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Das Online-Werkverzeichnis Henry van de Velde
Henry van de Velde (1863–1957) war einer der innovativsten und vielseitigsten Gestalter seiner Zeit. Er entwarf stillvolle und funktionale Gebrauchsgegenstände aus Metall, Textil, Keramik und Holz. Zudem war der Belgier als Maler, Architekt, Theoretiker und Typograf tätig. Berühmt sind vor allem seine dem Jugendstil verpflichteten Arbeiten bis 1914. Aber sein kunstgewerbliches Schaffen reicht weit darüber hinaus – wie das just von der Klassik Stiftung Weimar veröffentlichte Online-Werkverzeichnis eindrucksvoll beweist.
Erste Aufarbeitung der kunstgewerblichen Arbeiten
Über Jahrzehnte existierte eine Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die Henry van de Veldes Werken beigemessen wird, und dem Forschungsstand. Sein umfangreiches Œuvre war zunächst nur in den Bereichen der frühen Möbel (Wolf D. Pecher 1981) und Architektur (Léon Ploegarts/Pierre Puttemans 1987), später noch auf den Gebieten Buchkunst (John Dieter Brinks 2007) sowie Malerei und Grafik (Xavier Tricot 2021) aufgearbeitet worden.
Um diese Forschungslücke zu schließen und einen Teil der eigenen Sammlung und Geschichte aufzuarbeiten, erforschte die Klassik Stiftung Weimar seit 2001 die kunstgewerblichen Arbeiten des belgischen Künstlers. Möglich war dies durch die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen.
Von 1902 bis 1917 wohnte und arbeitete Henry van Velde in Weimar – als Berater des Großherzogs für die künstlerische Förderung von Kunsthandwerk und Industrie sowie ab 1908 als Leiter der von ihm gegründeten Kunstgewerbeschule. Zudem erbaute er mehrere Gebäude in der Stadt an der Ilm. Das von ihm umgestaltete Nietzsche-Archiv und sein von ihm errichtetes Wohnhaus „Hohe Pappeln“ befinden sich wie auch viele seiner Werke im Besitz der Klassik Stiftung Weimar. Für das Werkverzeichnis wurden selbstverständlich nicht nur die Werke aus den hiesigen Sammlungen, sondern möglichst alle Werke in öffentlichem und privatem Besitz recherchiert, erfasst und erforscht. Eine Zuschreibung erfolgte dabei zumeist nicht alleine aufgrund stilistischer Kriterien, sondern belegt durch Quellen wie Rechnungen und historische Fotografien. Die Forschungsergebnisse wurden in drei von Thomas Föhl und Antje Neumann herausgegebenen Bänden veröffentlicht: 2009 Band I mit Metallarbeiten wie Schmuck, Bestecke und Beleuchtungskörper, 2014 Band II mit den textilen Arbeiten wie Kleider, Fächer und Teppiche sowie 2016 Band III mit Keramiken wie Krüge, Service und Vasen.
Fortsetzung als Online-Werkverzeichnis
Seit 2022 erfolgt dank der Förderung durch die Karin und Uwe Hollweg Stiftung und die Henry van de Velde Family Foundation die Recherche, Erfassung und Erforschung der Möbel. Als Kooperationspartner konnten die École nationale supérieure des arts visuels de La Cambre mit dem Fonds Henry van de Velde ASBL, die Archives et Musées de la Littérature, die Königliche Bibliothek Belgiens (KBR), die Universitätsbibliothek Gent sowie das Museum für Gestaltung Zürich gewonnen werden. Die genannten Institutionen besitzen große Teile des schriftlichen, grafischen und fotografischen Nachlasses.
Mit der Fortsetzung des Projekts wurde zudem eine zeitgemäße Publikationsform gewählt: Das Werkverzeichnis ist seit August 2025 kostenfrei online zugänglich – in Deutsch und Englisch. Aktuell sind 1.657 Entwürfe – darunter zusätzlich zu den Katalogeinträgen der ersten drei Bände erstmals 368 Möbelmodelle – umfassend dokumentiert. Zudem enthält das Online-Werkverzeichnis vier umfangreiche Verzeichnisse mit Informationen über Personen, Institutionen, Aufträge und Ausstellungen. Diese geben tiefergehende Informationen über den Kontext, in dem die Werke entstanden sind und gewähren zudem einen Einblick in das europäische Netzwerk des Künstlers mit engen Beziehungen zu Kunstschaffenden, Kundschaft und Unternehmen.
