Elisabeth Foerster-Nietzsche begrüßt Adolf Hitler vor dem Nietzsche-Archiv in Weimar, 1934, © Klassik Stiftung Weimar

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Erst Avantgarde, dann Faschismus

26.03.2024 7

Die zwei Jahre jüngere Schwester des Philosophen Friedrich Nietzsche gründete 1886 mit ihrem Ehemann Bernhard Förster in Paraguay die nationalistisch-rassistische Kolonie „NuevaGermania“. Nach dem Scheitern des Projekts und dem Suizid ihres Mannes kehrte sie nach Deutschland zurück und gründete 1894 das Nietzsche-Archiv, für das sie in Weimar das Anwesen Villa Silberblick von Henry van de Velde ausbauen ließ. Hier verbrachte sie mit ihrem geistig umnachteten Bruder dessen letzte Lebensjahre. Nach Nietzsches Tod im Jahr 1900 entwickelte sich das Nietzsche-Archiv zu einem Wallfahrtsort und kulturellen Zentrum. Vor dem Ersten Weltkrieg trafen sich hier herausragende Köpfe der europäischen Avantgarde. Seit den 1920er Jahren hielt dann ein zunehmend faschistoider Geist Einzug, und hochrangige Angehörige der NS-Ideologie waren gern gesehene Gäste im Nietzsche-Archiv. Förster-Nietzsche engagierte sich in der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene“ und trat 1918 der Deutschnationalen Volkspartei bei. 1933 schrieb sie an den schwedischen Unternehmer und ehemaligen Mäzen des Nietzsche-Archivs Ernest Thiel:

„Wir leben eigentlich in einem Rausch der Begeisterung, weil eine so wundervolle, geradezu phänomenalePersönlichkeit, unser herrlicher Reichskanzler Adolf Hitler, an der Spitze unseres Landes steht.“

Adolf Hitler (1889–1945)

1926 hielt Adolf Hitler in Weimar den ersten Reichsparteitag nach der Wiedergründung der NSDAP ab. Elisabeth Förster-Nietzsche lernte Hitler am 30. Januar 1932 in Weimar bei der Uraufführung des von Benito Mussolini verfassten Theaterstücks Die 100 Tage kennen. In den Jahren 1932 bis 1935 besuchte Hitler auf ihre Einladung hin mehrfach das Nietzsche-Archiv. 1933 überreichte ihm Förster-Nietzsche als Zeichen ihrer Wertschätzung den inzwischen verschollenen Degenstock ihres Bruders anlässlich des 50. Todestags Richard Wagners. Im Herbst 1934 stiftete Hitler 50.000 Reichsmark für einen Fonds, mit dem eine monumentale Gedenkstätte für Nietzsche in Weimar errichtet werden sollte. Nach Förster-Nietzsches Tod am 8. November 1935 nahmen neben Hitler zahlreiche weitere NS-Funktionäre an der Trauerfeier im Nietzsche-Archiv und an der Beisetzung in Röcken teil.

Adolf Hitler im Nietzsche-Archiv neben einer Nietzsche-Büste von Fritz Röll, 1932, © Klassik Stiftung Weimar

Henry van de Velde, 1908, © Klassik Stiftung Weimar

Henry van de Velde (1863-1957)

Im August 1901 entwickelten Harry Graf Kessler, Elisabeth Förster-Nietzsche und Henry van de Velde gemeinsam die Idee eines „Neuen Weimar“ als Begegnungsort der europäischen Avantgarde mit dem Nietzsche-Archiv als Zentrum. Auf Anraten Kesslers und Förster-Nietzsches wurde der „Alleskünstler“ van de Velde 1902 als Berater für Industrie und Kunsthandwerk des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach nach Weimar berufen. Förster-Nietzsche beauftragte ihn mit dem Umbau und der Neugestaltung der Villa Silberblick und des dazugehörigen Gartens. Am 15. Oktober 1903 wurde das als Gesamtkunstwerk im Neuen Stil gestaltete Nietzsche-Archiv feierlich wiedereröffnet.

Edvard Munch (1863-1944)

Im März 1904 war der damals noch unbekannte norwegische Maler Edvard Munch zu Gast im Nietzsche-Archiv, wo er trotz seiner Alkoholsucht herzlich aufgenommen wurde. Auf Anregung von Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche beauftragte der sich für das Nietzsche-Archiv engagierende schwedische Unternehmer und Kunstmäzen Ernest Thiel den expressionistischen Maler mit mehreren Porträts des bereits verstorbenen Philosophen, die Munch 1906 nach Fotovorlagen anfertigte. Während weiterer Aufenthalte in Weimar entstanden zudem Porträtgemälde von Kessler, van de Velde, Förster-Nietzsche und von Thiel selbst.

