Kriegserinnerung und Kriegsverdrängung





Von Stalingrad nach Weimar



Art: Artikel Autor: Arno Barnert
30.01.2023 7

Am 2. Februar 2023 jährt sich zum 80. Mal das Ende der Schlacht von Stalingrad. Auch Weimar ist ein Erinnerungsort.

Vor 80 Jahren, am 2. Februar 1943, endete die Schlacht von Stalingrad. Sie gilt als militärischer und mentaler Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Gerade von Weimar aus ist ein Gedenken an die etwa eine Millionen Toten der Schlacht geboten. Thüringer Einheiten der Wehrmacht kämpften in Stalingrad mit. Aus Stalingrad zurückkehrende Transportflieger der Luftwaffe nutzten den Fliegerhorst Weimar-Nohra. Die 8. sowjetische Garde-Armee, von 1945 bis 1992 in Thüringen stationiert, hatte unter dem Kommando von Generalleutnant Wassili Tschuikow entscheidenden Anteil an der Verteidigung von Stalingrad. Sowjetische Ehrenfriedhöfe befinden sich im Park an der Ilm und bei Schloss Belvedere. In Weimar, schon vor 1933 ein zentraler Wirkungsort rechtsextremer Schriftsteller-Netzwerke, fanden seit 1939 die Deutschen Dichtertreffen statt.

Unter dem Doppelschlagwort „Buch und Schwert“ und unter nationalsozialistisch geprägtem Rückgriff auf moderne Ordnungsmodelle wie den Europagedanken, die Idee der Weltliteratur und das Konzept der Sammlung wurden hier die ideologischen Grundlagen für den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa gelegt. 1945 kehrte der emigrierte Schriftsteller Theodor Plievier nach Weimar zurück und veröffentlichte seinen großen Dokumentarroman Stalingrad.

An der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gibt es eine alte Sammeltradition im Bereich der Kriegsgeschichte und Militärliteratur, die auf den Dreißigjährigen Krieg und die Napoleonischen Kriege zurückgeht und historisch-kritisch fortgeführt wird. Daher stand und steht hier immer die Frage im Raum, wie man methodisch mit mensch­licher Gewaltgeschichte umgeht und an sie erinnert. Der Blick zurück auf Stalingrad zeigt: weniger durch eine Totale – Hunderttausende und Millionen Tote lassen sich beziffern, aber kaum mehr fassen –, sondern indem man den Fokus auf einzelne Orte, Handlungen und Strukturen richtet, sie aus der Nähe betrachtet und so das Geschehene Schritt für Schritt sichtbar und begreifbar macht.

Die Sommeroffensive 1942 der Wehrmacht, die „Operation Blau“, zielte vor allem auf die Eroberung der Erdölfelder am Kaspischen Meer und der Rohstoffreserven in der südlichen Sowjetunion. Im August griff die 6. Armee unter dem Oberbefehl des Generals der Panzertruppe Friedrich Paulus mit 330.000 Soldaten und 25 Divisionen in Verbindung mit der 4. Luftflotte und der 4. Panzer-Armee Stalingrad an. Nach heftigen Kämpfen erreichten deutsche Stoßdivisionen im August und September die Wolga. Die Rote Armee hielt nur noch wenige hundert Meter breite Uferstreifen. Während der erbitterte Straßen- und Häuserkampf immer mehr Opfer forderte und Pioniertruppen der Wehrmacht zum Sturmangriff auf die großen Industriewerke im Norden von Stalingrad ansetzten – das „Traktorenwerk“ sowie die Fabriken „Roter Oktober“ und „Barrikaden“ –, fand in Weimar am 10. Oktober 1942 unter dem Motto „Dichter und Krieger“ ein großes deutsch-europäisches Dichtertreffen statt. Der Krieg im Osten wurde „als ein neues Schöpfertum“ gegen die „Übermacht der Zahl und des Materials“ verherrlicht, als „schöpferische Erschütterung“, die eine neue „Gestaltwerdung“ ermögliche. Man feierte den 80. Geburtstag des Weimarer NS-Schriftstellers Adolf Bartels (1862-1945), dessen Nachlass im Goethe- und Schiller-Archiv und in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek überliefert ist.

Zur Angriffsspitze in Stalingrad gehörten vier Kompanien des 15. Infanterie-Regiments der Wehrmacht, die für die Traditionspflege der großherzoglichen Weimarer Infanterieregimenter zuständig und vor Kriegsbeginn teilweise in Weimar stationiert waren. Das 15. Infanterie-Regiment war Bestandteil der aus Hessen und Thüringen stammenden 29. Infanterie-Division, der sogenannten „Falke-Division“. Das Erinnerungsbuch ihres Kommandeurs Joachim Lemelsen von 1960 zeigt auf dem Umschlag die Kasseler Wilhelmshöhe und den Erfurter Dom.

Kasseler Wilhelmshöhe und Erfurter Dom, die Heimatstandorte der 29. Infanterie-Division (Signatur HAAB: 324255-A).

