
Christian Hain
Im Interview
Art: InterviewAutor:
13.06.2024
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Der neue Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs will die digitale Transformation ausbauen und die Vielfalt der Bestände jenseits der großen Dichter sichtbar machen.
Lieber Herr Hain, Sie arbeiten seit 2011 im Goethe- und Schiller-Archiv, nun sind Sie Direktor. Was fasziniert Sie an Archiven?
Für mich als Historiker sind Archive ganz besondere Orte. Die in den Beständen überlieferten Briefe, Tagebücher oder Akten öffnen uns Fenster in eine Vergangenheit, die uns mit zunehmend zeitlichem Abstand immer fremder erscheint. Nur durch die Erschließung dieser Handschriften, die Identifizierung der darin erwähnten Personen, Werke, Orte und Sachverhalte sowie die historische Einordnung von Vorgängen kann es uns gelingen, diese Fremdheit zu überwinden und Rückschlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Entscheidungen früherer Generationen hatten Folgen für unser Leben, genauso wie unser Handeln Auswirkungen auf die Zukunft haben wird. Historische Dokumente materialisieren diesen Zusammenhang auf faszinierende Weise, wie es auch David Mitchell in seinem Roman „Cloud Atlas“ – 2012 sehenswert verfilmt – zum Ausdruck gebracht hat. Wenngleich wir aus konservatorischen Gründen häufig nur mit Digitalisaten arbeiten, beeindruckt mich – und so erlebe ich es auch bei unseren Gästen – die Aura des Originals bis heute.
Wie halten Sie das älteste Literaturarchiv der Welt lebendig?
Das Goethe- und Schiller-Archiv gilt als Prototyp des Literaturarchivs. Es wurde 1896 von Großherzogin Sophie eigens als repräsentatives Schatzhaus für literarische Nachlässe errichtet. In diesem Sinne zeigen wir Handschriften in den originalen Schauvitrinen, um die vielfältigen Schätze, die in den über 150 Beständen schlummern, zugänglich zu machen. Wir öffnen täglich im übertragenen und – wenn es die klimatischen Bedingungen zulassen – auch im wörtlichen Sinne die Archivtüren für Jung und Alt, besonders gern zu Anlässen wie der Langen Nacht der Museen oder dem sogenannten Maus-Türöffnertag. Vor dem Archiv lädt zudem die schönste Terrasse Weimars unsere Besucherinnen und Besucher insbesondere in den Nachmittags- und Abendstunden zum Verweilen ein. Das Archiv bleibt auch durch unsere vielfältigen Kontakte zu Universitäten und Forschungseinrichtungen lebendig, die aktuelle Fragestellungen aus ganz unterschiedlichen Fachdisziplinen an unsere Bestände herantragen. Im Wechselspiel zwischen dem Angebot unserer Bestände und den Anfragen aus Wissenschaft und Forschung rücken teilweise bislang wenig beachtete Nachlässe in den Fokus.
Das Archiv hat einen Gesamtbestand von rund 5 Millionen Blatt. Wie behält man da den Überblick?
Das Ordnen und Verzeichnen von Nachlässen liegt in der DNA eines jeden Archivs. Die systematische Bestandserschließung begann 1953 mit Willy Flach, dem ersten ausgebildeten Archivar an der Spitze des Goethe- und Schiller-Archivs. Sukzessive gaben Findbücher, Bestandsverzeichnisse, Inventare und Repertorien eine immer bessere Orientierung über die Bestände des Hauses. Heute sind diese Informationen in der Archivdatenbank enthalten, die Forschenden im Lesesaal und über die Internetadresse des Archivs weltweit für Recherchen zur Verfügung steht. Nur ein Höchstmaß an Akribie sowie regelmäßige Revisionen garantieren diese Ordnung auch in den Magazinen, in denen die Nachlässe aufbewahrt werden. Ganz praktisch sorgen im Arbeitsalltag die Kolleginnen des Benutzer- und Magazindienstes dafür, dass jede Archivalieneinheit gewissenhaft ausgehoben und nach der Benutzung auch wieder reponiert wird. Tatsächlich haben wir einen guten Überblick über den Gesamtbestand des Hauses. In die Tiefe, das heißt bis auf die Einzelblattebene, sind wir noch nicht in allen Nachlässen vorgedrungen. Es bleibt spannend und so werden auch in Zukunft immer wieder überraschende Dokumente auftauchen.
Wie führen Sie das Archiv in die digitale Gegenwart?
