Stempel: Bücherei des Institutes für Sozialforschung Frankfurt a. M.

Die Bücher aus der „Marxburg“

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06.12.2024 4

Im Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek wurden sieben Bücher iden­ti­fi­ziert, die bis 1933 zur „Bücherei des Institutes für Sozialforschung Frankfurt a. M.“ gehörten. Das von den Nationalsozialisten zwangsaufgelöste Institut wurde im Exil weitergeführt und kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg an seinen Gründungsort zurück. Rüdiger Haufe über die Geschichte des Instituts und die Rückkehr der Bücher nach Frankfurt im Dezember 2024.

Am 22. Juni 1924 wurde in Frankfurt am Main ein Neubau für das im Jahr zuvor ge­grün­de­te Institut für Sozialforschung (IfS) eingeweiht. Zu diesem Anlass hielt Carl Grünberg (1861–1940), der erste Direktor des IfS und Inhaber des Lehrstuhls für wirt­schaft­li­che Staatswissenschaften an der Universität Frankfurt, eine pro­gram­ma­ti­sche Rede. Darin bestimmte er die Aufgaben des Instituts: „Ausgerüstet mit der mar­xis­ti­schen Forschungsmethode“ sollten sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter der „Erforschung und Darstellung der sozialen, der Arbeiterbewegungen in allen ihren politischen, gewerkschaftlichen und sonstigen Erscheinungsformen, aber auch der im Gegensatz zu ihnen erwachsenen Bewegungen“ widmen und sich darüber hinaus mit „grundlegenden sozialpolitischen Fragen“ und „sozialen Theorien“ befassen.

Der Architekt des Neubaus Franz Roeckle (1879–1953) hatte ein kubisches Gebäude mit flachen Dächern entworfen. Die Fassade bestand aus bossierten Natursteinen. Diese Gestaltung verlieh dem Bau den Charakter einer Festung. Aufgrund seiner monumentalen äußeren Anmutung und der inhaltlichen Ausrichtung des IfS erhielt er bald nach der Eröffnung den Beinamen „Marxburg“.

Die Mittel für den Neubau und den laufenden Betrieb des IfS hatten der So­zi­al­wis­sen­schaft­ler und Mäzen Felix Weil (1898–1975) und sein Vater, der Unternehmer Hermann Weil (1868–1927), gestiftet. Zur Ausstattung des an die Universität Frank­furt angeschlossenen unabhängigen Instituts gehörte eine wissenschaftliche Spe­zi­al­bi­blio­thek zur Geschichte und Gegenwart der sozialen Bewegungen. Bis zum Jahr 1929 war die „Bücherei des Institutes für Sozialforschung“ bereits auf 42.000 Bände angewachsen. Außerdem standen den Leserinnen und Lesern dort zahlreiche in- und ausländische Zeitschriften und Tageszeitungen zur Verfügung. Der Zugang war nicht auf die Mitarbeiter des IfS und die Studierenden der Universität Frankfurt be­schränkt. Alle Interessierten konnten einen Bibliotheksausweis erlangen. Allein im Jahr 1929 nutzten etwa 6.000 Personen dieses besondere Angebot.

Nachdem das IfS in den 1920er Jahren zunächst durch einen undogmatischen aka­de­mi­schen Marxismus geprägt war, wurde dort ab Anfang der 1930er Jahre unter der Leitung des Sozialphilosophen Max Horkheimer ein Programm innovativer So­zi­al­for­schung entwickelt, das als „Kritische Theorie“ weltbekannt geworden ist. Damit ver­bun­den sind die Namen so bedeutender Wissenschaftler wie Theodor W. Adorno, Friedrich Pollock, Erich Fromm, Herbert Marcuse u. a.

