
Future Memory
Das Prinzip Freundschaft
Peter Neumann ist der Herzogin Anna Amalia Bibliothek eng verbunden. In seinem Beitrag denkt er über Freundschaft nach – und welche Bedeutung sie für die Bibliothek hat.
Wann immer ich nach Weimar komme, führt mich mein erster Weg zur Bibliothek. Hier habe ich meine Promotion und mein Buch Jena 1800 geschrieben. Hier habe ich ungezählte Stunden im Schein der Tischlampen verbracht und meinen Blick immer wieder nach draußen durch die breite Fensterfront auf den Platz der Demokratie und hinüber zum historischen Gebäude mit dem Rokokosaal schweifen lassen. Und auch wenn ich längere Zeit nicht zu Besuch kam, hatte ich immer das Gefühl, mit dieser Bibliothek und ihren Menschen befreundet zu sein. Die Bibliothek gehört für mich zu der Art von Freunden, bei denen man glaubt, sie schon ewig zu kennen, selbst wenn man erst einen Bruchteil seines Lebens mit ihnen bekannt ist.
Dass ausgerechnet an diesem Ort das Unvorstellbare passierte, konnte ich mir lange Zeit nicht ausmalen. Bücher können nicht brennen. Man liebt oder man hasst sie. Man schreibt oder verwirft sie. Man sammelt oder verschenkt sie. Alles andere ist Barbarei. Der 2. September 2004, an dem das Unglück geschah, war aber nicht nur ein Tag des Verlustes. Von Büchern, Tradition, Kultur. Es war auch der Tag, an dem sich noch in der Brandnacht Hunderte von Freiwilligen auf dem Platz vor der Bibliothek einfanden, um Menschenketten zu bilden und Bücher zu retten. Es war ihnen nicht egal, es waren nicht bloß Bücher, die da in Gefahr waren.
Auch danach setzte eine weltweite Solidarität ein, Spenden kamen, Medien berichteten, Besucherbücher wurden vollgeschrieben. Bei aller Tragik zeigte der Brand, wie groß die emotionale Bindung an die Bibliothek, ihre Bestände und ihre Geschichte ist. Die unermüdliche Unterstützung der Menschen vor Ort und in der Ferne war ein Zeichen der Freundschaft mit der Bibliothek. Ein Bekenntnis zur Zukunft der ersten öffentlichen Fürstenbibliothek, das man sich im Moment der Katastrophe nicht trauriger und nicht schöner hätte vorstellen können. Und eigentlich war in jener Brandnacht auch gar nicht klar, wer hier der Freund in der Not war. Die helfenden Menschen unten auf dem Platz oder die Bibliothek, an die sich alle klammerten.
Die Freundschaft hat eine lange Tradition in der Kulturgeschichte Weimar. Es waren gerade die aufgeklärten Zirkel am Weimarer Hof und die geselligen Kreise der Frühromantiker in Jena, die eine neue Form der Gemeinschaftlichkeit prägten: Gesellig ungesellig sollte es bei ihren Treffen zugehen, nicht zu bequem, immer im Streit um die besten Ideen. Ich sehe Schiller, Goethe und die beiden Humboldt-Brüder vor Augen, wie sie draußen unter der Pergola in Schillers Jenaer Garten sitzen und über neue Gedichte oder Goethes Metamorphosenlehre diskutieren. Ich sehe den Salon der Johanna Schopenhauer an der Esplanade in Weimar vor mir, Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Bettina von Arnim kommen zu Besuch, gleich zweimal in der Woche lädt man zum Tee. Und natürlich ist da die Leutragasse 5 in Jena, unten Dorothea Veit, eine Treppe darüber Caroline Schlegel, dann Wilhelm Schlegel, und Friedrich Schlegel ganz oben unterm Dach. Ein ewiges Konzert von Witz und Poesie, Kunst und Wissenschaft.
Das Utopische an dieser Geselligkeit war, dass sie auf der einen Seite soziale Verbindungen schuf und auf der anderen individuelle Selbstständigkeit ermöglichte. In der romantischen Freundschaft war Aufklärung, Geheimnis, Liebe – und vor allem Spiel. Sie war eine ständige Übersetzung zwischen den Entgegengesetzten, die zu Partnern, aber nie zu Abhängigen wurden. Und noch im Staatlichen Bauhaus findet sich diese Jena-Weimarer Freundschaft wieder: Schließlich verbarg sich im neuen modularen Bauen mit seinen schlichten, schnörkellosen Formen nicht nur die Idee eines gerechteren Wohnens. Auch Frauen und Männer sollten am Bauhaus gemeinsam und nahezu gleichberechtigt an der gestalterischen Entwicklung arbeiten.
Auch in der Bibliothek lässt sich die Spur der Freundschaft verfolgen. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek besitzt heute die weltweit größte Sammlung an Stammbüchern aus der Zeit von 1550 bis 1950 – also vom Beginn der Neuzeit bis in unsere unmittelbare Gegenwart. Stammbücher sind vereinfacht gesagt Poesiealben, Freundschaftsbücher sozusagen. In ihnen können sich Freunde, Verwandte und Bekannte mit Sprüchen, literarischen Zitaten, Skizzen und kleinen Kunstwerken verewigen. Oft sind sie sogar mit Schleifenbändern, mit Wappen oder anderen Insignien ihres Besitzers versehen. Sie sind ein Stück Mentalitätsgeschichte, aus dem Beiläufigen, beinahe Rohem, weil geradezu Ungeschütztem geschöpft, dem witzigen Einfall.
