
Johann Wolfgang von Goethe: Schichtwolkendecke mit aufgesetzten Haufenwolken und Fallstreifen, 1816
Basaltstreit
Alles nur ein Irrtum? Goethes Beitrag zur Theorie der Erdgeschichte
Als Johann Wolfgang von Goethe im Sommer 1816 seinen jährlichen Kuraufenthalt plante, versank Europa im Regen. In den Tälern traten die Flüsse über die Ufer. In den Bergen wuchsen die Gletscher. In der Schweiz schneite es im Juli. An der nordamerikanischen Ostküste fiel Schnee im August. China wurde von Überschwemmungen verwüstet. Die Cholera breitete sich von Nordindien über Bengalen aus und reiste mit dem britischen Militär nach Europa.
Am Genfer See saß bei Dauerregen eine englische Reisegesellschaft fest. Zu ihnen gehörte ein Dichter, auf den Goethe jüngst aufmerksam geworden war. „Ich habe Kenntnis genommen von dem englischen Dichter Lord Byron, der uns zu interessieren beginnt“, notierte er im Plural, der gewöhnlichen Anredeform eines Staatsministers, zu dem er im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach ernannt worden war.1
Was Goethe nicht wusste: Auch Byron und seine Mit-reisenden nahmen in diesem Juni Kenntnis von ihm. Das schlechte Wetter hatte den Aufenthalt der fünfköpfigen Gruppe in einen schriftstellerischen Wettbewerb verwandelt. Mit erstaunlichen Ergebnissen. Statt draußen zu wandern oder zu baden, wurde die Zeit in der von Byron angemieteten Villa Diodati verbracht, malerisch gelegen am Genfer See. Zur Unterhaltung wurden Gespenstergeschichten gelesen und Erzählungen geschrieben, die auf übernatürlichen Ereignissen beruhten. Die unheimlichste erfand Mary Godwin. Sie war die Geliebte des ebenfalls anwesenden Schriftstellers Percy Bysshe Shelley. Später wurde sie seine Ehefrau und hieß Mary Shelley.
In Genf schuf die Achtzehnjährige für ihre Zuhörer den Physiologen Frankenstein, den sie aus Leichenteilen ein neues Geschöpf zusammenflicken ließ. Ihr skrupelloser Wissenschaftler ähnelte nicht nur Goethes Faust in seiner Bereitschaft, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Auch das Monster, das Frankenstein ins Leben rief, entwickelte eine Verbindung zu Goethe. In der Buchfassung der Geschichte, die unter dem Titel Frankenstein oder der moderne Prometheus erschien, liest Frankensteins Ungeheuer Die Leiden des jungen Werther. Erschüttert von der Lektüre nennt es Werther „ein noch göttlicheres Wesen, als ich es je gesehen oder mir vorgestellt hatte“.2
Mary Shelley wird rückblickend über das enttäuschende Wetter in Genf schreiben, es sei „ungewöhnlich kalt und regnerisch“ gewesen. In Weimar, etwa achthundert Kilometer nordöstlich, notierte auch Goethe am 4. Juni, dass „sehr kalte Luft“ herrsche. Zwei Tage nach dem Eintrag starb seine Frau Christiane, mit nur 51 Jahren. „Du versuchst, o Sonne, vergebens, / Durch die düstren Wolken zu scheinen!“, begann Goethe das Gedicht für sie.3 Innenwelt und Außenwelt fielen in eins. Das schlechte Wetter hielt weiter an.
Zurück in die Zukunft
Als Shelley mit Frankenstein einen frühen Science-Fiction-Roman schuf, verband sie mehr mit dem fast ein halbes Jahrhundert älteren Goethe, als ihr bewusst gewesen sein dürfte. Die unheimliche Zukunft, die sie in Frankenstein ausrollte, war das Gegenstück zur geheimnisvollen Vergangenheit, die zu Goethes Obsession geworden war. Shelley schaute nach vorne, in Richtung des Kommenden. Goethe blickte zurück, zum Gewesenen. Beides gehörte zusammen. Die Zeit dehnte sich in alle Richtun-gen aus. Aber es war die Geschichte der Erde, die zuerst schwindelerregende Ausmaße annahm.
