Forschungsfeld Literaturmuseum

Die Erfindung des Dichterhauses

Art: Artikel Autor: Manuel Schwarz
06.01.2025 9

Dichterhäuser vermitteln oft den Eindruck von Authentizität, doch sind sie in­sze­nier­te Orte der Erinnerung. Paul Kahl über die Entstehung von Li­te­ra­tur­mu­se­en.

Museen allgemein und so wie man sie heute versteht sind vor der Französischen Re­vo­lu­ti­on entstanden, unter den Bedingungen der Aufklärung und in der Mitte des acht­zehn­ten Jahrhunderts. Älter als der Louvre von 1793, den man lange als das erste moderne Museum Europas angesehen hat, sind – bei gleichzeitig voller Erfüllung mo­der­ner Museumskriterien – die Museen in Braunschweig, Dresden, Kassel, Sanssouci, Mannheim und auch die „Bilder-Gallerie“ in Wien, also Museen im deutschen Sprach­raum. Als ältestes Museum Europas, womöglich der Welt, gilt vielen demgegenüber das kapitolinische Museum in Rom, das seit 1734 öffentlich zugänglich ist; wenig später folgten die Uffizien in Florenz und das Museo Maffeiano in Verona, 1753/59 das Britische Museum. 

All diese Museen sind Gemäldegalerien und Antikensammlungen – aber ganz of­fen­sicht­lich keine Literaturmuseen. Eine thematische Auffächerung von Museen beginnt erst im neunzehnten, vielfach sogar erst im zwanzigsten Jahrhundert. Die Frage, wann und unter welchen Umständen die ersten Literaturmuseen gegründet wurden, war vielmehr noch überhaupt nicht eingehend untersucht worden. Of­fen­sicht­lich ist es so – um diese Einsicht vorwegzunehmen –, dass sich viele Literaturmuseen, wie wir sie heute verstehen, an biografischen Stätten eines Schriftstellers befinden. Und offensichtlich folgen Literaturmuseen zumeist der Musealisierung einer bio­gra­fi­schen Stätte nach, zumeist erst im zwanzigsten Jahrhundert. Das Schiller-Na­tio­nal­mu­se­um in Marbach folgt an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert auf ein mu­sea­li­sier­tes Wohnhaus des neunzehnten Jahrhunderts, Schillers Geburtshaus. In­so­fern führt die Frage nach dem Literaturmuseum zu einem Phänomen, das bisher noch so gut wie gar nicht historisch erörtert worden war: jene Museen, die nicht auf einer Sammlung beruhen, sondern auf einem Ort, einer Stätte, einer Geburts-, Wohn- und Sterbestätte eines Künstlers, eines Schriftstellers, und die man alltagssprachlich „Dichterhaus“ nennt oder „Künstlerhaus“, „Komponistenhaus“.

So sehr Dichterhäuser zu einem Modethema geworden sind, so wenig war zugleich ihre Geschichtlichkeit – genauer: die Geschichtlichkeit des Phänomens der Mu­sea­li­sie­rung ehemaliger Wohnhäuser – untersucht, ja kaum als Fragestellung beschrieben worden: Seit wann gibt es musealisierte Dichterhäuser, und wie sind sie historisch ent­stan­den? Fachsprachlich: Seit wann und wie bilden Gesellschaften ‚Kulturelle-Erbe‘-Konstellationen (cultural heritage) an literarischen Gedächtnisorten (lieux de mémoire) aus? Dies ist die Leitfrage eines mehrjährigen Projekts der Deutschen For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) am Deutschen Seminar in Göttingen gewesen, das unter dem Titel Kulturgeschichte des Dichterhauses die Frühgeschichte der Mu­sea­li­sie­rung der Häuser deutschsprachiger Dichter im neunzehnten Jahrhundert er­schlos­sen und als „weltliche Personengedenkstätten“ beschrieben hat. 

