Das Erziehungsprojekt “Fritz von Stein”

Goethe-Kind

25.10.2024 5

Gottlob Friedrich Konstantin von Stein, besser bekannt als Fritz von Stein, war der jüngste Sohn Charlotte und Josias von Steins. Als Kind wuchs er in unmittelbarer Nähe Goethes auf. Mit zehn Jahren wurde er von Goethe in sein Haus auf­ge­nom­men und zu seinem ‚Erziehungsprojekt‘ auserkoren. Yvonne Pietsch über eine Ausbildung der besonderen Art.

„Im ersten Jahre nach meiner Geburt kam Goethe nach Weimar, dem ich einen gro­ßen Theil dessen, was in meiner Jugend für mich geschehen, verdanke und den ich vorzüglich geliebt habe,“ schreibt Friedrich von Stein retrospektiv über seine Kind­heit. Er war der jüngste der drei Söhne der von Steins. Goethe hatte mit allen drei Kindern häufigen Umgang, als sie noch klein waren und unter Aufsicht ihres Haus­leh­rers Johann Friedrich Kästner aufwuchsen. Dabei spielte das Gartenhaus eine wich­ti­ge Rolle, denn dort konnten sich die Jungen frei und unbefangen bewegen. Ganz im Rousseauschen Sinne folgten sie so dem Ruf „Zurück zur Natur“, was der kindlichen Neugier und ihrem Bewegungstrieb entgegenkam.

Oft waren die Kinder im Gartenhaus zu Gast, auch ohne die Mutter. Goethe, der die drei liebevoll „Grasaffen“ nannte, brachte ihnen Stelzenlaufen, Schwimmen und im Winter Schlittschuhlaufen bei – Dinge, die zuvor in der Weimarer adligen Gesellschaft als unschicklich gegolten hatten und in konservativen Kreisen weiterhin verpönt wa­ren. In Goethes Tagebuch gibt es einen Beleg, dass die drei Jungen im Mai 1777 mit ihrem Lehrer im Gartenhaus wegen eines Gewitters auf dem Boden „kampirt“ hätten. Auch die Ostereiersuche, die bis heute am Gartenhaus gepflegt wird, wurde für die Söhne Charlotte von Steins, aber auch andere Kinder wie der Familie Herder und Wieland durch Goethe eingeführt: Im Garten wurden rot gefärbte Eier versteckt. 1779 verzeichnet Goethes Rechnungsbuch alle Zutaten für eine sogenannte ‚Kin­der­py­ra­mi­de‘ zu Ostern – ein wahrer „Kinderspaß“, wie es dort heißt: Berichten zufolge liefen zwei von Goethes Dienern auf Stelzen als wandelnde Pyramiden durch den Garten. Die Pyramiden wurden aus Draht, Reisig und Spalierlatten zusammengebaut und an den Männern befestigt. Die Kinder sprangen an diesen Pyramiden empor und konnten dabei Bratwurst, geräucherten Schinken, Kalbsbraten und andere Köstlichkeiten ergattern.

Der Vater Josias von Stein war als Oberhofstallmeister viel unterwegs. Seine An­we­sen­heit an der herzoglichen Tafel war verpflichtend, so dass er wenig am Fa­mi­li­en­le­ben teilnahm. Goethe dagegen war häufiger Essensgast bei Charlotte von Stein und den Kindern in ihrer Stadtwohnung in der Kleinen Teichgasse am Kasseturm. Dies setz­te sich auch fort, als die Familie im November 1777 in das Haus an der Ackerwand umzog. 

Bis 1780 wurden die Söhne im Familienverbund unterrichtet, ab diesem Zeitpunkt kam der 15-jährige Carl nach Braunschweig. Der dreizehnjährige Ernst wurde zu den Jagdpagen des Herzogs Carl August gegeben. Auch der achtjährige Friedrich wurde vorerst bei den Pagen untergebracht, war dort aber weitestgehend auf sich allein gestellt. „Es erstand hieraus eine etwas zerstreute Lebensweise, da ich mir so selbst überlassen war und ob ich mich gleich eines Theils hierdurch zeitig selbst zu führen lernte, so litt doch die Präcision bei meinem Studium gar sehr“, formuliert Friedrich von Stein in seiner Fragment gebliebenen Lebensbeschreibung. 

