Wie Philemon und Baucis den Widerstand entdecken oder die Hütte als Protestarchitektur

„Die beiden Alten sollen weichen“

Art: Artikel Autor: Petra Ahne
20.03.2025 6

Goethe hat Philemon und Baucis zurück in die Hütte geschickt. In Ovids Metamorphosen, denen sie entstammen, wird ihre bescheidene Unterkunft in einen Tempel verwandelt – eine göttliche Geste der Anerkennung. Jupiter und Merkur hatten inkognito an Türen geklopft, und niemand außer dem Ehepaar besaß den Anstand, sie einzulassen und zu bewirten. Die Strafe erfolgte nach Götterart, die Stadt versank. Nur Philemon, Baucis und ihr Haus blieben verschont, ob sie einen Tempel bevorzugten, wurden sie nicht gefragt: Dass sie ihre mit Gras und Schilf gedeckte Hütte bereitwillig gegen etwas Edleres eintauschen würden, wurde vorausgesetzt.

Goethe verlegt die Hütte aus dem antiken Phrygien in den Wirkungskreis eines gealterten Faust, der zum frühindustriellen Großprojektierer geworden ist. Er orchestriert ein gigantisches Landgewinnungsprojekt, dessen Dimension man an der Reaktion des Wanderers erkennt, der Philemon und Baucis, die ihn viele Jahre zuvor an der nahe gelegenen Küste vor dem Ertrinken gerettet hat, einen Überraschungsbesuch abstattet. „Bleibst du stumm? Und keinen Bissen bringst du zum verlechzten Mund?“, fragt ihn Baucis beim Essen. Der Gast hatte das Meer betrachten wollen, trat nach draußen, da verging ihm der Appetit: Es war weg, nur noch weit hinten zu sehen, dazwischen: „dichtgedrängt bewohnter Raum“ und „Wies’ an Wiese, Anger, Garten, Dorf und Wald“. Weiterhin Dämme, Buhnen, ein Kanal. Faust hat sein früher im Stück beschriebenes Vorhaben, „das herrische Meer vom Ufer auszuschließen“ und ein „paradiesisch Land“ zu schaffen, eindrucksvoll umgesetzt.

Natur als Verfügungsmasse und Produktionsfaktor, ihre Beherrschung und Umgestaltung als fragloses Ziel – Fausts Ermächtigungsfantasien enthalten schon alle Bestandteile eines Fortschrittsglaubens, der eines nicht bedacht hat: Nach Belieben in den Planeten einzugreifen birgt Gefahren auch für die Spezies, die ihn sich so erfindungsreich zunutze zu machen weiß.

In Fausts Wüten über den im Zuge der Entwässerung entstandenen Sumpf, der „alles schon Errungene“ „verpestet“ kann man vielleicht ein Unbehagen Goethes an der Idee totaler Naturbeherrschung hineinlesen, für deren Umsetzung in seinem letzten Lebensabschnitt allmählich die technischen Mittel zur Verfügung standen. Er kannte und studierte die großen Ingenieursleistungen des frühen 19. Jahrhunderts wie den fast 600 Kilometer langen Eriekanal in den USA.

Für seinen Faust sind Hütte und Garten von Philemon und Baucis der lästige Rest einer Subsistenzwirtschaft, die es in der neuen Zeit weltweiter Warenströme nicht mehr geben wird. Auch die ist schon angebrochen, ein „prächtiger Kahn“ komme auf dem Kanal an, heißt es in einer Regieanweisung, „reich und bunt beladen mit Erzeugnissen fremder Weltgegenden“. Philemon und Baucis kommentieren die Veränderungen vor ihrer Haustür als kritische Beobachter. Während Philemon durchaus fasziniert ist von der Bauleistung, steht Baucis’ Urteil fest: „gottlos“ sei dieser Faust. Wahrscheinlich ist es ihre Entscheidung, dass man auf dessen Aufforderung, Hütte und Hain gegen ein Haus auf dem neu gewonnen Landstrich zu tauschen, nicht eingehen wird. Schon dass er von ihnen erwartet, „unterthänig“ zu sein, ärgert sie. Das bei Ovid so devote Paar, das für die Götter sogar ihr einziges Nutztier, eine Gans, schlachten will, erweist sich nun als renitent.

Faust wiederum nerven „das Widerstehn, der Eigensinn“ ihrer Bewohner. Sie sind der Fleck auf seiner Landkarte einer durchrationalisierten Agrarlandschaft, der Störfaktor in seinem Allmachtsstreben. „Die braune Baute“ wird ihm zunehmend zur Obsession, um deren Lächerlichkeit er weiß: „Und wie ich’s sage, schäm’ ich mich. Die Alten droben sollen weichen.“ Der Ort einer vormodernen bäuerlichen Existenz soll zu dem einer individualistischen Selbstbespiegelung werden: Anstelle des Häuschens plant Faust einen Aussichtspunkt, um sein Werk zu betrachten.

