„Cranachs Bilderfluten“

Kunst der Reformationszeit

Art: InterviewAutor*in: Kito Nedo
01.06.2022 0

Die Dauerausstellung im Renaissancesaal Herzogin Anna Amalia Bibliothek erzählt, wie Lucas Cranach der Ältere half, die Thesen Martin Luthers in der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu verbreiten. Im Interview spricht Kurator Sebastian Dohe über den Künstler der Reformation und seine Wittenberger Malfabrik.

Herr Dohe, Sie kuratieren die Ausstellung „Cranachs Bilderfluten“ im Renaissancesaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Was zeichnet die Kunst der Reformationszeit, also der Schaffenszeit von Lucas Cranach dem Älteren, aus?
Wenn wir uns in die Lebenszeit von Lucas Cranach dem Älteren zurückversetzen, also um 1500, entdecken wir eine Welt, die von Bildern sprichwörtlich „überflutet“ wird. Innerhalb von wenigen Jahren und Jahrzehnten wurden bedeutend mehr Bilder produziert als jemals zuvor. Das hat unter anderem mit dem Aufkommen des Buchdrucks zu tun. Schriften und Abbildungen konnten plötzlich günstig in hohen Auflagen verbreitet werden. Cranach als Künstler, Verleger und Betreiber einer gut gehenden Bilderwerkstatt beteiligte sich an dieser sprunghaften Werkproduktion. Diese Grunderfahrung einer Überflutung mit Bildern teilen wir heute, bei allen Unterschieden, mit den Menschen des 16. Jahrhunderts.
Wurde auch damals schon Meinung mit Bildern gemacht?
Bilder transportieren Botschaften, sie verdeutlichen Standpunkte. Anfang des 16. Jahrhunderts ging es vor allem um die Einstellung zum Glauben. Die zentrale Frage für Menschen in der Reformationszeit lautete: Wie kommt meine Seele zu Gott? Darüber differierten die Meinungen. Es brodelte innerhalb der Kirche und in der Gesellschaft. Mit Karikaturen und Texten verspottete man sich gegenseitig, griff aber auch Autoritäten wie den Papst an. Mit dem Buchdruck wurde es plötzlich sehr viel einfacher, auch abweichende Ansichten in diese Welt zu bringen.
Inwiefern?
Im frühen 16. Jahrhundert wurde die Herstellung und Verteilung von Druckgraphiken, also Flugblättern, einfacher. Das Bild wurde aber nicht nur zum Austragungsmedium von Streit. Porträts etwa sollten eine bestimmte Botschaft, häufig ein möglichst positives Image transportieren. Adel und Bürgertum nutzten die Malerei zur standesgemäßen Selbstdarstellung. Diese Idee des individuellen Bildnisses war damals relativ neu. Als Künstler und Unternehmer bediente Cranach diese Nachfrage.
Was macht die Besonderheit des Porträts bei Cranach aus?
Cranach entwickelte eine große Bandbreite an Porträtformen. Er lieferte einerseits das Spitzenporträt, mit dem eine bestimmte Rolle sehr gut dargestellt wurde, also der „mächtige Fürst“ oder die „demütige und zugleich schöne Ehefrau“. Gleichzeitig konnte er Großaufträge bedienen. Ein Kurfürst bestellte einmal 120 Bildnisse auf einen Schlag. Cranach war in der Lage, in kürzester Zeit zu liefern, weil seine Werkstatt entsprechend organisiert war. Es existierte also ein einheitlicher und einprägsamer Stil mit Varianten von preisgünstiger Quantität bis hin zur verfeinerten Exklusivität.
Wie genau funktionierte diese spätmittelalterliche Bilderwerkstatt?
Wir wissen, dass es keinen festen Stab an Mitarbeitern gab. Die Mitarbeiterzahl wechselte. Cranach arbeitete ähnlich wie heute ein Architekturbüro. Die leitende Person, der Meister, stand im Hintergrund und organisierte die Abläufe. Er gab entsprechende Impulse, lieferte auch ein Stück Zeichnung als Vorlage, griff punktuell in den Produktionsprozess ein und steuerte ihn. Je nach Bedarf und Auftragslage holte er sich einen Stab an Mitarbeitern mit bestimmten Fähigkeiten, also Spezialisten für Malerei, Graphik, Holzschnitt oder Wandmalerei hinzu. Das Ganze funktionierte flexibel. Bei Spitzenaufträgen griff der Meister selbst verstärkt ein.
„Luthers Forderung lautete, dass die Bilder zu seinen Schriften wie Merkbilder funktionieren sollten. Sie sollten besonders illustrativ wirken.“
Cranach übergab die Werkstatt im Alter schrittweise an seinen Sohn. Wie unterscheidet man eigentlich zwischen dem Werk des Älteren und des Jüngeren?
Das ist schwierig. Cranachs Zeitgenossen haben es sehr bewundert, dass der Sohn so gut arbeitete wie der Vater. Sicher ist nur, dass der Jüngere die Werkstatt leitete, nachdem der Vater 1553 starb. Davor gab es eine Übergangszeit von zehn, fünfzehn Jahren. Vielleicht zielt die Frage aber doch am Wesentlichen dieser Zeit vorbei. Damals wurde kein großer Unterschied zwischen einem Bild aus der Werkstatt und einem von Meisterhand gemacht. Der Name Cranach war das Entscheidende. Der Wunsch nach einem „Original“ entstand erst mit dem Geniekult des 19. Jahrhunderts.
Cranach gilt heute als der Maler der Reformation. Wie haben sich Martin Luthers Thesen in seiner Kunst niedergeschlagen?
Luther hatte eine neutrale Haltung zu Bildern. Natürlich durfte man das Bild nicht mit Gott verwechseln und Bilder nicht anbeten. Aber abgesehen davon durften Lutheraner auch Bilder an der Wand hängen haben. Einfluss nahm Luther auf die Bibelillustrationen. Seine Forderung lautete, dass die Bilder zu seinen Schriften wie Merkbilder funktionieren sollten. Sie sollten also besonders illustrativ wirken.
Als Verständnishilfe für Menschen, die Bibeltexte nicht gut lesen konnten?
Zu dieser Zeit konnten überhaupt wenige Menschen lesen. Viele beherrschten vielleicht nur Drei-Wort-Sätze, das, was man für den Alltag brauchte. Analphabetismus war weit verbreitet. In dieser Hinsicht sollten Bilder auch Abhilfe schaffen. Cranachs Motive wirken manchmal comicähnlich, plakativ, aber in der Form eben auch sehr klar und eindrücklich. Diesen Stil hatte Cranach aber schon vor der Begegnung mit Luther entwickelt. Deshalb würde ich die Zusammenarbeit von Luther und Cranach eher als eine kongeniale Fügung beschreiben.
Die Lutherbibel von 1534 gehört zu den Höhepunkten der Ausstellung. Warum ist dieses Exponat so einzigartig?
Bei der Lutherbibel von 1534 handelt es sich um die erste große und sehr umfangreich illustrierte und aufwendig kolorierte Gesamtausgabe von Luthers Übersetzung. Luther hatte 1522 mit der Veröffentlichung des Neuen Testaments begonnen und dann in den folgenden zwölf Jahren an der Übertragung des Alten Testaments ins Deutsche gearbeitet. Diese Ausgabe ist die erste Gesamtausgabe in zwei großen Bänden, eine Art Mammut- Editionsprojekt. Die Illustrationen stammen vermutlich von einem Mitarbeiter Cranachs. Seinen Namen kennen wir nicht, sondern nur das Monogramm: „MS“. Von diesen aufwendig kolorierten Bibeln aus dieser Zeit gibt es heute nur noch sehr wenige Exemplare. 2015 wurde diese Lutherbibel zum UNESCO-Welterbe erklärt. Als Welterbe zählt sie zu den besonders erinnerungswürdigen Dokumenten der Menschheit.