Die „altbewährte thüringisch-hessische 29. Infanteriedivision“, wie sie Paul Carell in seinem Buch Stalingrad. Sieg und Untergang der 6. Armee nannte, war Teil der 4. Panzer-Armee unter Generaloberst Hermann Hoth, die von Südwesten her auf Stalingrad vorstieß. Sie führte die besonders heftigen Kämpfe um das Getreidesilo im Süden von Stalingrad. In der Beschreibung des Historikers Raymond Cartier: „Zuerst wurde die Altstadt genommen. Die Eroberung des großen Silos durch die 29. motorisierte Division war die erste jener unwirklichen Kampfszenen, die der Schlacht um Stalingrad ihren unvergleichlichen Charakter verleihen. Die Detonationen, die in dem enormen Betonklotz widerhallten, spannten die Trommelfelle bis zum Platzen. Der Bau, in dem sich Russen und Deutsche mordeten, war noch voller Getreide. Die Deutschen behielten die Oberhand. Mitte Oktober hatten sie im südlichen Sektor etwa zehn Kilometer Ufer zwischen Kuperowskoje und dem Ende der Treppenfluchten des Roten Platzes erobert.“[1]

Angriff auf das Getreidesilo im Süden von Stalingrad, unter Beteiligung der thüringisch-hessischen 29. Infanterie-Division, aus dem Flugblatt der Alliierten: „Stalingrad. Wie es kam“ von 1943 (Signatur HAAB: 324256-A).

Am 19. November 1942 begann die Rote Armee eine unerwartete Großoffensive gegen die Flanken der 6. Armee. In der „Operation Uranus“ wurden die deutschen Truppen um Stalingrad innerhalb weniger Tage auf einem Gebiet von 200 Quadratkilometern eingekesselt. Etwa 300.000 Soldaten, darunter die Thüringer Einheiten, waren eingeschlossen und konnten nur noch durch die Luft versorgt werden. Viele Transportflugzeuge der Luftwaffe, die aus Stalingrad zurückkehrten, landeten auf dem Fliegerhorst Weimar-Nohra, wie der Verein „Flugplatz Nohra“ herausgefunden hat.[2] Hitler als Oberbefehlshaber verbot den Ausbruch und erklärte Stalingrad zur Festung, die „bis zur letzten Patrone“ gehalten werden sollte. Ein Angriff zum Entsatz der eingeschlossenen Truppen im Dezember, das Unternehmen „Wintergewitter“, scheiterte knapp 50 Kilometer südwestlich vor Stalingrad. Zustand und Versorgungslage im Kessel waren katastrophal, die 6. Armee wurde zerschlagen, zehntausende Soldaten der Wehrmacht und verbündeter Truppen fielen, erfroren und verhungerten, etwa 100.000 gerieten in Gefangenschaft, nur 5.000 bis 6.000 überlebten. Auf sowjetischer Seite fielen der Schlacht mindestens 150.000 Zivilisten und mehr als 500.000 Soldaten zum Opfer.

Der letzte Gefechtsstand des aus Weimar und Eisenach kommenden Thüringer II. Bataillons, das zum Infanterie-Regiment 15 der 29. Infanterie-Division gehörte, aus: Joachim Lemelsen: 29. Division, Bad Nauheim 1960 (Signatur HAAB: 324255-A).

Am 10. Januar begann die letzte sowjetische Offensive. Am 31. Januar 1943 kapitulierten die deutschen Einheiten im südlichen Kessel, am 2. Februar 1943 auch die Truppen im Norden von Stalingrad. Kurz danach verbreitete die Weiße Rose im Februar 1943 in München ihr letztes Flugblatt: „Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!“

Nur 80 Jahre liegen diese Ereignisse heute zurück und sind trotz der kaum überschaubaren Literatur über Stalingrad doch sehr fern. Einen Zugang zur Soldatensprache der damaligen Zeit bietet etwa Theodor Plievier, der selbst Soldat im Ersten Weltkrieg war, in seiner Trilogie Moskau. Stalingrad. Berlin – Der große Krieg im Osten.

Die 1945 erschienene Erstausgabe des Stalingrad-Romans von Theodor Plievier (Signatur HAAB: H 1932).

Plievier hat Überlebende der 6. Armee in Gefangenenlagern interviewt. Auch Erfahrungen aus seiner Weimarer Zeit von 1945 bis 1947 gingen in den dritten Teil der Trilogie ein, den Berlin-Roman, der am Schluss in Weimar und Jena spielt. In Stalingrad fragt einer der Protagonisten, Oberst Vilshofen, ob es ein „Jenseits des Todeskessels“ gebe. Er unternimmt mehrere Ansätze einer Antwort, bricht dann aber ab. Einer seiner Antwortversuche: „Jenseits Stalingrad: das ist Kampf gegen militärisches und nicht nur militärisches Verbrechen, gegen langen Irrweg, ja, auch gegen eigenes In-die-Irre-Gehen, ja, auch und zuerst gegen sich selbst!“[3]