Gottlieb Martin Klauer, ganzfiguriges Standbild Friedrich von Steins, Marmor

Johann Wolfgang Goethe mit Fritz von Stein. Kupferstich von 1780 nach einem Schattenriss von Johann Friedrich Anthing, aus Johann Caspar Lavater "Essai sur la Physiognomie", II. partie, La Haye 1783, S. 186

Goethe nahm sich daraufhin seiner Erziehung an. Damit begann für Friedrich „die glücklichste Periode meiner Jugend“: Unendlich war die Sorge u Liebe mit der er [Goethe] mich behandelte u ich verdanke ihm sehr viel in dieser glücklichen Epoche von 1782 bis 1786 wo er nach Italien reißte.“ Ab dem 20. Mai 1782 wohnte der Lieb­lings­sohn Charlotte von Steins wechselweise im Gartenhaus bei Goethe sowie bei seinen Eltern. Kinder zwanglos in der Natur aufwachsen, sie durch eigene An­schau­ung und aus Erfahrung lernen zu lassen, bildete die Grundlage des Er­zie­hungs­pro­jekts Goethes, das er an Friedrich von Stein zur Anwendung brachte. Dabei war es ihm wichtig, die Erziehung den vorhandenen Talenten entsprechend zu gestalten, also Wünsche, Neigungen und vorhandene Fähigkeiten miteinander in Einklang zu brin­gen. Darüber hinaus erschienen ihm alternative Unterrichtsmethoden geeigneter für eine gute Bildung als Frontalunterricht, Lernen im Unterrichtsraum und das Aus­wen­dig­ler­nen von Lehrbüchern. Er wollte Fritz vor allem durch eigenes Erleben und Er­fah­rung lernen lassen. Reisen erhielten dadurch eine wichtige Funktion.

Die beiden sahen sich nicht nur in der näheren Umgebung von Weimar um. Sie reis­ten nach Leipzig und Dessau, besuchten den Harz, waren in Göttingen und Kassel oder in Frankfurt am Main bei Goethes Mutter. Ab Mai 1783 zog Friedrich von Stein schließlich mit Goethe dauerhaft ins Haus am Frauenplan, bis dieser ihn 1786 ohne Warnung im eigenen Haus zurückließ und nach Rom reiste. Goethe unterrichtete ihn in der Zeit davor auch im Zeichnen und lernte mit ihm gemeinsam Sprachen, vor allem (in Vorbereitung seines Aufenthaltes in Rom) das Italienische. Er führte ihn in die Naturkunde ein, besuchte mit dem Jungen in Oberweimar das chemische La­bo­ra­to­ri­um der Brüder Einsiedel oder studierte mit ihm gemeinsam naturkundliche Bü­cher. Auch in Briefen artikuliert er immer wieder, wie wichtig es ihm war, das Kind päd­ago­gisch zu formen. Meine Liebste ich habe mich immer mit dir unterhalten und dir in deinem Knaben gutes und liebes erzeigt. Ich hab ihn gewärmt und weich gelegt, mich an ihm ergötzt und seiner Bildung nachgedacht“, schreibt Goethe an Charlotte von seiner Reise nach Frankfurt/Main. Das Projekt endete abrupt mit Goethes Weg­gang nach Italien.

Für viele das Urbild des deutschen (Garten-)Hauses, für Goethe ein Rückzugsort, © Klassik Stiftung Weimar

Nach Goethes Rückkehr war es Friedrich von Stein, der die geheime Liaison zwischen Goethe und Christiane Vulpius aufdeckte, als er ganz unbefangen ins Gartenhaus eintrat und dort „ein kleines corpulentes Frauenzimmer, welche auch daselbst zuhause zu seyn vermeint“ vorfand. 

Goethes Anteilnahme am Werdegang Friedrich von Steins hielt zwar in den Fol­ge­jah­ren weiter an, war aber bei weitem nicht mehr so intensiv und engagiert wie in den Jahren zuvor.

Leseempfehlung

Sie möchten mehr über Goethes Gartenhaus und dessen Geschichte erfahren? Dann empfehlen wir Ihnen den 2024 erschienenen Fokusband: Goethes Gartenhaus (Im Fokus). ISBN: 978-3422800960. Herausgegeben von der Klassik Stiftung Weimar. Mit Beiträgen von Jutta Eckle, Boris Roman Gibhardt, Ariane Ludwig, Petra Lutz, Christoph Orth, Elke Richter, Alexander Rosenbaum, Thomas Schmuck, Angelika Schneider, Diana Stört. Berlin, München 2024.

Aktuelle Stories

Ein Jahrhunderte überdauerndes Gemeinschaftsprojekt zur Geschichte der Bauhütten

Simrock-Boisserée-Nachlass

Citizen Science in der Romantik

Die Suche nach verlorenen Liedern