Die „Musealisierung“ einer Einzelperson setzt die Aufwertung des Individuums seit der sogenannten Geniezeit, das heißt seit dem Sturm und Drang des achtzehnten Jahrhunderts, voraus, die im Goethe- und Schillerkult des neunzehnten Jahrhunderts gipfelt. Es ist insofern kein Zufall, dass die ersten Dichterhäuser in Deutschland Schiller- und später auch Goethehäuser gewesen sind. Die historisch wichtigsten Beispiele sind die in Weimar, das Schillerhaus als Prototyp, das Goethehaus als der Sonderfall.Friedrich Schiller hatte das Haus an der Esplanade in Weimar 1802 gekauft und war nur drei Jahre später dort verstorben. Das Haus wurde 1847 vom Weimarer Stadtrat als einer Gruppe von Bürgern gekauft und als erste Schillergedenkstätte in Deutsch­land eröffnet. Seitdem erfüllt es Kriterien eines modernen Museums, belegt durch zahlreiche Dokumente, darunter die Instruktion für den stadtrathlichen Kastellan, also eine Dienstanweisung für das Personal. Sie belegt das Selbstverständnis der Einrichtung, die mit Öffentlichkeit, Gemeinnützigkeit, Ständigkeit, Zugänglichkeit, Besucherbezug und anderen modernen Kriterien verbunden ist.

Die Geschichte des Weimarer Goethehauses ist in charakteristischer Weise anders verlaufen. Während Charlotte Schiller wie selbstverständlich Schillers Sterbezimmer nutzt – etwa um einen Hauslehrer dort unterzubringen –, wird Goethes Ar­beits­zim­mer bereits 1832 genau dokumentiert, verschlossen und erhalten. Das Goethehaus selbst, auch das Vorderhaus mit den Kunstzimmern, wurde jahrzehntelang ebenso von der Familie wie von Mietern bewohnt; Goethes Arbeitszimmer war aber dau­er­haft von jeder Nutzung ausgeschlossen. Unvergleichlich ist auch die überragende öffentliche Aufmerksamkeit, durch die Goethes Zimmer zum Gegenstand eines Parlamentsbeschlusses und einer weitreichenden kulturpolitischen Bemühung wurden, der Bemühung um Institutionalisierung, das heißt die Gründung einer Kultureinrichtung.

Goethes und Schillers Wohnhaus in Weimar, Buchillustrationen, 1857

Diese Bemühung geht der Gründungsgeschichte des Weimarer Schillerhauses zeit­lich voraus, sie ist aber gescheitert. 1842/43 haben die deutschen Fürsten unter preußischer Führung versucht, im Goethehaus in Weimar ein erstes deutsches Na­tio­nal­mu­se­um zu stiften. Dieser erste Versuch eines föderalen Kulturprojekts ist über­reich in den Dokumenten belegt, und insofern ist die in Rede stehende Arbeit im Wesentlichen eine, die auf Archivalien beruht. Der Plan von 1842 weist alle Kriterien eines modernen Museums auf. Insofern wäre das Weimarer Goethehaus – beinahe – nicht nur zur ersten öffentlichen Personengedenkstätte geworden, sondern zum ersten Nationalmuseum der Deutschen. Die deutschen Fürsten haben trotz ös­ter­rei­chi­scher Vorbehalte gegenüber Goethes Religiosität das Anliegen formuliert, Goe­thes Haus zu kaufen und unter dem Dach einer „Nationalstiftung“ zum „National Eigenthum“, sogar zu einem „National-Museum“ zu erklären. 

Goethes Arbeitszimmer in Weimar, 1886

Der Anstoß war indes von dem bayrischen Schriftsteller Melchior Meyr gekommen. Meyr gelang es, seine Denkschrift Das Göthe‘sche Haus in Weimar, mit den Samm­lun­gen Göthe’s als Deutsches Museum Friedrich Wilhelm IV. zuzuspielen, und der ge­wann die wichtigsten Vertreter des Deutschen Bundes. Am 9. September 1842 hat der Deutsche Bundestag in Frankfurt am Main den Plan formuliert, Goethes Haus „für ewige Zeiten zum deutschen Nationaleigenthum zu bestimmen“. Goethe re­prä­sen­tier­te trotz oder wegen seiner universalen Haltung die deutsche Nation. Hier gilt erst recht, was Peter-Klaus Schuster über die Vorgeschichte der Nationalgalerie in Berlin sagt: „Wenig erscheint bezeichnender für den Nationalgedanken in Deutschland [– so Schuster –], als daß die Einheit der Deutschen zuerst im Museum stattfindet.“

Die Weimarer Nationalstiftung von 1842 wäre, wie auch wenig später das Ger­ma­ni­sche Nationalmuseum, ein Kompensationsprojekt angesichts der fehlenden po­li­ti­schen Einheit der Deutschen gewesen. Dass sie nicht verwirklicht wurde, ist einem geschichtlichen Zufall geschuldet, nämlich der Haltung der Enkel Goethes, die wohl die Kunstsammlung ihres Großvaters verkaufen wollten, aber nicht das Goethehaus selbst und Goethes Arbeitszimmer. Eben dieses war der Kern der Per­so­nen­ge­denk­stät­te: der Ort, nicht die Sammlung, deren alleinigen Kauf der Deutsche Bund ausdrücklich abgelehnt hat.

