
Citizen Science in der Romantik
Die Suche nach verlorenen Liedern
Neben den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm zählt Des Knaben Wunderhorn zu den bekanntesten Sammlungen der Romantik. In der Herzogin Anna Amalia Bibliothek befindet sich ein seltenes Dokument, das die Zusammenarbeit der ‚Liederbrüder‘ Clemens Brentano und Ludwig Achim von Arnim eindrucksvoll festhält.
Der erste Wunderhorn-Band enthält eine große Sammlung von ‚Volksliedern‘: Darunter finden sich Lieder aus allen sozialen Schichten und Berufen, historische Balladen, Liebeslyrik, geistliche Lieder von Protestanten und Katholiken, Kriegs- und Kinderlieder. Mit der Veröffentlichung verfolgen Achim von Arnim und Clemens Brentano sowohl ästhetische als auch politische Ziele: Zum einen streben sie eine Zusammenstellung authentischer und schlichter Volkslieder an, zum anderen soll deren zeitlose und gemeinschaftsstiftende Wirkung auf die Zeitgenossen und die zukünftige Generation ausstrahlen. Durch das Verbreiten und Singen der Lieder erhofften sie sich, das durch den Napoleonischen Koalitionskrieg überzogene und zersplitterte Deutschland wieder zu einen.

Titelblätter der drei Wunderhorn-Bände | links, mitte: © Deutsches Textarchiv; rechts: © Bayerische Staatsbibliothek
Der erste Teil der dreibändigen Volksliedsammlung erscheint 1805, vordatiert auf das Jahr 1806. Wie schon Johann Gottfried Herder geht es Arnim und Brentano nicht um die unverfälschte Wiedergabe echter Volkslieder oder um eine wissenschaftliche Dokumentation mündlich tradierter Lieder. Sie sind vielmehr auf der Suche nach dem ursprünglichen ‚Volksliedton‘, den sie aber in dem zusammengetragenen Material nicht immer finden und erst selbst noch hineinschreiben müssen. So überarbeiten sie die Liedtexte und schaffen ihr eigenes Gattungsideal. Teilweise erfinden sie Quellenangaben oder gaukeln Volksliednähe vor, die es für die veröffentlichten Lieder in dieser Form nie gegeben hat.
Für den ersten Band nehmen Arnim und Brentano ihre Vorlagen vor allem aus früheren Volksliedsammlungen, wie Johann Gottfried Herders Bände Volkslieder oder Anselm Ewerts Ungedruckte Reste alten Gesangs. Zwei weitere Personen steuern außerdem Texte bei: Brentanos damals noch unverheiratete Schwester Bettina Brentano und Albert Ludwig Grimm, damals Student in Tübingen, kein Verwandter der Brüder Grimm.

Ludwig Achim von Arnim, 1804

In Arnims Nachwort Von Volksliedern zum ersten Wunderhorn-Band wird die Sammlung als eine einzigartige Leistung dargestellt. Nur noch wenige wüssten, „was Volkslied ist und wieder werden kann.“ Arnims Plädoyer für die Erneuerung des Volkslieds gründet auf der Überzeugung, dass die Poesie des ‚Volks‘ eine verbindende Kraft habe, die jeden „Streit“ zwischen den „Fürsten [...] selbst verzehren“ werde. Im Jahr 1806 hatte das Napoleonische Frankreich Bündnisse mit mehreren süddeutschen Staaten geschlossen, was schließlich zur Gründung des Rheinbundes führte. Die Zersplitterung der deutschen Kleinstaaten verschärfte sich und führte zu folgenschweren Interessenskonflikten. Brentano und Arnim leben zur Zeit der Arbeit am zweiten und dritten Band des Wunderhorns in zwei Staaten, die gegeneinander Krieg führen. Trotzdem halten sie an ihrem gemeinsamen Projekt fest, auch wenn sie nicht immer einer Meinung sind. Rückblickend schreibt Arnim 1808 an Goethe, Brentano und er hätten über manches „ärger gestritten als die babylonischen Bauleute“.
Im Frühjahr 1806 beginnen die Vorbereitungen für den zweiten Wunderhorn-Band. Am 18. März teilt Brentano seinem Freund und Liederbruder mit, dass er „ein Zirkular drukken“ lassen werde, „dann möchte ich durch ganz Deutschland reisen und sammeln.“ Das Einverständnis Arnims setzt er voraus und unterzeichnet stellvertretend für ihn: „ich nehme mir die Freiheit deinen Nahmen auch zu unterschreiben“. Brentanos Plan ist es zunächst, gedruckte Schreiben an Landprediger „in den waldigen, und gebirgigen, Gegenden Deutschlands“ zu versenden. Am 1. Juni 1806, zu Pfingsten, erhält Arnim, der sich zu dieser Zeit in Berlin aufhält, ein gedrucktes Exemplar des Zirkulars von Brentano. Dort heißt es zu Beginn: „Wir nehmen uns die Freiheit, Sie um ihre Unterstützung in einem deutschen literärischen Unternehmen zu bitten, in dem Vertrauen, daß, sollten Sie selbst nicht dazu geneigt seyn, Sie unsern Wunsch wenigstens mittelbar befördern möchten, indem Sie ihn solchen Männern aus ihrem Kreise, mitzutheilen die Güte haben, welche sich diesem so würdigen als leichten Geschäfte gern unterziehen mögen. Wir wünschen nämlich, recht viele brave deutsche Männer, die mit dem Landmann und den übrigen untern Volksklassen in näherer Berührung stehen, dahin zu bewegen, alle ältere Volkslieder, welche die Tradition im Gesange dieser Stände noch erhalten hat, schriftlich aufzufassen.“