Das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt a. M. in den 1920er Jahren.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde das IfS am 13. März 1933 geschlossen. Am 14. Juli 1933 wurde es auf der Grundlage des am 26. Mai 1933 erlassenen „Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens“ enteignet und zwangsaufgelöst. In Erwartung dieser Entwicklung hatte die Geschäftsführung zuvor große Teile des Stiftungsvermögens ins Ausland verbracht. Die meisten Mit­ar­bei­ter gingen ins Exil. Das IfS konnte seine Arbeit von 1933 bis 1934 in Genf und anschließend in New York fortsetzen. Die „Marxburg“ wurde nach der Enteignung durch nationalsozialistische Organisationen und Institutionen genutzt, bis sie 1944 im Zweiten Weltkrieg bei einem Luftangriff der Alliierten zerstört wurde.

Die Bibliothek des IfS wurde 1933 zugunsten des Reichslandes Preußen, zu dem Frankfurt am Main zu dieser Zeit gehörte, beschlagnahmt. Das Preußische Mi­nis­te­ri­um für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung beauftragte Richard Oehler (1878–1948), den Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt, im Jahr 1936 mit einer Sichtung und Bewertung des Buchbestands. Als politisch unbedenklich ein­ge­stuf­te Titel wurden an Instituts- und Seminarbibliotheken der Frankfurter Universität weitergegeben. Den sonstigen Bestand, der ungefähr 20.000 Bände umfasste, wies das Ministerium der Preußischen Staatsbibliothek Berlin (PSB) zu. Doch auch der mit „Gegnerforschung“ befasste Sicherheitsdienst des Reichsführers SS erhob für seine Dienstbibliothek in Berlin Ansprüche darauf. 1937 wurde der Restbestand von Frank­furt in die PSB verbracht. Im Rahmen eines Dublettentausches überließ die PSB dem Sicherheitsdienst im Jahr 1938 daraus 750 Bücher. Infolge des Zweiten Weltkriegs wurde der Bestand dann weiter zerstreut. 

Die in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek anhand von darin enthaltenen Stempeln und Zugangsnummern der Bibliothek des IfS identifizierten Bücher haben einen anderen Weg genommen. Gesichert ist, dass sie sich 1945 im Weimarer Nietzsche-Archiv befanden. Infolge der durch seine Leitung und seine Mitarbeiter beförderten Indienstnahme des Philosophen Friedrich Nietzsche für die nationalsozialistische Propaganda wurde das Archiv nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der So­wje­ti­schen Militäradministration geschlossen. Die Bibliothek des Nietzsche-Archivs wurde 1950 zusammen mit den sonstigen Beständen in das Goethe- und Schiller-Archiv überführt. Von dort kamen die Bücher in die 1954 als Institut der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar gegründete Zentralbibliothek der deutschen Klassik, eine der Vor­gän­ger­ein­rich­tun­gen der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek. 

Wie aber waren die Bände aus der Bibliothek des IfS in das Nietzsche-Archiv gelangt? Dazu konnte bisher noch kein eindeutiger Quellenbeleg gefunden werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat dabei aber die Tatsache eine Rolle gespielt, dass der 1936 vor der Verteilung des IfS-Bestandes als Gutachter hinzugezogene Frankfurter Bi­blio­theks­di­rek­tor und Nietzsche-Forscher Richard Oehler nicht nur ein Cousin des Ge­schwis­ter­paa­res Friedrich Nietzsche und Elisabeth Förster-Nietzsche war, sondern auch der Bruder von Max Oehler (1875–1946), dem seinerzeitigen Leiter des Nietzsche-Archivs.

Nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, der Befreiung vom Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und der Gründung der Bundesrepublik kehrte das IfS nach Frankfurt am Main zurück. Etwas mehr als 100 Jahre nach der Eröffnung der „Marxburg“ konn­ten im Dezember 2024 die in Weimar aufgefundenen Bücher dorthin zurückgegeben werden. Sie sind nun wieder Teil der Bibliothek des IfS im 1951 unweit des alten Stand­or­tes errichteten Nachfolgebau.

Das heutige Gebäude des Instituts für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt a. M., erbaut 1951 von den Architekten Hermann Mäckler und Alois Giefer

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