
Das geographische Gedächtnis der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Die Weimarer Atlanten-Sammlung
Einmal um die Welt – Die Atlanten-Sammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar ist eine der größten und vielfältigsten in Deutschland. Arno Barnert über besondere Exemplare, die historische Entwicklung der Karten- und Atlantenproduktion sowie die Zukunftsperspektiven für die Sammlungsforschung.
Karten, Atlanten und Globen sowie die Reiseliteratur gehören zu den ältesten und wichtigsten Sammelgebieten der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Der Bestand wurde 2021 um einen international bedeutenden Materialkomplex zur Atlaskartographie, Mobilität und militärischen Konfliktgeschichte ergänzt: die Forschungssammlung Jürgen Espenhorst, erworben mit Unterstützung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Die Atlanten-Sammlung vom 16. Jahrhundert bis heute umfasst nun 3.000 Einheiten - Anlass für eine Standortbestimmung.

Neu eingetroffene Sammlung Jürgen Espenhorst im Jahr 2021
Kosmographien der Frühen Neuzeit
Der Ursprung der modernen Atlaskartographie liegt in den Kosmographien der Frühen Neuzeit. Diese Beschreibungen der gesamten Schöpfung, der Erde und des Weltalls waren neben den Bibeln die erfolgreichsten Bücher der Zeit um 1500. So erschien 1544 die „Cosmographia, Das ist: Beschreibung der gantzen Welt“ des Gelehrten Sebastian Münster (1488-1552). Sein Werk war ein weit verbreitetes Volksbuch mit Landkarten, Stadtansichten, Wappen und Bildern. Die „Kosmographie“ führt wie auf einer Weltreise von Europa über Asien und Afrika bis Nord- und Südamerika. In diese Epoche gehört auch das berühmte „Welttheater“, das „Theatrum Orbis Terrarum“ von Abraham Ortelius (das Weimarer Exemplar der 1572 in Nürnberg erschienenen Ausgabe wurde 2006 als Faksimile nachgedruckt). Aus derselben Zeit stammt der große Städte-Atlas „Civitates Orbis Terrarum“, der zwischen 1572 und 1618 von Franz Hogenberg und Georg Braun herausgegeben wurde. Er enthält den ersten genauen Stadtplan von Weimar, angefertigt vom Weimarer Magister, Topographen und Bürgermeister Johannes Wolf um 1570.
Die ersten Atlanten um 1600
Atlanten als Sammlungen thematisch, inhaltlich oder regional zusammenhängender Landkarten in Buchform haben sich an der Epochenschwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert entwickelt. Am Beginn der modernen Atlaskartographie steht der „Atlas oder kosmografische Meditationen über die Schöpfung der Welt und die Form der Schöpfung“ von Gerhard Mercator (1512 – 1594). Das Werk erschien postum 1595 und markiert den Übergang von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kosmographie zur modernen Kartographie. Eine praktische querformatige Reiseausgabe des Mercator-Atlas, der „Atlas minor“, erschien erstmals 1607. Eine überarbeitete Ausgabe folgte 1628 zunächst in lateinischer Fassung, 1630 dann mit deutschem Text. Die seltene deutsche Version konnte 2022 mit Unterstützung der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e. V. erworben werden.

„Atlas minor“ von Gerhard Mercator (HAAB Kt 700 – 231 B)

„Atlas minor“ von Gerhard Mercator (HAAB Kt 700 – 231 B), © Klassik Stiftung Weimar
Alte und neue Atlanten
250 bedeutende historische Atlanten aus dem Weimarer Altbestand wurden von 2003 bis 2010 in einem von der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt mit allen enthaltenen Karten detailliert erschlossen und digitalisiert.Im Laufe der Zeit hat sich der Atlas-Begriff stark gewandelt und wird heute fast inflationär gebraucht. Eine Suche mit dem Titel-Stichwort „Atlas“ im Verzeichnis lieferbarer Bücher ergibt tausende von Treffern. Damit sind nicht mehr nur Kartenwerke in gebundener Form gemeint, sondern bebilderte Nachschlagewerke, Überblicksdarstellungen und Literatur aller Art. Zu den jüngsten Erwerbungen der Bibliothek gehören etwa Neuerscheinungen wie der „Atlas der vergessenen Orte“, der „Atlas des Teufels“, der „Atlas der mythischen Routen“ und der „Atlas der digitalen Welt“. Aber auch der „James Bond Atlas“, der „Atlas literarischer Orte von Wunderland bis Mittelerde“ und der „Atlas der Weltwunder“ finden sich im Bestand.
Das Geographische Institut in Weimar
Um 1800 war der wichtigste deutsche Atlanten-Verlag das von Friedrich Justin Bertuch gegründete Geographische Institut in Weimar. Die Karten- und Atlantenproduktion wurde von Herzog Carl August während der Napoleonischen Kriege stark gefördert. Hier hat die Sammlung Espenhorst ihren ersten großen Schwerpunkt. Bertuchs Verlagsprogramm umfasste Lehrbücher, Handbücher der Geographie, geographische Jahrbücher, Monographien zu einzelnen Ländern, Reisebücher, Bücher zur Alten Geschichte, eine Zeitschrift („Allgemeine Geographische Ephemeriden“), Atlanten der neueren Zeit und zur alten Geschichte, Kartenwerke verschiedener Gegenden, Himmelskarten und Globen. 1806 verlegte er den „Hand-Atlas über alle Theile der Erde, zunächst für Bürgerschulen und Zeitungsleser bestimmt“. Ein weiteres wichtiges Verlagsprodukt war die große „Topographisch-militairische Charte von Teutschland“, erschienen in mehreren Lieferungen von 1807 bis 1813/15.