Einerseits möchte ich die am Haus angesiedelten digitalen Editionen – allen voran das PROPYLÄEN-Projekt, aber auch Goethes Werke und seine naturwissenschaftlichen Schriften – zu einem zentralen Arbeitsschwerpunkt ausbauen. Zum Teil über Jahrzehnte eingeübte Arbeitsprozesse müssen angesichts innovativer Werkzeuge angepasst werden. So ermöglicht etwa der Einsatz von digitalen Werkzeugen die automatische Erkennung von Handschriften, von Entitäten wie Personen, Orten und Werken oder von semantischen Strukturen in literarischen Texten. Die angefertigten Digitalisate sowie die erarbeiteten Texte und Daten stehen Forschenden beispielsweise in der Foschungsdatenbank so:fie, auf der Plattform zu Goethes Biographica oder in der hybriden Ausgabe von Goethes Faust uneingeschränkt zur Verfügung. Andererseits sind die originären Aufgaben des Literaturarchivs vor dem Hintergrund des digitalen Wandels stärker in den Fokus zu rücken: Das betrifft die zeitgemäße Bestandserschließung, die Sicherung von Kulturgut durch eine langfristige und priorisierende Digitalisierungsoffensive sowie die Weiterentwicklung digitaler Services – beispielsweise die Einführung eines digitalen Bestellsystems und die progressive Fortsetzung der eingeleiteten Open-Access-Strategie –, die Nutzerinnen und Nutzern zu Recht von einem modernen Archiv erwarten können. Die hohen archivischen und editionsphilologischen Standards des Literaturarchivs müssen im 21. Jahrhunderts auch für die digitalen Angebote gelten. Neben der Zugänglichkeit und Auffindbarkeit der Quellen sehe ich den höchsten Anspruch eines digitalen Archivs darin, die Materialität des Überlieferten auch im virtuellen Raum vollständig in ihrem jeweiligen Überlieferungszusammenhang verlässlich zu präsentieren.
Was sind Ihre Ziele für das Goethe- und Schiller-Archiv?
Neben der Fortsetzung der digitalen Transformation sowohl im Archiv- als auch im Editionsbereich möchte ich die Vielfalt und den Quellenwert der Bestände jenseits der großen Dichter sichtbar machen und sehe dabei drei zentrale Schwerpunkte. Erstens: Eine tiefere Kenntnis über den bislang wenig systematisch erforschten Bestand von Goethes Familie, einschließlich seines Sohnes August, seiner Schwiegertochter Ottilie und seiner Enkel. Zweitens sehe ich für das 19. Jahrhundert großes Potential in Franz Liszts Nachlass. Unser Kooperationsprojekt mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar in Heidelberg und der SLUB in Dresden verzeichnet erstmals systematisch sämtliche Quellen und Werke des in ganz Europa berühmten Klaviervirtuosen und Weimarer Kapellmeisters. Perspektivisch soll im Verbund mit anderen Institutionen Liszts kulturhistorisch für Weimars „Silbernes Zeitalter“ relevante Korrespondenz, etwa auch die mit dem Weimarer Großherzog Carl Alexander, ediert werden. Drittens möchte ich den Blick auf den mit Abstand größten Nachlass des Archivs lenken: das sogenannte Institutsarchiv. Darin enthalten sind die vier Jahrzehnte umfassenden Akten der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur in Weimar – kurz NFG, einer Vorgängerinstitution der Klassik Stiftung Weimar. Die Dokumente versprechen wertvolle Erkenntnisse, zur Geschichte des geteilten Deutschlands, zu Handlungsspielräumen im 20. Jahrhundert, zur internationalen Vernetzung der NFG, aber auch für die Stiftung selbst. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ein großes Interesse an der tieferen Erschließung dieses Bestandes, um mit Zeitzeugen gezielt über die in den Akten geschilderten Sachverhalte ins Gespräch zu kommen.
Gibt es ein Dokument im Archiv, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Als Direktor trage ich Verantwortung für jedes Blatt, das unserem Archiv anvertraut ist, weshalb ich im beruflichen Kontext objektive Kriterien anlegen muss. Gleichwohl hat der Historiker seine Vorlieben: Bei mir sind das die Akten der Gesellschaft der Freunde in der Not von Johannes Daniel Falk (im Bestand 15) und die an Goethe adressierten Briefe (Bestand 28). Der Satiriker Falk hat während der napoleonischen Kriege ein auf Spenden angewiesenes Hilfswerk für Heranwachsende initiiert. Die in seinen Akten überlieferten Briefe, Bittschreiben, Anamnesebögen, Polizeiberichte und Zeugnisse skizzieren eindrucksvoll die Lebenswirklichkeit am Beginn des 19. Jahrhunderts, angefangen von den beruflichen Wünschen und den Zukunftsvorstellungen junger Menschen, über finanzielle Nöte von Familien, häusliche Gewalt bis hin zu Alkoholmissbrauch. Diesen besonderen Quellenwert der Nachlässe eines Literaturarchivs für die Alltags-, Kultur- und Sozialgeschichte möchte ich stärker bei den historisch arbeitenden Fachdisziplinen in den Fokus rücken. Und es gibt Dokumente, die mir am Herzen liegen, weil sie mich emotional ergriffen haben: Seit 2011 ist mir der Brief des weimarischen Staatsministers Christian Gottlob von Voigt an Goethe vom 21. März 1819 in Erinnerung geblieben. Goethes Amtskollege schrieb einen Tag vor seinem Tod in zittriger Schrift „Grausamer Gedanke ein letztes Wort an Göthe“.
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