Und so ist die Bibliothek nicht nur immer schon ein Ort der Freundschaft gewesen. Sondern Freundschaft ist eigentlich das, was entsteht, wenn eine Übersetzung gelingt. Wenn einander Fremdes zusammenkommt, und die Sprache, die vermittelnde Übertragung, glückt. Das gilt nicht nur für die literarische Übersetzung von Romanen, Gedichten und Essays, sondern auch für die Übersetzung als kulturelle Praxis. Als Übertragung der einen Codes in die anderen, Verständnis zwischen den Kulturen. Sie stiftet eine Verbindung zwischen Texten und Menschen, bei der zugleich etwas Drittes, Eigenes entsteht. In diesem gelösten Sprechen, Bedenken, Vertrauen und Sichoffenbaren liegt die Geburtsstunde der liberalen Öffentlichkeit.
Diese Übersetzungen sind heute wichtiger denn je. Denn in der Öffentlichkeit sind Zentrifugalkräfte am Werk, die nicht auf das Prinzip Freundschaft, sondern auf das Prinzip Feindschaft setzen. Wie Jürgen Habermas in seinem jüngsten Buch Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit schreibt, haben wir es heute auf digitalen Plattformen wie Instagram, X (vormals Twitter) oder Facebook mit einer diskursiven Entgrenzung zu tun. Die Auflösung der Türsteherrolle von Leitmedien, Verlagen, Redaktionen und Lektoraten hat einerseits ein emanzipatorisches Potenzial, bringt auf der anderen Seite jedoch laut Habermas auch eine große Gefahr mit sich: Sie befeuert die zentrifugalen Kräfte einer Gesellschaft und führt im schlimmsten Fall zu einer Zersplitterung, zur Erodierung ihrer demokratischen Öffentlichkeit. Heute, so Habermas, bestimmten immer häufiger Filterblasen und Netzwerk-Communities das diskursive Geschäft, in denen sich der Unterschied zwischen dem, was privat und öffentlich ist, auflöse – und damit eben auch der gemeinschaftliche „inklusive Sinn von Öffentlichkeit“.

Ort der Zusammenkunft: Heute ist die Herzogin Anna Amalia Bibliothek nicht nur Archiv- und Forschungseinrichtung, sondern auch Lesesaal, Co-Working-Space, Galerie und Veranstaltungsort
Es geht also wieder um Freundschaftsdienste. Und ich denke, dass die Bibliothek als geschützter und zugleich halb öffentlicher Raum, als Ort der Zusammenkunft ein Korrektiv in einem Klima zunehmender sozialer Aggressionen sein kann. Freundschaft ermöglicht es, neu über die Bibliothek als „Heterotopie“ nachzudenken, wie es der französische Meisterdenker Michel Foucault einmal nannte. Als Gegenwelt. Als Ort, der Öffentlichkeit repräsentiert und zugleich kritisch über sie nachdenkt. Und tatsächlich dachte Foucault, als er das Konzept entwarf, nicht nur an Gärten, Museen, Kinos, sondern auch an den Wissensraum Bibliothek.
Die Zeit, in der eine Bibliothek eine Bibliotheca illustris war, eine Fürstenbibliothek, ein Ort für ausgewählte Gelehrte, ist vorbei. Die Bibliothek ist ein sozialer Ort, der seine Sammlungen für die Öffentlichkeit digital zugänglich macht, in den universitären Lehr- und Forschungsbetrieb einbindet und über den Tag hinaus auf ihre Erinnerungen hin befragt. Sie ist ein Ort der kulturellen Selbstbefragung. Für Freunde. Freunde von Freunden. Bekannte von Freunden. Aber vor allem auch für Noch-nicht-Freunde. So wie jedes Buch in einer Bibliothek von anderen Büchern umgeben ist, wird Freundschaft stets von anderen Freundschaften begleitet. Und wahrscheinlich sollte man den Bücherkubus eher als Bücherwirbel bezeichnen, wenn man bedenkt, wie viel Strömen und Toben hier an einem einzigen Ort zusammenkommt.
Momente der Katastrophe erzeugen nach außen hin Handlungsdruck. Sie stellen neue Konstellationen her, schichten Zukünfte auf. Und so trat nach dem Brand von 2004 auch ein neues Profil der Bibliothek hervor: nicht nur als Archiv- und Forschungsbibliothek, sondern auch als Lesungsort, Galerie oder einfach nur Zeitungslesesaal. Freundschaft bewährt sich in Handlungen, im Sichöffnen. Bibliotheken sind nicht nur Rückzugsräume, sondern auch Werkstätten des Geistes. In ihnen entsteht, was Walter Benjamin einmal auf die paradoxe Formel der „Erinnerung des Neuen“ brachte. Das zeigt sich auch in der Werkstatt in Weimar-Legefeld, in der inzwischen ein neuartiges Nanocellulose-Verfahren entwickelt wurde, mit dem sich viele Aschebücher stabilisieren und wieder lesbar machen lassen. Und wenn durch die digitale Sammlung von Zeitzeugenberichten schon bald ein umfassendes Panorama der Brandnacht entsteht, von Stimmen, Bildern und aufgefundenen Papierfragmenten, wird auch das Gedächtnis der Öffentlichkeit auf einmal Teil der Bibliothek sein – und umgekehrt: Auch die Erinnerung der Bibliothek wird draußen in der Öffentlichkeit sein. So entsteht Vertrauen. Emotionale Bindung. Freundschaft, mit etwas Glück. Und die Gelegenheit zum echten Streit.
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