Weimarer Goethe-Museum von 1935, zeitgenössische Abbildung

Erst 1885, nach dem Tod Walther von Goethes, wurde das Goethehaus dem Publikum geöffnet, und zwar – dies war Großherzog Carl Alexanders Entscheidung – als „Goethe-Nationalmuseum“: Die Nation wird in der Bezeichnung des Museums mit Goethe verbunden, mit Goethe als wichtigstem Vertreter der deutschen Sprache. Das ist – idealtypisch – das Konzept einer deutschen ‚Kulturnation‘. Die Nation, die sich durch Sprache, nicht durch eine Staatsgrenze zusammengehörig weiß. Offenbar war die Widmung eines Dichterhauses zum Nationalmuseum im Europa des neun­zehn­ten Jahrhunderts einzigartig: Nicht ein Schloss, sei es ein ehemaliges oder ein schloss- oder tempelartiger Neubau, wird zum Na­tio­nal­mu­se­um erklärt, sondern ein Privathaus, das ehemalige Wohnhaus eines Schriftstellers. Kern des Na­tio­nal­mu­se­ums ist nicht eine Sammlung – etwa eine Sammlung von Reichsinsignien oder von Kunstwerken –, sondern ein Arbeitszimmer mit unbedeutenden Holzmöbeln. 

Die symbolische Verbindung von Goethe und Nation hat sich im zwanzigsten Jahr­hun­dert fortgesetzt und pervertiert, sie kulminiert in dem ersten vollständigen Museumsneubau des nationalsozialistischen Deutschland unmittelbar neben dem Goethehaus. Dessen erinnerungskulturelle Neupositionierung war schon 2015 Ge­gen­stand eines Historikerstreits. Weiterreichend ist aber die Einsicht in die Ge­schicht­lich­keit und die politische Überschreibung der überlieferten und ver­meint­lich authentischen Räume. Sie sind – und dies ist ein Kerngedanke der in Rede ste­hen­den Arbeit – eine erinnerungskulturelle Konstruktion mit einer Absicht, nicht au­then­ti­sches Abbild der Lebenswelt ihres ehemaligen Bewohners.

Diese Einsicht ist (natürlich) nicht neu. Die umfassende Auswertung von Dokumenten hat ergeben, dass neben einer Vielzahl der stereotyp-affirmativen Beschwörungen von Authentizität eine kleine Anzahl von Autoren das Konstrukt des Dichterhauses von Anfang an in Frage stellt. Schon 1842 hat die Leipziger Allgemeine Zeitung den Wunsch problematisiert, „Mozart’s Wohnung in Salzburg mit Stühlen und Tischen, Tassen und Tellern etc. grade noch so zu finden, wie er sie verlassen“. 1913 hat Wolf­gang von Oettingen, damals Weimarer Museumsdirektor, die Vorstellung, das erste Stockwerk des Goethehauses „stelle Goethes Wohnung ziemlich unverändert dar“, offen als „Fiction“ bezeichnet. In der gleichen Zeit hat ein Besucher, erstaunlich hellsichtig, über das Goethe- und das Schillerhaus in Weimar vermerkt, er, der Be­su­cher, bewege sich „nicht in einer Wirklichkeit, sondern innerhalb einer Dekoration. Das mag zum Teil daran liegen, daß, mit Ausnahme von Goethes Schlaf- und Wohn­zim­mer, alle Einrichtungen nachträglich, zum Teil viele Jahrzehnte später, wieder her­ge­stellt sind.“ Diese Einschätzung ist zutreffend. Sie gilt erst recht nach der Teil­zer­stö­rung im Februar 1945.