Doch das Paar kooperiert nicht. So wird die bescheidene Behausung zu einem Ort der Verweigerung. Das potenziell Widerständige ist der Hütte, dem kleinsten, meist etwas abseitsstehenden Haus immer schon eingeschrieben. Hier wohnt, wer zu arm ist für mehr, doch wer es freiwillig tut, macht sich verdächtig: Mit Besitz renommieren, sich in die dörfliche Gemeinschaft einfügen, daraus macht sich der Hüttenbewohner offenbar nichts. Dem ist anderes wichtig, womöglich etwas, das nicht gemeinschaftstauglich ist. Hexen wurden in Hütten vermutet, Eigenbrötler wie Heidis Großvater zogen sich dorthin zurück.

Gerade weil die Hütte so klein ist, sticht sie hervor. Als Verweis auf das einfache Leben, das sie versinnbildlicht, kann sie zur Provokation werden oder, in neuerer Zeit, auch zum Versprechen: auf ein Leben, das den Ballast des Alltags ablegt, sich auf die wichtigen Dinge konzentriert. Das Hüttensehnsuchts-Coffeetable-Buch ist zum eigenen Genre geworden.

Auch die Hütte von Philemon und Baucis steht heute wieder. Sie scheint auf in den provisorischen Behausungen von Aktivisten, die sich ökologisch oft ebenfalls fragwürdigen Unternehmungen entgegenstellen, Projekte ganz im Geist der Faustschen Umgestaltungspläne: Boden wird auf- und Häuser werden abgerissen, es wird gegraben, gebohrt, gerodet, extrahiert. In Lützerath und im Hambacher Forst geht es gegen den Braunkohleabbau, im Dannenröder Forst gegen den Ausbau einer Autobahn, im Brandenburger Grünheide gegen die Erweiterung der E-Auto-Fabrik eines anderen selbst ernannten Weltgestalters namens Elon Musk.

Während das Haus des alten Paars in Goethes Stück eine Bedeutungsverschiebung vollzieht, von der beschaulichen Bleibe zum Ausdruck leisen Aufbegehrens, gibt es die Bretterbuden der Protestcamps überhaupt nur, um den Widerstand effektiver zu machen. Es sind Hütten in ihrer ursprünglichsten Form, gezimmert, weil der Mensch manchmal einen Raum braucht, der ihn trennt von der Welt, und sei es, um im Schlaf Kraft zu sammeln für den nächsten Protest. Optisch zwischen Unterschlupf und Haus lassen manche Exemplare an die Urhütte denken, an der der Autor Marc-Antoine Laugier im 18. Jahrhundert den Übergang von der Behausung zur Architektur erklären wollte – Überlegungen, die der junge Johann Wolfgang von Goethe übrigens lebhaft kommentierte –, vor allem, wenn es sich um Baumhäuser handelt. Das ist in den Protestcamps oft der Fall. Ein Baum, auf dem ein Mensch sitzt, kann nicht so leicht gefällt werden. Außerdem erschwert es das Entfernen von Aktivisten, wenn sie sich mit Abstand vom Boden häuslich eingerichtet haben: Ab einer Höhe von 2,5 Metern müssen Spezialkräfte der Polizei hinzugezogen werden.

Als seien sie Teil der Bäume, schmiegen sich die krummen Konstruktionen in die Kronen. Man betrachtet die Fotos und merkt, dass sie, wie oft bei Hütten, widerstreitende Gefühle wecken. Zugig und kalt, denkt man. Bar jeden Komforts und hygienischer Mindeststandards. Wie man so hausen kann. Und für eine Sache, die doch nicht zu gewinnen ist. Vielleicht denkt man aber auch: einmal so wohnen. Fast eins mit dem Baum, mit der Natur. Merken, wie wenig man eigentlich braucht. Das wäre mal was.

Baumhäuser, auch die im Dienst des Widerstands, bedienen durch die Nähe zu dem großen anderen, dem pflanzlichen Lebewesen eine besonders romantische Hüttenfantasie. In seinem Roman Die Wurzeln des Lebens beschreibt Richard Powers die von Aktivisten erspürte Symbiose mit dem von ihnen bewohnten Baum so eindringlich, dass manche Leser umgehend einen kalifornischen Mammutbaum beziehen wollten. Am Ende siegt die Säge.

Auch das stille Beharren von Philemon und Baucis endet gewaltsam. Mephisto, von jeher ein unzuverlässiger Partner, erfüllt Fausts Auftrag, die beiden in das vorgesehene neue Zuhause zu schaffen, auf seine Weise. Sie hätten sich geweigert, ihm die Tür zu öffnen, berichtet er am nächsten Tag, dann hätten sich die Dinge chaotisch entwickelt: Handgreiflichkeiten, das Haus in Flammen, Philemon, Baucis und der Wanderer schließlich: tot. Aus dem ruhigen Beharren des Ehepaars ist Widerstand geworden. Vergebens, doch nicht ganz ohne Wirkung. Die Lust auf seinen Aussichtspunkt scheint Faust vergangen zu sein.

»Wo die Flämmchen nächtig schwärmten
Stand ein Damm den andern Tag.
Menschenopfer mußten bluten,
Nachts erscholl des Jammers Quaal,
Meerab floßen Feuergluten;
Morgens war es ein Canal.
Gottlos ist er, ihn gelüstet
Unsre Hütte, unser Hayn;
Wie er sich als Nachbar brüstet
Soll man unterthänig seyn.«

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