
#ihregeschichte
Die Buchbinderhexe von Weimar
Marie Kämmerer sei auf einem Bock geflogen und hätte Besuch von einem Drachen aus Oberweimar bekommen. Die Unterlagen des letzten Weimarer Hexenprozesses 1680 liegen heute in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Sie zeigen, wie lebensbedrohlich Aberglaube und niedrige Instinkte sein konnten .
Als Marie Kämmerer kurz vor Weihnachten des Jahres 1680 unter einem geschäftlichen Vorwand zum fürstlichen Amtsgericht bestellt wurde, ahnte sie vermutlich nicht, was ihr in den kommenden Monaten bevorstehen würde.
An jenem Wintertag wurde die Frau des Weimarer Buchbinders Abraham Kämmerer unmittelbar nach ihrem Eintreffen im Amtsgericht in der sogenannten Trompeterstube inhaftiert. Der Eingang zur Stube hat sich im Historischen Gebäude der Herzogin Anna Amalia Bibliothek erhalten. Die Stube selbst gibt es nicht mehr. Sie befand sich in dem heute nur noch von Bildern bekannten Turm des ursprünglich sogenannten Grünen Schlosses. Sie diente nun also als Gefängnis für Marie Kämmerer, gegen die der letzte Weimarer Hexenprozess eröffnet werden sollte. Wie konnte es dazu kommen?

Das Grüne Schloss mit Trompeterstube im Turm, Detail eines Porträtgemäldes der Herzogin Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar, gemalt von Christoph Leutloff, 1575.
Dreißig Jahre zuvor war der Buchbinder Abraham Kämmerer nach Weimar gezogen und hatte es bald zu einigem Wohlstand gebracht. Dazu trugen auch die von ihm verlegten Kalender bei, die seine Frau in großer Zahl (belegt sind bis zu 8.000 Exemplare jährlich) auf den Märkten in Weimar, Jena und Apolda verkaufte. Zum Besitz der Familie zählten mehrere Häuser, ein Stadtgarten und einige Feldgrundstücke. Dieser Umstand löste bei vielen Mitbürgern offenbar Neid und Missgunst aus, was noch durch die Neigung Abraham Kämmerers, mit seinem Vermögen zu prahlen, begünstigt wurde. Besuchern zeigte er zum Beispiel gerne seine Reichtümer in Gestalt von goldenen Ketten, Schaumünzen und anderen wertvollen Gegenständen. Bald raunte man sich gegenseitig ins Ohr, es könne bei den Kämmerers nicht mit rechten Dingen zugehen.
Der Argwohn schwelte einige Zeit unter der Oberfläche, bis schließlich ein Vorfall zur Eskalation der Ereignisse führte:
Der Buchbinder hatte den Sohn des Hofschneiders Buckel in die Lehre genommen, ihn aber bald wieder entlassen. Daraufhin setzte Hans Melchior Buckel seine Lehre in Jena fort, wo er jedoch Heimweh bekam und davonlief. Seine Mutter setzte daraufhin das Gerücht in die Welt, der Junge sei von der Frau des Buchbinders verhext worden, damit er seine Ausbildung nicht beenden könne. Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Stadt und schon bald standen weitere Anschuldigungen im Raum, die in den heute noch im Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek erhaltenen Prozessunterlagen nachzulesen sind.
Georg Lederer (Landrichter) gab zu Protokoll, von der Magd der Buchbinderfamilie gehört zu haben, dass Marie Kämmerer immer gewusst hätte, wo sich ihr Mann gerade befindet. Damit unterstellte er ihr seherische Fähigkeiten.
Martin Heitsch (Lakai des Prinzen, zeitweise wohnhaft im Haus der Kämmerers) berichtete, wie er von einer öffentlichen Hexenverbrennung am Erfurter Tor zurück kam und auf dem Rückweg die Frau des Buchbinders traf. Er erklärte, dass sie ihn seinerzeit im Scherz gefragt hätte, ob die Hingerichtete sie auch als Hexe beschuldigt habe. Und obwohl er auch im Haus der Familie nichts Verdächtiges festgestellt habe, wurde Frau Kämmerer später zu diesem Fall ausführlich vernommen.
Während Abraham Kämmerer mit allen Mitteln vergeblich versuchte, seine Frau auf freien Fuß zu bringen, wurde sie im Januar 1681 vier Tage lang verhört und musste dabei 180 quälende Fragen beantworten. So sollte sie dem Gericht beispielsweise erklären, wie sie es geschafft habe, durch ein Mauseloch in die Stube des Hofbuchdruckers Müller zu gelangen. Müller hatte zwar längst erklärt, den Vorfall nur geträumt zu haben, konnte damit aber nicht zur Entkräftung der Geschichte beitragen.
Die überlieferten Prozessunterlagen zeigen an vielen Stellen, wie sich alltägliche Vorkommnisse, Aberglaube und niedrige Instinkte zu einer lebensgefährlichen Mischung vereinten. Weitere Aussagen belegen dies anschaulich:
Michel Zelke (Bortenwirker und Nachbar) erinnerte sich daran, dass sein Ziegenbock verschwunden war und erst nach vier Tagen zitternd und abgemagert wieder auftauchte. Daraus wurde seitens des Gerichts umgehend die Beschuldigung abgeleitet, dass die Frau des Buchbinders auf dem Bock geflogen sei. Die auf einem Ziegenbock reitende Hexe ist ein altes Symbol, dass in zahlreichen künstlerischen Darstellungen aufgriffen wurde.
Michael Zunkel (Schlosskapitän) sagte aus, dass er mit mehreren Soldaten vor 17 Jahren nachts am roten Schloss Wache gestanden habe und dabei etliche Male einen Drachen von Oberweimar aus kommend beobachtet hätte, wie er in Richtung des Hauses der Kämmerers am Markt geflogen sei. Die Aussage wog schwer, da der Drache im europäischen Aberglauben das Böse selbst verkörperte.
In diesem Kontext gewinnt die Protokollnotiz von Hans Melchior Buckel (gescheiterter Buchbinderlehrling, nunmehr Tuchmacher) und verschiedene Mägde an Gewicht. Sie glaubten, den Drachen in einem Stück glühender Kohle erkannt zu haben, das funkensprühend vor dem Haus der Buchbinderfamilie lag.
In weiteren Verhören wurden insgesamt 15 Zeugen vernommen, darunter die elfjährige Tochter der Kämmerers und einige ihrer Spielgefährtinnen. Aus den Protokollen geht hervor, dass die Tochter mit zitternder Stimme 26 Fragen beantworten musste und dass sie unter großen Ängsten in Tränen ausbrach als ihre Spielgefährtinnen anschließend in allen Punkten das Gegenteil behaupteten.