Bereits 1781 schrieb Goethe an Charlotte von Stein, dass er an einem „Roman über das Weltall“ arbeite.4 Im Jahr darauf verfasste er eine Studie Über den Granit, seiner Ansicht nach das älteste Gestein unseres Planeten. Der Text blieb Fragment, wurde aber um Dutzende Schriften zur Erdgeschichte erweitert, die zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurden. Mit der wissenschaftlichen Welt machte Goethe schlechte Erfahrungen. Seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen sollte ausgerechnet von den Forschern abgelehnt werden, die er am meisten bewunderte. „Ich kann nicht ausdrücken“, schrieb Goethe rückblickend über die Zurückweisung, „welche schmerzliche Empfindung es mir war […].“5
Ungeachtet dessen wuchs die Sammlung in seinem Haus in Weimar. Die Zahl der Gesteine, Mineralien, Fossilien und Naturalien ging in die Zehntausende. Als Leiter der Bergbaukommission in Ilmenau wurde Goethe direkt mit den neuesten Theorien und Entdeckungen versorgt. Noch hieß der Forschungszweig, der ihn so gründlich beschäftigte, „Geognosie“. Der Begriff „Geologie“ sollte sich erst später einbürgern.
Und waren die Neuheiten aus der Erdgeschichte nicht ebenso unglaublich wie Frankensteins Ungeheuer? In Patago-nien waren die Knochen eines Riesenfaultiers ausgegraben worden, so groß wie ein Pferd. In Osterode im Harz und im sibirischen Eis wurden die Überreste eines Tieres entdeckt, das bald „Wollhaarmammut“ hieß. Überall, auch in Thüringen, stieß man auf fossile Ammoniten und andere Organismen, die ein Urmeer bezeugten. Dessen Alter hatte der Comte de Buffon, bewunderter Naturforscher und Direktor des Königlichen Botanischen Gartens in Paris, auf 65.000 Jahre geschätzt.
Goethe vermachte der deutschen Sprache eine Reihe von Worten, die seiner Faszination für die Erdgeschichte entsprangen. Uranfang. Urgebirge. Urmetall.6

Mary Shelley, die mit 18 Jahren die Figur Frankenstein erschuf. Porträt von Samuel John Stump
Feuer und Wasser
Doch noch einmal zurück in den kalten Juni 1816: Mit seinen Sommerplänen hatte Goethe nicht mehr Glück als Shelley und Byron. Seine Kutsche kippte auf der Fahrt Richtung Wiesbaden um, und die Achse brach. Die Reise führte damit zurück nach Weimar, im Anschluss ins näher gelegene thüringische Tennstedt. Auch hier schlug das schlechte Wetter zu Buche. Wanderungen kamen nicht in Frage. Wegen der „kotigen“ Wege, fluchte Goethe.7
Niemand, weder Goethe noch die englischen Touristen, ahnte, dass sie Zeugen eines Ereignisses von erdgeschichtlichen Dimensionen wurden. Auf der indonesischen Insel Sumbawa war im Jahr zuvor der Vulkan Tambora ausgebrochen. In der größten Vulkanexplosion der Menschheitsgeschichte wurden Massen von Asche, Schwefel und Gasen in die Stratosphäre geschleudert, wo sich winzige Aerosole bildeten. Wie man heute weiß, bindet sich in ihnen das Wasser. Die Wärmestrahlung der Sonne wurde absorbiert. Die Stratosphäre heizte sich auf. Der Boden kühlte ab.