Seite 1 des Zirkulars: Citizen Science in der Romantik

Seite 4 des Zirkulars: eigenhändige Unterschrift von Clemens Brentano, der auch anstelle seines abwesenden Freundes Arnim unterzeichnete, © Klassik Stiftung Weimar
Das Rundschreiben richtet sich, wie der Titel nahelegt, an „Freunde deutscher Art und Kunst [in der Schweiz]“, jedoch nicht ausschließlich an Männer, sondern auch an Frauen, „da Frauen meistens für frühere Eindrücke einer ungestörteren Erinnerung genießen“. 500 Exemplare lässt Brentano drucken. Damit ist es der erste groß angelegte Aufruf zur volkskundlichen Forschung. Knapp zehn Jahre später, im Jahr 1815, wird Jacob Grimm einen ähnlichen Aufruf unternehmen, um Texte für die bekannte Märchensammlung zu erhalten. Eines der Exemplare von Brentanos Aufruf fand durch eine großzügige Bücherschenkung im Jahr 2021 seinen Weg in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek – wofür die Klassik Stiftung Weimar nochmals ihren herzlichen Dank ausspricht!
Auch in Zeitungen inserieren Brentano und Arnim ihre Bitte um Einsendung geeigneter Lieder. Durch beide Strategien – Inserate und Zirkular – wecken sie das Interesse von außen. Die beiden erhalten eine Vielzahl von Texten, sodass Brentano im Juli 1807 schreiben kann: „ich habe Lieder in die Tausende“, die er in Konvolute zusammenbindet. Tatsächlich sind unter den Einsendenden neben Bettina Brentano auch andere Frauen, darunter die Dichterin Auguste Pattberg. Insgesamt sind etwa 5000 handschriftliche Liedaufzeichnungen erhalten, verteilt auf mehr als 4000 Seiten: „die mühsamste Arbeit bestand, bei den letzten beiden Bänden, in dem Absondern unter der Masse des Uebersandten.“

Ludwig Emil Grimm, Bettina Brentano, 1809, © Klassik Stiftung Weimar
Diese Konvolute sind nicht, wie man vermuten könnte, im Arnim-Brentano-Bestand der Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv zu finden, sondern als sogenanntes ‚Heidelberger Wunderhorn-Material‘ in der Universitätsbibliothek Heidelberg untergebracht. Der Heidelberger Bibliotheksdirektor Rudolf Silib hatte es 1929 mit Spendengeldern bei einer Auktion, in der die Familie von Arnim einen großen Teil des handschriftlichen Nachlasses aus der Familie veräußert hatte, gekauft, da die Liedersammlung als Hauptwerk der sogenannten ‚Heideberger Romantik‘ gilt.
Das in diesem digitalen Magazin klassisch modern präsentierte Zirkular ist ein eindrucksvolles Dokument des erfolgreich umgesetzten Sammelvorhabens und ist in den digitalen Sammlungen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek digital abrufbar.
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