Solche Rufe aus der Vergangenheit zu hören, zu suchen und in die heutige Zeit zu übersetzen, bleibt gerade in Weimar eine Aufgabe. Hier wurde 1935 aus Kavallerieregimentern der Reichswehr die 1. Panzer-Divison der Wehrmacht aufgestellt. Hier steuerte der Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz die Zwangsarbeit versklavter „Ostarbeiter“. Hier wurden im Konzentrationslager Buchenwald über 8.000 sowjetische Kriegsgefangene in einem umgebauten Pferdestall mit Genickschüssen umgebracht. Hier betrieb der sowjetische Sicherheitsdienst von 1945 bis 1950 das sogenannte Speziallager Nr. 2 Buchenwald. Und hier war bis 1992 die Stalingrader 8. sowjetische Garde-Armee stationiert. Daran hat 2010 eine kleine Ausstellung in Erfurt erinnert: Stoj! Erinnerungen – Von Stalingrad nach Weimar, 1942 – 1994.

Ein 2022 eröffneter Vorraum zum Bücherturm der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, das „Militärkabinett“, erinnert an die weitgehend vergessene Geschichte Weimars als Militärstandort.

Das „Militärkabinett“ im Historischen Gebäude der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

Infografik aus dem „Militärkabinett“ zur Topographie Weimars als Militärstandort.

So geht von den in Stalingrad untergegangenen Einheiten der thüringisch-hessischen 29. Infanterie-Division eine kaum mehr bekannte Traditionslinie zurück zu den alten Weimarer Infanterie-Regimentern – in die völlig andere Zeit des alten Europas im 18. und 19. Jahrhundert. Kriegführung und Gewaltgeschichte in der Zeit um 1800 und in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts sind nicht vergleichbar. Aber es gibt „Zeitschneisen“, wie diejenige, die vom Schloss Ettersburg über eine Jagdschneise aus dem 18. Jahrhundert zum Konzentrationslager Buchenwald führt. Auch die Weimarer Klassik war eine Zeit und eine Literaturepoche der Extreme. Das Unfassbare, Fernliegende beider Epochen lässt sich besser verstehen, wenn man sie trotz aller Unterschiede in Beziehung setzt.

Literaturempfehlung

Ulrich, Bernd: Stalingrad. München: Beck, 2005 (Signatur 263127-A).

Grossman, Wassili: Stalingrad. Roman. Berlin: Claassen, 2021 (Signatur 319902-A).

Glantz, David M.; House, Jonathan M.: Stalingrad. University Press of Kansas, 2017 (Signatur 299355-A).

Gerlach, Heinrich: Durchbruch bei Stalingrad 1944, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani, 2016 (Signatur 263224-A).

Hellbeck, Jochen: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. Frankfurt am Main: Fischer, 2014 (Signatur 275779-A).

Pieken, Gorch; Rogg, Matthias; Wehner, Jens (Hrsg.): Stalingrad. Militärhistorisches Museum der Bundeswehr 14. Dezember 2012 - 30. April 2013. Dresden: Sandstein, 2012 (Signatur 325455-B).

Stoj! Erinnerungen. Von Stalingrad nach Weimar ,1942-1994. Sonderausstellung des Stadtmuseums Erfurt. Projektleitung: Hardy Eidam. Erfurt, 2010 (Signatur 275780-B).

Jahn, Peter (Hrsg.): Stalingrad erinnern. Stalingrad im deutschen und im russischen Gedächtnis. Museum Berlin-Karlshorst. Berlin: Ch. Links Verlag, 2003 (Signatur 254079-B).

Plievier, Theodor: Moskau, Stalingrad, Berlin. Der große Krieg im Osten. Drei Romane. Lizenzausgabe. Wien: Wiener Verl., 1954 (Signatur 196720-A).

Fühmann, Franz: Die Fahrt nach Stalingrad. Eine Dichtung. Berlin: Aufbau-Verlag, 1953 (Signatur 17370-A).

Fußnoten

[1] Cartier, Raymond: Der Zweite Weltkrieg. In zwei Bänden. München, Zürich: Piper, 7. Auflage 1985, S. 568.

[2]  Vgl. Front-Rückkehrer im Fliegerhorst Nohra. Hobbyhistoriker Christian Handwerck über geschichtliche Verbindungen Weimars und der Schlacht von Stalingrad vor 80 Jahren, in: Thüringische Landeszeitung, 5.1.2023, Nr. 4, S. 15.

[3] Plievier, Theodor: Moskau. Stalingrad. Berlin. Der große Krieg im Osten. Drei Romane. München: Kurt Desch 1966, S. 696.

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[1] Cartier, Raymond: Der Zweite Weltkrieg. In zwei Bänden. München, Zürich: Piper, 7. Auflage 1985, S. 568.

[2]  Vgl. Front-Rückkehrer im Fliegerhorst Nohra. Hobbyhistoriker Christian Handwerck über geschichtliche Verbindungen Weimars und der Schlacht von Stalingrad vor 80 Jahren, in: Thüringische Landeszeitung, 5.1.2023, Nr. 4, S. 15.

[3] Plievier, Theodor: Moskau. Stalingrad. Berlin. Der große Krieg im Osten. Drei Romane. München: Kurt Desch 1966, S. 696.