Die Möbelmodelle Henry van de Veldes
368 Modelle von Sitz- und Ruhemöbeln sowie Korbmöbeln werden im Online-Werkverzeichnis erstmals publiziert. In den kommenden Jahren werden weitere 700 Möbelmodelle wie Tische, Schränke und Regale ergänzt. Alle Möbel wurden von Henry van de Velde bis ins kleinste Detail gestaltet – stets elegant und funktional. Die ausführenden Unternehmen hatten teilweise sogar Mühe den hohen Ansprüchen des Künstlers gerecht zu werden. Deutlicher noch als bei den bisher erforschten Gattungen – Metall, Textil, Keramik – und wie sonst nur bei der Architektur, lässt sich bei den Möbeln die Entwicklung Henry van de Veldes vom ornamentalen Jugendstil zu einem einfacheren und sachlicheren Design nachvollziehen.
Die bei den Kooperationspartnern und der Klassik Stiftung Weimar gesichteten Zeichnungen sowie historische Aufnahmen und Verkaufskataloge enthalten nicht nur Informationen über noch existierende Stücke, sondern auch zu Arbeiten, die sich nicht mehr erhalten haben oder nicht auffindbar sind. Viele Dokumente wurden für das Werkverzeichnis nicht nur ausgewertet, sondern werden erstmals online veröffentlicht.
Bisher kaum im Fokus waren die von Henry van de Velde entworfenen Korbmöbel. Online werden nun erstmals 24 Modelle publiziert, die von den Werkstätten von Ernst Schmiedeknecht in Tannroda ausgeführt und von August Bosse in Weimar vertrieben wurden. Die Rechnungsbücher des Weimarer Unternehmens – die auch online einsehbar sind – lassen eine genaue Zuschreibung zu, so wie bei diesem dreibeinigen Korbtisch, der unter anderem in der Weimarer Wohnung von Harry Graf Kessler stand, die Henry van de Velde wie schon zuvor die Berliner Wohnung seines Freundes ausstattete.
Der Schwerpunkt der im August 2025 publizierten Modelle liegt auf den Sitz- und Ruhemöbeln. Im Laufe seiner jahrzehntlangen Schaffenszeit entwarf Henry van de Velde hunderte Stühle, Sessel und Liegemöbel. Der ‚Nietzsche‘-Stuhl von 1902 ist einer der bekanntesten Entwürfe des Künstlers und wurde an mehrere Kunden geliefert, unter anderem an Harry Graf Kessler und den Bildhauer Richard Engelmann. Die Bezeichnung ‚Nietzsche‘-Stuhl verweist auf den ersten und größten Auftrag: Über zwanzig Exemplare des Sitzmöbels wurden für das Nietzsche-Archiv in Weimar produziert. Die Umgestaltung und Ausstattung der öffentlichen Räume in der Beletage der „Villa Silberblick“ für Elisabeth Förster-Nietzsche war 1902 der erste große Auftrag des Belgiers in Weimar.
Ein herausragendes Beispiel aus dem Spätwerk des Künstlers ist der Bau und die Ausstattung der Bibliothek für Kunstgeschichte und Archäologie der Universität Gent. Zwar wurde von Frühjahr 1936 bis Sommer 1937 der Turm errichtet und Ende 1938 war auch die zweite Phase mit Anbauten abgeschlossen, aber die Innenausstattung wurde kriegsbedingt niemals vollständig ausgeführt. Die Architektur und auch die entworfenen Möbel – darunter die heute noch vorhandenen Stühle – geben dennoch eindrucksvoll Zeugnis ab über Henry van de Veldes spätes Schaffen, das kaum noch an seine Jugendstil-Arbeiten erinnert.
Suchen und Finden – oder einfach Entdecken
Die Katalogeinträge des Online-Werkverzeichnisses lassen sich mit einer Freitextsuche oder über eine Auswahl der Bände, Kapitel und Materialien erforschen sowie mit einem Zeitstrahl zeitlich einschränken. Die detaillierten Katalogeinträge enthalten jeweils alle bekannten Informationen: Titel, Werkverzeichnisnummer, Maße, Materialien, Hersteller, Provenienz, Aufträge, Dokumentation und Bemerkungen sowie zumeist mehrere Abbildungen. Weitergehende Informationen sind in den Verzeichnissen über Personen, Körperschaften, Aufträge und Ausstellungen zu finden. Zusätzlich enthalten sind Aufsätze und Quellenmaterial zu den Möbeln sowie ein Marken-, Literatur- und Abkürzungsverzeichnis.
Wer nicht nach einem speziellen Eintrag sucht, sondern das umfangreiche und vielfältige Œuvre von Henry van de Velde ‚per Zufall‘ entdecken möchte, findet auf der „Entdecken“-Seite eine randomisierte Galerie der gesamten Katalogeinträge.
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