Höhepunkt der Ausstellung: Die Lutherbibel von 1534 ist die erste große umfangreich illustrierte Gesamtausgabe von Luthers Bibelübersetzung, Foto: Candy Welz, © Klassik Stiftung Weimar

Als Hofmaler am sächsischen Hof in Wittenberg fiel Cranach ein breites Spektrum an Aufgaben zu. Woher kam das Interesse an dieser medialen Vielfalt?
Wir wissen nicht, wo und wie Cranach, der aus Kronach stammte, ausgebildet wurde. Die frühen Jahre liegen im Dunkeln. Es war zu dieser Zeit aber nicht ungewöhnlich, dass Künstler mit verschiedenen Medien arbeiteten. Für einen Maler am kursächsischen Hof war es durchaus normal, dass er sich um Porträtmalerei, Holzschnitt, die Gestaltung einer Münze oder die Ausgestaltung eines Festsaals kümmerte. Cranach beherrschte viele Ausdrucksformen und drückte ihnen seinen unverkennbaren Stil auf.
Heute würde man das vielleicht „Corporate Identity“ nennen, also die Art und Weise, wie sich ein Unternehmen in der Öffentlichkeit präsentiert.
Genau. Dazu passt auch die geflügelte Cranach- Schlange, sein Wappen. Die Schlange taucht wie ein Markenzeichen regelmäßig auf den Objekten auf. „Corporate Identity“ ist das richtige Stichwort, wenn Sie von diesem Hofmaler sprechen. Sein Erfolg wertete den sächsischen Hof natürlich auch auf. Cranachs Auftraggeber, die sächsischen Kurfürsten, wussten genau, was sie da an ihrem Hofmaler hatten.
Auf seinem Grabstein in Weimar wird Cranach der Ältere als der „schnellste Maler“ gewürdigt. Wie kam er zu diesem Attribut?
Cranach war sehr gut darin, seine Werkstatt und auch seine Kunst so zu organisieren, dass sie in sehr kurzer Zeit reproduzierbar war und in Masse hergestellt werden konnte. Wie viele Werke tatsächlich gefertigt wurden, ist schwer zu schätzen. Wenn wir die Zeit seines Sohnes hinzuzählen, wurden innerhalb von 80 Jahren mindestens 3.000 Gemälde produziert. Vielleicht waren es aber auch 5.000 oder 7.000. Dazu kommen die Druckgraphik, numismatische Objekte, Zeichnungen sowie vergängliche Objekte wie etwa Wappenschilde. In dieser Zeit existierte gewiss keine andere europäische Künstlerwerkstatt, die eine vergleichbare Produktivität erreichte.