
Caspar David Friedrichs Wiesenblumenstück
eine graphik – eine geschichte
Seit kurzem sind die Graphischen Sammlungen der Museen der Klassik Stiftung Weimar um eine Zeichnung Caspar David Friedrichs reicher. Der Kustode Christoph Orth hat das bisher unbekannte Blatt während der Vorbereitungen zur Ausstellung Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar im Depot gefunden. Die ganze Geschichte von der Entdeckung des Wiesenblumenstücks jetzt hören und lesen.
»Es ist natürlich grotesk, dass man sagt, man macht eine Friedrich-Ausstellung und findet zufällig auch noch eine Zeichnung, die dazu gehört. Aber es war so.«
Neujahr 1807
Caspar David Friedrich sitzt an einem Tisch und zeichnet. Auf das feine helle, fast weiße Blatt setzt er mit dem Bleistift dünne Linien. Nach und nach wird sichtbar, was er zu Papier bringt. Es sind verschiedene Pflanzen und Gräser, die sich zu einem Wiesenblumenstück zusammenfügen. Für den Löwenzahn legt Friedrich zunächst die Umrisse der gezackten Blätter mit dem Bleistift an und schraffiert diese dann vorsichtig aus. Die Blüten formt er durch Zickzacklinien und einzelne kurze Striche. Vor ihm auf dem Tisch liegen Skizzenbücher, die er auf seinen Wanderungen in der Umgebung immer mit sich führt. Darin zeichnet er die Natur, die ihn umgibt. Teilweise hat er sie schon vor Jahren bis zum Rand mit Studien von Pflanzen und Bäumen gefüllt und dabei mit großer Präzision die Verschiedenheit der Blätter, die Formen der Blüten und der Stängel erfasst. Es ist ihm wichtig, die Natur genau darzustellen. Denn seine Skizzenbücher dienen ihm als Bilderreservoir, aus denen er auch Jahre später noch Elemente und Motive für seine Zeichnungen und Gemälde schöpfen kann. Die Gräser, die er rechts am Rand des Wiesenblumenstücks platziert, hat er bereits am 18. Juni 1799 in einem seiner Büchlein festgehalten. Als er fertig ist, unterschreibt er das Blatt: „den 1t[en] Januar 1807“. Neujahrstag.

Caspar David Friedrich, Pflanzenstudien, 1799
Eine neu entdeckte Zeichnung
Das Wiesenblumenstück ist eine Neuentdeckung. Die Zeichnung stammt aus dem Bestand der über 2.500 Zeichnungen Goethes, die heute von der Klassik Stiftung Weimar bewahrt werden. Schon seit längerer Zeit war klar, dass die Zeichnung nicht von Goethe stammen konnte. Im Werkverzeichnis der Goethezeichnungen hatte man sie daher abgeschrieben. Wohl auch dadurch lag sie unbeachtet unter anderen Zeichnungen mit botanischen Darstellungen in diesem Bestand.
Während der Vorbereitungen zur Ausstellung Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar, die noch bis Anfang März im Weimarer Schiller-Museum zu sehen ist, stellten wir uns die Frage, ob Goethe im Besitz einer Zeichnung Caspar David Friedrichs war. Dichter und Maler waren seit 1805 miteinander bekannt und standen in engem Austausch. Friedrich verehrte Goethe. Und auch Goethe war (zunächst) von Friedrichs Kunst begeistert, lobte vor allem dessen Zeichentechnik und die Präzision seiner Darstellungen. Hatte der Maler Goethe bei einem der persönlichen Treffen 1810 oder 1811 eine Zeichnung geschenkt?
Mit dieser Überlegung begann die Suche nach einem Werk Friedrichs in Goethes Besitz. Die Recherche erfolgte zunächst in der Museumsdatenbank. Dort wurden Werke ausfindig gemacht, die Ähnlichkeiten zu bekannten Arbeiten Friedrichs aufzuweisen schienen. Ausgewählten Zeichnungen wurden dann im Original geprüft, doch stellten sich die meisten Blätter als falsche Fährten heraus. In einer der Kisten, in denen die Zeichnungen im Depot aufbewahrt werden, zwischen Darstellungen von Tulpen, Studien von Kürbispflanzen und Anemonen kam schließlich ein auf den ersten Blick unscheinbares Blatt zutage: das Wiesenblumenstück.
Schnell wurde deutlich, dass das Blatt den für Friedrich zu dieser Zeit charakteristischen Zeichenstil aufweist. Die Feinheit der Darstellung überzeugte, ebenso die Präzision und Sicherheit der Bleistiftstriche. Die Datumsangabe auf dem Blatt, in der Friedrichs Handschrift eindeutig zu erkennen ist, untermauerte die Einschätzung zusätzlich. Bei genauerer Untersuchung des Blattes kamen noch weitere Argumente für diese Zuschreibung hinzu. Das Blatt verfügt über ein Wasserzeichen, das sich auf weiteren Zeichnungen Friedrichs aus den Jahren um 1807 findet. Das Papier stammt, bei Friedrich nicht ungewöhnlich, aus englischer Produktion. Weiterhin sind zwei Zeichnungen bekannt, die zu dem neu entdeckten Weimarer Blatt in enger Beziehung stehen: Die beiden Pflanzenstudien, die heute im Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden aufbewahrt werden, sind zwei Tage vor beziehungsweise nach dem Weimarer Wiesenblumenstück entstanden, also am 30. Dezember 1806 und dem 3. Januar 1807. Nicht nur die vergleichbaren Darstellungen von Pflanzen, sondern auch die Zeichenweise mit dem Bleistift, die der des neu entdeckten Blattes entsprach, ließen an der Urheberschaft Friedrichs nun keinen Zweifel mehr.

