkliche Stimmen, wie etwa die von Isabella (13), die neben einer Bildinterpretation einen Aufruf zu verantwortungsvollem Umgang mit Natur und Umwelt hinzufügt: „Wenn ich viele Farben sehe, denke ich an Regenbögen und somit an die Natur. Die Menschen sind aber so weit gekommen, dass wir die Natur nur noch zerstören und zwar zu unserem Vergnügen. […] Wir müssen uns bemühen, die Natur zu schützen und zu erhalten, damit man weiterhin schöne Schmetterlinge bewundern kann.“

Mit Ottilies Fantasie-Darstellung können sich die Schülerinnen gut identifizieren, im Bild rechts eine Zeichnung von Isabella (13).

Ottilie im Göttinnengewand regte die Schülerinnen zu Darstellungen an, in denen sie selbst Verantwortung übernehmen. Die 14-jährige Sofia hat eine Ärztin gezeichnet.

So regte Ottilie im antiken Göttinnengewand die Mädchen zu Darstellungen an, in denen sie selbst Verantwortung übernehmen. Dass auf dem Schild das Wort „Vaterland“ geschrieben ist, ignorieren sie bei ihrer Interpretation. Sofia (14) hat eine gesichtslose Ärztin gezeichnet, da sie im Ottilie-Bild eine Kriegsgöttin sieht, „welche stark, sozial und mutig ist.“ Sie findet, „dass man all diese Kriterien am besten als Ärztin verkörpert. Eine Ärztin hilft anderen, muss aber auch vieles wegstecken. Sie erlebt schöne und traurige Momente so wie die Göttin.“

Im Bild der enttäuschten Liebenden fanden sich die Mädchen besonders wieder und verglichen es mit Augenblicken, wenn sie traurig oder melancholisch sind. Mia (13) beschreibt: „Mein Bett ist mein Rückzugsort und dort kann ich mich wohlfühlen. Ich habe mich in einer eingekrümmten, aber bequemen Position gemalt. Man sieht mein Gesicht nicht, aber ich bin nachdenklich oder traurig. [...] Manchmal brauch ich auch einfach mal einen Moment, um nachzudenken oder auch mal nicht nachzudenken. Nur daliegen und entspannen.“

Im Bild der enttäuschten Liebenden fanden sich die Mädchen besonders wieder. Mia (13) zeichnete sich und ihren Rückzugsort.

Die Zeichnung von Ottilie als Soldat in Uniform inspirierte die Schülerinnen zu Bildern, in denen Selbstbewusstsein und Stärke zum Ausdruck kommen, im Bild rechts eine Darstellung von Mia (14).

Die Zeichnung von Ottilie als Soldat in Uniform inspirierte die Mädchen zu Bildern, in denen Selbstbewusstsein und Stärke zum Ausdruck kommen. Mia (14) entschied sich dafür, „eine muskulöse Frau zu malen, weil es früher nicht üblich war, dass eine Frau trainiert und Muskeln hat“.

Vielfältige Perspektiven auf Frauenrollen und -zuschreibungen treten hier zutage. Sie lassen gleichzeitig die engen Strukturen, in denen sich Ottilie zu ihrer Zeit bewegte, noch einmal deutlich werden.

Gedicht Ottilie von Goethe mit Adele Schopenhauer (?) aus „Allerlei“ (GSA 84/II 4a)

Ottilie von Goethes eigene Vielseitigkeit stellte sie in einem, wahrscheinlich mit Adele Schopenhauer gemeinsam entstandenen Gedicht, dar, das dem Journal für Adele Schopenhauer vorangestellt ist. Es liest sich wie eine zu den acht Ottilie-Darstellungen gehörende Bildbeschreibung:

„[...] Ich kenne ein Mädchen bei meiner Treu,
Die ist das vollständigste Allerlei; -
Heut will sie gebunden sein, morgen ganz frei.
Jetzt ist sie flatterhaft dann felsen treu,
Jetzt folgt sie sinnend der Sterne Bahn,
Und plötzlich fängt sie zu tanzen an;
Nun weint sie und scheint ganz Melancholie,
Dann trällert und springt sie von Abend bis früh;
Ist jetzo ganz Dehmuth, jetzt wieder unbändig,
Jetzt Kind ganz, dann wieder Matronen verständig.
So mädchenhaft schüchtern, dann männlich kühn.
Nun sittsam und häuslich, dann Weltkind von Sinn. […]“

In der Ausstellung Ich : Ottilie. Weibliche Selbstbilder um 1800 und heute, die vom 2. Januar bis 19. März 2023 im Goethe- und Schiller-Archiv zu sehen war, konnten Besuchende das Journal „Allerlei“ aus dem Nachlass Adele Schopenhauers sowie alle 25 Zeichnungen und Texte der Schülerinnen betrachten. Wir danken den Schülerinnen des Franziskus Gymnasiums sowie Frau Dr. Phöbe Häcker für die Möglichkeit, die Bilder auszustellen und hier zu veröffentlichen.

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