Titelblatt eines von Abraham Kämmerer verlegten Kalenders aus dem Jahr 1681. Signatur: ZA 763-1.
Der Verteidiger Marie Kämmerers konnte schließlich erwirken, dass die Akten zur Urteilsfindung nicht an das Gericht in Jena, sondern nach Halle geschickt wurden. Die Verhandlung an einem Gericht außerhalb des eigenen Fürstentums erhöhte damals die Chancen für einen Freispruch. In Halle erging das Urteil, Marie Kämmerer „in Ermangelung kräftigerer Indizien“ freizusprechen. So kam sie nach einer Haftzeit von fünfeinhalb Monaten auf freien Fuß, musste allerdings die Kosten des Verfahrens tragen, die sich auf rund 68 Reichstaler summierten.
Da sich zahlreiche Bewohner der Stadt an der Denunzierung der Frau des Buchbinders beteiligt hatten, ist wohl davon auszugehen, dass die Gerüchte mit dem Freispruch keineswegs aus der Welt waren und die Familie es auch in der Zeit danach nicht leicht hatte. Schon ein Jahr nach dem Prozess hatte die Stadt jedenfalls einen neuen Buchbinder und die Kämmerers verschwanden im Dunkel der Geschichte.

Protokollseite der Prozessakte Maria Kämmerer, Detail aus dem Verhör der elfjährigen Tochter des Buchbinders. Signatur: Fol. 59a.
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