Caspar David Friedrich, Pflanzenstudie, 1806

Caspar David Friedrich, Huflattich, 1807
Wie kam die Zeichnung zu Goethe?
Wann und auf welchem Weg Friedrichs Zeichnung in Goethes Besitz kam, ist noch ungeklärt und Gegenstand weiterer Forschungen. Aufschluss darüber könnte eine 1818 veröffentlichte Anekdote des mit Friedrich bekannten Schriftstellers August Lewald geben, die ihm der Maler selbst berichtet haben soll. Nach Lewald habe Goethe ein Werk Caspar David Friedrichs in einem Stammbuch oder Album einer (ungenannten) Dame gesehen, das Werk an sich genommen und Friedrich gebeten, es für die Dame noch einmal anzufertigen. Friedrich habe dies dann Goethe „zum Gefallen“ getan. Dass es sich bei diesem Werk um das Wiesenblumenstück handelt, ist nicht zweifelsfrei zu sagen, aber sehr wahrscheinlich: Denn es sind zeichnerisch, motivisch wie auch zeitlich eng zusammengehörige Zeichnungen Friedrichs aus Stammbüchern oder Alben überliefert, darunter die Dresdner Pflanzenstudie oder die Zeichnung eines Felsblocks mit Gras aus dem Besitz des dänischen Malers Hans Detlev Christian Martens. Gut möglich also, dass auch das Wiesenblumenstück einst Teil eines Stammbuchs war.
Falls Goethe die Zeichnung bewusst an sich genommen haben sollte – wofür er sogar noch die Wiederholung bei Friedrich in Auftrag geben musste – drängt sich die Frage nach dem besonderen Interesse Goethes an genau dieser Zeichnung auf. Leicht lässt sich die Darstellung mit seinen botanischen Forschungen in Verbindung bringen. Die Detailgenauigkeit, mit der hier Natur wiedergegeben ist, dürfte seine Aufmerksamkeit geweckt haben. Ebenso die technische Brillanz der Bleistiftzeichnung, die den Qualitäten „Kunstfertigkeit, Reinlichkeit und Fleiß der Behandlung“ entsprach, für die Friedrich von Goethe besonders geschätzt wurde. In Friedrich hätte Goethe somit einen Gleichgesinnten in Bezug auf die Erfassung der Natur mit naturwissenschaftlicher Präzision vermuten können.
Leseempfehlung
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Dann empfehlen wir Ihnen den Katalog zur Ausstellung Caspar David Friedrich, Goethe und die Romantik in Weimar, hrsg. v. Annette Ludwig, Christoph Orth u.a., Berlin 2024, ISBN 978-3-7757-5789-8
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