Goethe-Nationalmuseum Weimar

Nach der Rekonstruktion bis 1949 wurde die Einsicht in den Inszenierungscharakter wirkungsvoll zurückgedrängt. Die Authentizitätsrhetorik verband sich in der DDR mit dem Bedürfnis, unmittelbaren und eben ‚authentischen‘ Zugang zur Goethezeit zu suggerieren und sich selbst durch Bezugnahme auf den ‚klassischen Humanismus‘ Goethes Legitimität zu verschaffen. Doch auch in der Fachliteratur ist der Kon­struk­ti­ons­cha­rak­ter des Weimarer Dichterhauses lange nicht erörtert worden, bis in die jüngste Zeit saßen bedeutende Autoren der Fiktion auf. Der alte kunstreligiöse Topos vom authentischen Dichterhaus, auch im sozialistischen und im nachsozialistischen Gewand, hat auszublenden geholfen, dass völkische und antidemokratische Strö­mun­gen aber in der kulturellen Tradition selbst verwurzelt waren, ja, dass ein sym­bo­li­sches Kernstück der Weimarer Kulturstätten – das Goethe-Museum – aus einer Allianz von Bildungsbürgertum und Nationalsozialismus hervorgegangen war und dass das unpolitisch-gefällige Dichterhaus tatsächlich hochpolitisch ist. 

Der Konstruktionscharakter eines Erinnerungsortes ist indessen bekannt. Alle „zu Gedenkstätten und Museen umgestalteten Erinnerungsorte unterliegen“, wie Aleida Assmann ausgeführt hat, „einem tiefgreifenden Paradox: Die Konservierung dieser Orte im Interesse der Authentizität bedeutet unweigerlich einen Verlust an Au­then­ti­zi­tät. Indem der Ort bewahrt wird, wird er bereits verdeckt und ersetzt.“ Insofern kann eine kritische kulturgeschichtliche Aufarbeitung den geschichtlichen Abstand sichtbar machen, im besonderen Fall, wie in Weimar, sogar Strategien eines selektiven Geschichtsbildes. Es kann gezeigt werden, dass es bei einem Dichterhaus vielmehr um die Fiktion von Authentizität geht. So wie Erlebnislyrik nicht Ausdruck eines Er­leb­nis­ses ist, sondern vielmehr die Fiktion eines Erlebnisausdrucks aufbaut, so baut ein Dichterhaus die „Fiktion“ authentischer Räume auf. Es ist eine Inszenierung und In­sze­nie­rung und Wirklichkeit können verwechselt werden.

Eine weitere geschichtliche Erschließung des Phänomens erfordert kul­tur­ge­schicht­li­che Grundlagenforschung in komparatistischer Perspektive. Es ergibt sich die Frage nach Frühformen: Hier sind ebenso die Stätten der christlichen Heiligen zu nennen wie die frühneuzeitlichen Künstler- und Dichterhäuser in Italien, insbesondere die Petrarca-Stätten.

Und es ergibt sich das Desiderat einer komparatistischen Dichterhausforschung über den mitteleuropäischen Kulturraum hinaus, um das Spezifische und das Allgemein-Menschliche zu unterscheiden, etwa durch einen Vergleich mit Dichterhäusern in anderen Kulturen.[1] Ein solcher kulturenübergreifender Vergleich kann das Ver­ständ­nis für die eigene Überlieferung schärfen. Mit dem ‚Dichterhaus‘, oder allgemeiner: mit den ‚Häusern der Erinnerung‘, zeichnet sich ein Typus ab, der in eine umfassende historische Museumsforschung einbezogen werden muss, weil er für eine ge­samt­eu­ro­päi­sche und auch darüber hinausführende Erinnerungskultur in der Moderne Be­deu­tung hat. Dieser Typus hat zumindest in Deutschland seinen Ausgangspunkt nicht – wie Museen – in der Kultur der Aufklärung, sondern in der kunstreligiösen Em­pha­se und den Sinnstiftungsversuchen des neunzehnten Jahrhunderts. Was das praktisch bedeutet, wird weiter auszubuchstabieren sein.

Francesco Petrarca im Arbeitszimmer, Saal der Giganten, Liviano, Padua (Ausschnitt)

Dr. Paul Kahl hat im November 2024 im Rahmen einer Feierstunde im Weimarer Schloss den Archiv-Preis der Bodo-Röhr-Stiftung aus Hamburg erhalten. Ausgezeichnet wurde der Band Paul Kahl: Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Eine Kulturgeschichte . Göttingen 2015, der von zwei Dokumentationsbänden (Göttingen 2015 und 2019) begleitet wurde.

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[ 1 ] Ich danke dem Göttinger Studenten Ahmed Aydin für seinen Beitrag über das Mewlana-Museum in Konya (Türkei) mit den Stätten des persischen Dichters Rumi aus dem dreizehnten Jahrhundert.