Goethe las im Jahr 1817 in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände einen Beitrag, der sich mit dem Ausbruch des Tambora beschäftigte. Zum Dauerregen stellte er keine Verbindung her, so wenig wie seine Zeitgenossen. Die Forschung deckte den Zusammenhang erst im 20. Jahrhundert auf.
Neptunisten
Es gab also gute Gründe, warum niemand bei Regen und Kälte an Vulkanexplosionen dachte. Dass Feuer und Wasser in einer Ereigniskette verbunden sein könnten, hatten noch dazu die Debatten in Goethes Umfeld unwahrscheinlich gemacht. Die Elemente waren zu Antagonisten geworden. Mit Blick auf die Erdgeschichte hieß es Entweder- oder. Entweder hatte das Wasser die Erdkruste geformt oder das Feuer. Die Anhänger des Lagers, das Berge, Becken oder Gesteine mit dem Wirken von Wasser erklären wollte, nannten sich „Neptunisten“, nach dem mythischen Wassergott. Die Gegenseite bildeten die „Vulkanisten“. Für sie stand Vulcanus Pate, der Gott des Feuers und berühmte Götterschmied.
Die Geringschätzung der gegnerischen Position konnte so klingen: „In der festen Überzeugung, daß jeder Basalt ausgespiene Lava sei“, witzelte Alexander von Humboldt über den Schweizer Jean-André de Luc, „lief er den Berg hinan, um den großen Krater zu sehen. Er fand – ein kleines Kotloch, dessen Grundfläche man mit der Hand bedecken konnte.“8 Humboldt – wie auch Goethe – hielten die Suche nach Schloten, die auf Vulkantätigkeit hinwiesen, für abwegig. Vor allem wenn es um Basalt ging und die Frage seiner Entstehung. Beide waren zunächst stramme Neptunisten. Ihrer Überzeugung nach war Basalt als Ablagerung entstanden, als Sediment des abgesunkenen Urozeans.
Goethe und Humboldt befanden sich zunächst in bester Gesellschaft. Sie folgten der Lehrmeinung von Abraham Gottlob Werner, dem international anerkannten Leiter der Bergakademie in Freiberg. Aus der ganzen Welt kamen Schüler, die Deutsch lernten, um seine Vorlesungen zu hören. Werner lehrte sie die alles entscheidende Kraft des Wassers in der Erdgeschichte und machte sie zu Neptunisten. Bis sich das Blatt wendete.
Vulkanisten
Zu den Forschern, die auf die Seite des Vulkanismus wechselten, gehörte ausgerechnet Alexander von Humboldt. Er, ein Schüler Werners, veröffentlichte 1799 einen Aufsatz, der sich mit der Rolle von Vulkanen in der Entwicklung der Erde beschäftigte. Es war ein erster leiser Abschied von der neptunistischen Theorie seines Lehrers. Im selben Jahr besuchte Humboldt die Kanarischen Inseln und reiste darauf quer durch den amerikanischen Kontinent, vom Süden über die Mitte bis in den Norden. Er erkannte die reihenförmige Anordnung der Vulkane in den Anden und ihre Entstehung aus tief in die Erdkruste reichenden Spalten. Als immer weitere Schüler Werners den Neptunismus hinter sich ließen, dichtete Goethe melancholisch in seinen Zahmen Xenien9:
Zerstört man das Poseidaonische Reich,
Wenn alle sich vor Hephästos bücken,
Ich kann es nicht sogleich.“
Faust
Goethe hielt dem „edlen Werner“ die Treue. In Faust. Der Tragödie zweyter Theil setzte er ihm ein Denkmal. Als im zweiten Akt wie aus dem Nichts ein Berg entsteht, mit „widerwärtig Zittern“, wie Goethe betont, spielen zwei Philosophen noch einmal den alten Streit durch. Anaxogaras als Vulkanist. Thales als Neptunist. Den Schlagabtausch beginnt Anaxagoras:
Solch einen Berg aus Schlamm hervorgebracht?“
Thales antwortet:
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen.