Atlanten im Tiefmagazin der Bibliothek
Die Gothaer Konkurrenz
Wenig später, ab 1817, stieg der kleine, bis dahin kaum bekannte Verlag von Justus Perthes in Gotha mit Adolf Stieler und seinem „Hand-Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude“ zu einem international immer erfolgreicheren Konkurrenten auf. Perthes Geographisch- Kartographische Verlags-Anstalt entwickelte sich zum bedeutendsten, marktbeherrschenden kartographisch-geographischen Verlag des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Sammlung Perthes wird heute an der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrt. Ihr Pendant in Weimar ist nun die Sammlung Espenhorst, die alle großen Atlas-Familien von 1800 bis heute dokumentiert: Stieler, Meyer, Sohr-Berghaus, Andrees, Debes und 70 weitere.

„Compendieuser Allgemeiner Atlas [...] beym Geographischen Unterrichte brauchbar“, Weimar 1812, mit Kritzeleien eines Schülers (HAAB, Sammlung Jürgen Espenhorst)
Atlanten-Erschließung
Jürgen Espenhorst hat in seinen Standardwerken „Andree, Stieler, Meyer & Co. Handbuch zu den Handatlanten des deutschen Sprachraums 1800 – 1950“ (1994/95) und „Petermann’s planet. A guide to German handatlases and their siblings throughout the world 1800 – 1950“ (2Bände, 2003 – 2008) die umfassendste und beste Systematik zu den Atlanten des deutschsprachigen Raums vorgelegt. Danach wird die Sammlung geordnet und erschlossen. Mit dem Korpus lässt sich die Herausbildung von kartographischen Schulen, Produktionsstätten, Institutionen beziehungsweise Organisationen seit dem 18. Jahrhundert sowie die Entwicklung der technischen Verfahren für die Herstellung von Karten und deren Reproduktion nachvollziehen. Im Zusammenhang mit der Weimarer Militärbibliothek liegt ein thematischer Schwerpunkt auf kartographischer Erschließung, Geopolitik, Militär und Krieg, also Karten als Organisations- und Kommunikationsmittel der Kriegsführung.
Künstler-Atlanten
Atlanten haben, wie die Enzyklopädien auch, eine Gemeinsamkeit: Es dominiert die Gesamtperspektive – eine Sichtweise, die vom großen Überblick ins Detail geht. Dieser universale, oft auch hegemoniale Anspruch wird in der neueren Kritischen Kartographie hinterfragt, etwa im Sammelband „This is not an atlas“ (2018) oder im „Handbuch Kritisches Kartieren“ (2022). Solche „Counter-cartographies“ spielen in der Map Art und in Künstlerbuch-Atlanten eine wichtige Rolle. Zum Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gehören etwa die kartographischen Arbeiten der Berliner Buchkünstlerin Ursula Schiegnitz. Ihr „Neuer Atlas der reduzierten Landmasse nach Anstieg des Meeresspiegels“ von 2007 stellt „Inseln im Meer“ dar, die in Form von Papierresten auf alte Pressplatten einer Buchbinderei montiert sind. Ihr „Atlas“ von 2015 besteht aus 40 doppelseitigen, übermalten alten holländischen Karten. Eine andere Berliner Künstlerin, Katja Marie Voigt, fragt in ihrem 2021/22 entstandenen „Weltatlas fremdbestimmter Lebenszeit“, wie es sich anfühlt, einer Weltordnung anzugehören, die durch einen Fremden bestimmt wird. Eine der Künstlerin unbekannte Person schickte ihr 14 Tage lang jeden Morgen einen persönlichen Tagesplan, der dann ausgeführt wurde. Die im Atlas versammelten Kartographien, begleitet von Zeichnungen und Notizen, geben subjektive Wahrnehmungen der Künstlerin wieder, die beim Durchqueren der vorgegebenen Wegstrecken entstanden.
Mit dem historischen Bestand seit 1500, der Forschungssammlung Jürgen Espenhorst und den zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten ist die Weimarer Atlanten-Sammlung eine der größten und vielfältigsten in Deutschland. Ihre weitere Erschließung, Digitalisierung und Erforschung gehört zu den zentralen Vorhaben der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in den kommenden Jahren.

Künstlerbuch-Atlas von Ursula Schiegnitz, 2015 (HAAB 313850–D)
Der überarbeitete und aktualisierte Beitrag von Arno Barnert ist ursprünglich im SupraLibros – Mitteilungen der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V., Heft 28, erschienen.