Edvard Munch, 1895, © Munchmuseet

Benito Mussolini, 1930, Quelle: Wikimedia Commons

Benito Mussolini (1883–1945)

Schon 1908 hoffte der 25-jährige Benito Mussolini, dass Nietzsche die Menschen „von der Nächstenliebe erlösen“ werde. Später wurde er von Elisabeth Förster-Nietzsche bewundert, die seit den 1920er Jahren in brieflichem Austausch mit ihm stand. Sie lud ihn mehrfach zu einem Besuch in der Villa Silberblick ein und adressierte ihn 1933 in einem Telegramm als den „herrlichsten Jünger Zarathustras, den sich Nietzsche träumte“. In Weimar ließ sich der von Förster-Nietzsche als „Wiedererwecker aristokratischer Werte in Nietzsches Geist“ verehrte „Duce“ dennoch nie blicken. 1926 schickte er Förster-Nietzsche eine Porträtfotografie mit eigenhändiger italienischer Widmung. Für die Apsis in der von Paul Schultze-Naumburg entworfenen Nietzsche-Gedächtnishalle steuerte Mussolini 1943 eine Dionysos-Büste bei, die angesichts des fortgeschrittenen Kriegsgeschehens jedoch nicht mehr aufgestellt wurde. Im gleichen Jahr erhielt Mussolini von Hitler eine Nietzsche- Gesamtausgabe mit der Widmung „Adolf Hitler seinem lieben Benito Mussolini“.

Dora Wibiral (1876–1955) und Dorothea Seeligmüller (1876–1951)

Die Sängerin Dora Wibiral und die Kunstgewerblerin Dorothea Seeligmüller lernten sich 1901 in Berlin kennen und folgten Henry van de Velde als Schülerinnen nach Weimar. In seiner Kunstgewerbeschule gründeten sie 1906 eine private Goldschmiedewerkstatt und Emaillebrennerei und unterrichteten Farbenlehre und Ornamentik. Trotz ihres damals unkonventionellen Lebensstils als lesbisches Paar verkehrten sie in der gehobenen Weimarer Gesellschaft und nahmen oft an Soireen und Teezirkeln im Nietzsche-Archiv teil. Elisabeth Förster-Nietzsche unterstützte die Künstlerinnen mit dem Ankauf ihrer Fächer, Kissen und Tischdecken, derweil Wibiral und Seeligmüller als Multiplikatorinnen des Nietzsche-Archivs agierten. Im Sinne Friedrich Nietzsches gestalteten sie ästhetisch innovative Alltagsgegenstände für moderne „Neue Menschen“.

Dora Wibiral und Dorothea Seeligmüller, © Klassik Stiftung Weimar

Harry Graf Kessler (1903), © Klassik Stiftung Weimar

Harry Graf Kessler (1868-1937)

Als Kosmopolit aus gutem Hause lernte Harry Graf Kessler Elisabeth Förster-Nietzsche 1895 in Naumburg kennen, trat fortan als Berater, Freund und Mäzen des Nietzsche-Archivs auf und beteiligte sich intensiv am avantgardistischen Projekt eines „Neuen Weimar“. Als Direktor des von ihm gegründeten Museums für Kunst und Kunstgewerbe brachte er mit bahnbrechenden Ausstellungen die Moderne nach Weimar und betrieb hier auch seine bibliophile Cranach-Presse. Am 11. Februar 1926 notierte Kessler in seinem Tagebuch: „Nachmittags bei Frau Förster-Nietzsche. Sie platzte mir ins Gesicht, ob ich wüßte von ihrer neuen großen Freundschaft: Mussolini? Ich sagte, allerdings, ich hätte davon gehört und es bedauert; denn Mussolini kompromittiere ihren Bruder. Er sei eine Gefahr für Europa, für das Europa, das gerade ihr Bruder ersehnt habe, das Europa der guten Europäer.“

Oswald Spengler (1880-1936)

