21.03.2025 5
»Krieg, Handel und Piraterie,
Dreyeinig sind sie, nicht zu trennen.«

Der zweite Teil des Faust, diese Schatzkammer der wunderlichsten Bilder und Figuren, erzählt Geschichten vom Anbruch der Moderne. Die aufregendste handelt von den paradiesischen Versprechungen des Kapitalismus und den sozialen und ökologischen Zerstörungen, die er hinterlässt. Sie beginnt im ersten Akt, wenn Mephisto inmitten des alternden, korrupten Kaiserreichs das Papiergeld erfindet und schwindelhafte Finanzspekulationen um sich greifen. Und sie endet im vierten und fünften Akt mit dem alten Faust als Großunternehmer oder mit dem in Goethes Zeit gebräuchlichen Wort „Patron“.

Wenn Faust sich im vierten Akt vom Kaiser ein Land überschreiben lässt, das „noch nicht da“ ist, dann meint er den Meeresboden, den er trockenlegen und besiedeln will – als selbsterworbenen, freien Boden. Nichts Geringeres nimmt er sich vor als eine neue Schöpfung. Großes soll geschehen. Und wirklich dehnen sich, wo einst Sturmfluten drohten, im letzten Akt „grünend Wies’ an Wiese, / Anger, Garten, Dorf und Wald“, ausdrücklich „ein paradiesisch Bild“. Aber etwas ist faul in diesem Paradies, und zwar ganz buchstäblich. Und von Anfang an.

Das erste Gebäude, das Faust auf dem kaum entwässerten Meeresboden errichtet, ist sein „Palast“: den, sagt er, „baut ich, grandios, mir selbst bewußt“ und „zur Lust“. Von dort aus beaufsichtigt er die „Knechte“, die er Gräben ziehen lässt. Von seiner Englandreise hatte Carl August 1814 an Goethe geschrieben, wie er im Dunkel „zweihundertfünfzig Feuermaschinen“ erblickt habe, im Industriegebiet bei den Steinkohlen- und Eisengruben von Birmingham. Jetzt, in Fausts Großunternehmen, sieht die staunende Beobachterin Baucis die Feuermaschinen wieder an der Arbeit:

„Wo die Flämmchen nächtig schwärmten
Stand ein Damm den andern Tag.
Menschenopfer mußten bluten.
Nachts erscholl des Jammers Qual,
Meerab flossen Feuergluten,
Morgens war es ein Kanal.“

Wo Menschenleben in neuer Sicherheit zu neuem Wohlstand gedeihen sollen, müssen leider zuerst „Menschenopfer bluten“. Die vorläufig letzten werden diese Zeugen selbst sein: Philemon und Baucis, die freundlichen Alten, deren ökonomisch bedeutungslose Düne Faust besetzen will. Was er nicht erträgt, ist „das Widerstehn, der Eigensinn“. Weil er genau hier den Aussichtsturm errichten, von dem aus er sein eigenes Werk bewundern will, darum lässt er die beiden Alten mitsamt Hütte und Bäumen „beiseiteschaffen“, heimlich abfackeln. Und wieder müssen, wo die Flammen schwärmen, Menschenopfer bluten.

Auf dem neugebauten Kanal treffen derweil die von Faust befehligten Welthandelsleute ein, beladen mit „Kisten, Kasten, Säcken“. Wo sie Handel treiben, da bleibt kein Auge trocken. Von Freiheit, Recht und Wirtschaft prahlt Mephisto und übersetzt diese alten Wörter feixend in die Sprache seiner neuen Epoche: „Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.“ So legen die Heimkehrenden ihre Beute unterwürfig dem „Patron“ zu Füßen. Am Ende des vorigen Aktes ging es noch um Ständestaat und Lehnswesen. Dieser Patron aber ist kein Lehnsmann mehr; sondern Kapitalist im globalen Maßstab. So herrscht er über seine Zwangsarbeiter: „Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten“. So schreibt er ihnen seine Pläne vor: „Dass sich das größte Werk vollende / Genügt Ein Geist für tausend Hände“. So „berechnet“ er und verlangt, unersättlich, vom hilfreichen Teufel immer noch mehr: „Arbeiter schaffe Meng’ auf Menge, / Ermuntere durch Genuß und Strenge, / Bezahle, locke, presse bei!“

Zwischen dem vierten und dem fünften Akt des Faust vollzieht sich der Epochenübergang vom Feudalismus in einen globalen Gründer-Kapitalismus. Zu diesem neuen Zeitalter gehören Feuer und Flämmchen wie Dampfmaschine und Fabrik. Und erst wenn alle Menschenopfer ausgeblutet und alle Reste individuellen Standhaltens beseitigt sind, fällt es dem neuen Souverän nachträglich ein, dass er ja „Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“ wollte. Seiner tatsächlich ausgeübten Macht aber ging es um anderes: „Die wenig Bäume, nicht mein eigen“, flucht er mit dem Blick auf die Düne, „Verderben mir den Welt-Besitz.“