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt,
Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt.“
Zu einer Einigung kommt es nicht, aber Goethe verteilte die Rollen eindeutig. Anaxagoras, den Vulkanisten, ließ er für Zerstörung und Gewalt stehen. Thales, den Neptunisten, dagegen für Entwicklung und langsamen Wandel. Goethe erteilt Thales häufiger das Wort, auch für das längste Plädoyer in der Auseinandersetzung10:
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ozean, gönn uns dein ewiges Walten.
Wenn du nicht Wolken sendetest,
Nicht reiche Bäche spendetest,
Hin und her nicht Flüsse wendetest,
Die Ströme nicht vollendetest,
Was wären Gebirge, was Ebnen und Welt?“
Humboldt verstand den Seitenhieb. Er beschwerte sich spaßhaft in einem Brief an den Mineralogen und Schriftsteller Franz von Kobell: „wegen der schlechten Behandlung, die wir erfahren haben im zweiten Teil des Faust!“11
Dass wir erst Pflanzen und Tiere waren
Wer behielt recht? Gegen Goethe und Werner konnten nachfol-gende Forschergenerationen endgültig nachweisen, dass Basalt ein Vulkangestein war. Mit Goethe und Werner aber sollte die kommende Geologie weniger auf Katastrophen setzen. Stattdes-sen erforschten sie den langsamen und steten Wandel in der Erdgeschichte, so wie ihn Goethe Thales hatte beschreiben lassen.
Doch die größte Anerkennung kam schließlich von unerwarteter Seite. Es waren die Lebenswissenschaften, die Goethe zu schätzen lernte. Charles Darwin, der englische Begründer der Evolutionstheorie, nannte Goethe einen seiner Vordenker. Das Thales-Zitat „Alles ist aus dem Wasser entsprungen!“ ließen 1902 Meeresforscher auf einem Aquarium auf Helgoland anbringen. Goethe stieg postum zum Pionier der Evolutionstheorie auf. Die Zukunft braute sich aus den Theorien der Vergangenheit ein eigenes Gemisch zusammen.
Goethe hätte es wohl gefreut. Aus gemeinsamen Gesprächen berichtete eine begeisterte Charlotte von Stein 1884: „Herders neue Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren. Was nun die Natur weiter aus uns stampfen wird, wird uns wohl unbekannt bleiben. Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen, und Jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen ist, wird äußerst interessant.“12
1 Zit. n. Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München: C. H. Beck, 2016
2 Mary Shelley: Frankenstein oder der moderne Prometheus, München 2017
3 Für Shelley, vgl. „Vorwort“ in ebd.; Goethe zitiert nach Behringer, 2016
4 Zit. n. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, Weimar: J. B. Metzler, 2003
5 Zit. n. Hermann Brauning-Oktavio: Vom Zwischenkieferknochen zur Idee des Typus: Goethe als Naturforscher in den Jahren 1780–1786, Leipzig 1956
6 Thomas Schmuck: Die (Un)Ordnung der Ge-steine. Granite, Eis und Zinn, in: Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwissenschaften um 1800, hrsg. von K. Knebel, G. Maul & T. Schmuck, Dresden: Sandstein Verlag 2019
7 Zit. n. Behringer 2016
8 Zit. n. Otfried Wagenbreth: Geschichte der Geologie in Deutschland, Berlin/Frankfurt: Springer Spektrum, 1999
9 Johann Wolfgang von Goethe: Zahme Xenien, München: C. H. Beck, 2014
10 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Theil
11 Thomas Nerlich & Michael Strobl: Geologie, Zahnfleischbluten und Revolutionen: Alexander von Humboldts vulkanologische Schriften, in: Peter Schnyder (Hrsg.), Erdgeschichten. Literatur und Geologie im langen 19. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2020
12 Briefe an Charlotte von Stein, Weimar 1. Mai 1784
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