Als Protagonist der Konservativen Revolution wandte Oswald Spengler sich gegen den Liberalismus der Weimarer Republik. Trotz seiner deutlichen Kritik an Nietzsche und nur dank der Fürsprache Thomas Manns erhielt Spengler im Dezember 1919 für sein Werk Der Untergang des Abendlandes den vom Großspediteur Christian Lassen gestifteten Preis des Nietzsche-Archivs. Dieser sollte Personen auszeichnen, „die sich für die Erhaltung der geistigen Machtstellung Deutschlands mitverantwortlich fühlen“. In den 1920er Jahren hielt Spengler im Nietzsche-Archiv die Vorträge Blut und Geld (1923), Nietzsche und unsere Zeit (1924) sowie Nietzsche und das 20. Jahrhundert (1927). Nachdem er 1923 in den Vorstand der Stiftung Nietzsche- Archiv gewählt worden war, besuchte er Weimar häufig und beriet Elisabeth Förster-Nietzsche in Finanz- und Verlagsangelegenheiten. Mit dem Buch Jahre der Entscheidung distanzierte er sich 1933 deutlich von Hitler und der als brutal und primitiv kritisierten NSDAP, zeigte sich aber weiterhin begeistert von Mussolini. 1935 trat Spengler aus dem Vorstand der Stiftung Nietzsche- Archiv aus, weil er „die neue Umdeutung der Philosophie Nietzsches“ ablehnte.

Oswald Spengler, um 1930, © bpk-Fotoarchiv

Rudolf Steiner, 1886, © Rudolf Steiner Archiv, Dornach

Rudolf Steiner (1861-1925)

Rudolf Steiner, der geistige Vater der Anthroposophie, wurde 1890 von Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach mit der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes beauftragt. 1894 lernte Steiner Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar kennen und reiste mehrmals zum damals noch in Naumburg befindlichen Nietzsche-Archiv, wo er Manuskripte des Philosophen einsehen durfte und Förster-Nietzsche Philosophieunterricht erteilte. Für das Archiv erstellte Steiner die erste Nietzsche-Bibliografie und ein Verzeichnis der Bibliothek Nietzsches. Eine Festanstellung kam jedoch nicht zustande, zumal Steiner wegen zweifelhafter Editionspraktiken Kritik an Förster-Nietzsche übte. Nachdem sie Archivmitarbeiter intrigant gegeneinander ausspielen wollte, kam es 1900 zum endgültigen Bruch Steiners mit dem Nietzsche-Archiv.

Wilhelm Frick (1877–1946)

Adolf Hitler verhalf Wilhelm Frick, der 1930 das Thüringische Volksbildungs- und Innenministerium übernahm, zum ersten Ministerposten eines NSDAP-Mitglieds in der Weimarer Republik. Im Wissen um Elisabeth Förster-Nietzsches weitläufige gesellschaftliche Kontakte suchte Frick schnell eine freundschaftliche Nähe zum kulturpolitisch bedeutenden Nietzsche-Archiv. 1930 ernannte Frick Paul Schultze-Naumburg zum neuen Direktor der Staatlichen Hochschule für Handwerk und Baukunst in Weimar, woraufhin deren vorherige Ausrichtung auf die Moderne zugunsten einer Förderung „Deutscher Kunst“ zurückgestellt wurde. Werke von Oskar Kokoschka, Paul Klee und Emil Nolde wurden aus der Kunstsammlung im Stadtschloss entfernt. Im April 1931 schied Frick nach einem Misstrauensantrag der SPD aus der Koalitionsregierung in Thüringen aus. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler holte dieser 1933 Frick in sein Kabinett.

Wilhelm Frick, 1938, © bpk-Fotoarchiv

Paul Schultze-Naumburg © bpk-Fotoarchiv

Paul Schultze-Naumburg (1869-1949)

1930 trat der konservativ-reaktionäre Architekt Paul Schultze-Naumburg der NSDAP bei und wurde auf Wilhelm Fricks Initiative hin Direktor der Staatlichen Hochschule für Handwerk und Baukunst in Weimar. Mit einer Entlassungswelle wurde die Abkehr von der Bauhaus-Moderne eingeleitet. Elisabeth Förster-Nietzsche stand dem suspendierten jüdischen Bildhauer Richard Engelmann zur Seite und kritisierte die Personalpolitik des Duos Frick/Schultze-Naumburg. Von 1932 bis 1945 war Schultze-Naumburg Reichstagsabgeordneter und veröffentlichte zahlreiche Bücher, unter anderem Kunst aus Blut und Boden (1934), Rassengebundene Kunst (1934) und Nordische Schönheit (1943). Seine Ehefrau Margarethe ließ sich 1934 von ihm scheiden und heiratete noch im gleichen Jahr Wilhelm Frick. Schultze-Naumburg wurde mit dem Entwurf der monumentalen Nietzsche-Gedächtnishalle beauftragt, die ab 1937 auf dem Nachbargrundstück des Nietzsche-Archivs entstand. Im August 1938 fand das mit Hakenkreuzfahnen umflorte Richtfest statt. Das Kriegsende kam der Einweihung des Memorialgebäudes aber zuvor.

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