Freundliche Alte mit Eigensinn: Philemon, Baucis und der Wanderer schauen in die „Offene Gegend“ des fünften Akts. Kurz darauf lässt Faust sie samt ihrer Hütte in Flammen aufgehen. Max Beckmann (1884–1950), Feder über Bleistift, 35 x 28 cm, 1943/44

Es ist ein langer ökologie- und sozialgeschichtlicher Prozess, den die Szenenfolge bildkräftig zusammenfasst. Oder, mit den Worten des fassungslosen Beobachters Lynkeus: „Was sich sonst dem Blick empfohlen, / Mit Jahrhunderten ist hin.“ Fausts Propaganda versprach ein neues Gleichgewicht zwischen Land und Meer, Naturbedingungen und Ökonomie. Und wirklich werden ja auf dem einstigen Meeresboden Land- und Forstwirtschaft betrieben, in Wiesen, Wäldern und Dörfern. Doch derselbe Wille zur totalen Herrschaft, der sich in Krieg, Handel und Piraterie zeigt und der auch die letzte freie Düne noch verschlingt – er ist schon im Begriff, das Errungene wieder zu zerstören. Die Grenze, die Faust zwischen Meer und Land ziehen wollte, hält nicht einmal stand.

Denn die triumphierende Landgewinnung war ja zuerst ein Meeresverdrängungsprojekt. Dieses Meer aber haben wir – nur Faust scheint das längst vergessen zu haben – schon im zweiten Akt, in der Klassischen Walpurgisnacht, als Ursprungsort allen Lebens kennengelernt: des „Eros der alles begonnen“. Die drei Reisenden, die in dieses Spektakel hineingeraten, sind Faust und Mephisto und, als drolliger Dritter, das im Labor gezeugte Menschlein, das endlich ins Leben hinauswill: Homunkulus. „Wie man entstehn und sich verwandlen kann“, das erleben sie wie in einem dreidimensionalen Kinofilm. Nur läuft er gewissermaßen rückwärts: vom Land zurück ins Meer, von der Gegenwart in die Gestalten eines mythischen Anfangs, in die Urzeugung aus dem Ur-Chaos. Im Wirbel grotesker Gestalten, die teils aus obskuren Winkeln der Mythologie, teils aus Goethes Erfindung stammen, verändert sogar der Erdboden, auf dem sich dies alles abspielt, unberechenbar seine Gestalt. Wild und chaotisch geht es zu, verwirrend und bezaubernd, im Panorama einer in alle Richtungen wuchernden Welt aus lauter Mutationen oder – Mephisto spricht das Wort aus – „Metamorphosen“.

Jahrzehntelang hatte dieser Begriff den Naturforscher Goethe beschäftigt. Erst jetzt gibt er die Gewissheit einfacher Kreisläufe auf und schildert eine Dynamik, die Charles Darwin bald auf den Begriff der „Evolution“ bringen wird. In Goethes Meer wird sie, von den „Uranfängen der Wasser-Erde, und der darauf von altersher sich entwicklenden organischen Geschöpfe“ an (so hatte Goethe 1817 in einem Aufsatz formuliert), seit der Urzeugung, mit deren orgiastischer Feier die Szenenfolge endet, durch unermesslich weite Zeiträume auch die Verwandlung des Homunkulus weitergehen „bis zum Menschen“. Näher als hier sind Goethe und Darwin einander nie gekommen. Das fiel auch Darwin selber auf; „an extreme partisan of similar views“ nennt er den bewunderten Dichter.

Eben das Leben aber, das in dieser Szenenfolge entsteht, wird am Ende von Faust selbst wieder zerstört. „Komm geistig mit in feuchte Weite“, hat der Verwandlungsgott Proteus den kleinen Homunkulus ermuntert: „Da lebst du gleich in Läng’ und Breite“. Dem Patron Faust im letzten Akt geht es nur noch darum, „der feuchten Breite Grenzen zu verengen“. Das aber ist der Anfang eines ökologischen Desasters. „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, / Verpestet alles schon Errungne“: Diese entsetzliche Erkenntnis gilt nicht etwa dem Rest eines noch nicht trockengelegten Geländes, sondern einer Folge der Eindeichungen selbst. Mephisto spricht das leise aus: „Mit deinen Dämmen deinen Buhnen […] bereitest schon Neptunen, / Dem Wasserteufel, großen Schmaus“.

Fausts Projekt, das mit der einen Hand wieder nimmt, was es mit der anderen Hand gab, leistet ihm unfreiwillig Vorschub. Das vermeintliche Paradies, wieder bemerkt das Mephisto als Erster, fährt zur Hölle: „Und auf Vernichtung läufts hinaus.“ Nun sei „die Erde mit sich selbst versöhnet“, proklamiert Faust. Während er das sagt, „tastet er an den Türpfosten“, verblendet und erblindet, und spottend heben die Lemuren sein Grab aus. Das verdrängte Meer – am Ende kehrt es schleichend, vergiftet zurück.

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