Das geographische Gedächtnis der Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Die Weimarer Atlanten-Sammlung

Art: Artikel Autor: Arno Barnert
03.06.2024 5

Einmal um die Welt – Die Atlanten-Sammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar ist eine der größten und vielfältigsten in Deutschland. Arno Barnert über besondere Exemplare, die historische Entwicklung der Karten- und At­lan­ten­pro­duk­tion sowie die Zukunftsperspektiven für die Sammlungsforschung.

Karten, Atlanten und Globen sowie die Reiseliteratur gehören zu den ältesten und wichtigsten Sammelgebieten der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Der Bestand wurde 2021 um einen international bedeutenden Materialkomplex zur At­las­kar­to­gra­phie, Mobilität und militärischen Konfliktgeschichte ergänzt: die For­schungs­samm­lung Jürgen Espenhorst, erworben mit Unterstützung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Die Atlanten-Sammlung vom 16. Jahrhundert bis heute umfasst nun 3.000 Einheiten - Anlass für eine Standortbestimmung.

Neu eingetroffene Sammlung Jürgen Espenhorst im Jahr 2021

Kosmographien der Frühen Neuzeit

Der Ursprung der modernen Atlaskartographie liegt in den Kosmographien der Frü­hen Neuzeit. Diese Beschreibungen der gesamten Schöpfung, der Erde und des Welt­alls waren neben den Bibeln die erfolgreichsten Bücher der Zeit um 1500. So erschien 1544 die „Cosmographia, Das ist: Beschreibung der gantzen Welt“ des Ge­lehr­ten Sebastian Münster (1488-1552). Sein Werk war ein weit verbreitetes Volks­buch mit Landkarten, Stadtansichten, Wappen und Bildern. Die „Kosmographie“ führt wie auf einer Weltreise von Europa über Asien und Afrika bis Nord- und Süd­ame­ri­ka. In diese Epoche gehört auch das berühmte „Welttheater“, das „Thea­trum Orbis Terrarum“ von Abraham Ortelius (das Weimarer Exemplar der 1572 in Nürnberg er­schie­ne­nen Ausgabe wurde 2006 als Faksimile nachgedruckt). Aus der­sel­ben Zeit stammt der große Städte-Atlas „Civitates Orbis Terrarum“, der zwischen 1572 und 1618 von Franz Hogenberg und Georg Braun herausgegeben wurde. Er enthält den ersten genauen Stadtplan von Weimar, angefertigt vom Wei­ma­rer Magister, To­po­gra­phen und Bürgermeister Johannes Wolf um 1570.

Die ersten Atlanten um 1600

Atlanten als Sammlungen thematisch, inhaltlich oder regional zusammenhängender Landkarten in Buchform haben sich an der Epochenschwelle vom 16. zum 17. Jahr­hun­dert entwickelt. Am Beginn der modernen Atlaskartographie steht der „Atlas oder kosmografische Meditationen über die Schöpf­ung der Welt und die Form der Schö­pfung“ von Ger­hard Mercator (1512 – 1594). Das Werk erschien postum 1595 und markiert den Übergang von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kos­mo­gra­phie zur modernen Kartographie. Eine praktische querformatige Rei­se­aus­ga­be des Mercator-Atlas, der „Atlas minor“, erschien erstmals 1607. Eine überarbeitete Aus­ga­be folgte 1628 zunächst in lateinischer Fassung, 1630 dann mit deutschem Text. Die seltene deutsche Version konnte 2022 mit Unterstützung der Ge­sell­schaft Anna Amalia Bibliothek e. V. er­wor­ben werden.

„Atlas minor“ von Gerhard Mercator (HAAB Kt 700 – 231 B)

„Atlas minor“ von Gerhard Mercator (HAAB Kt 700 – 231 B), © Klassik Stiftung Weimar

Alte und neue Atlanten

250 bedeutende historische Atlanten aus dem Weimarer Altbestand wurden von 2003 bis 2010 in einem von der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ge­för­der­ten Projekt mit allen enthaltenen Karten de­tail­liert erschlossen und di­gi­ta­li­siert.Im Laufe der Zeit hat sich der Atlas-Begriff stark gewandelt und wird heute fast in­fla­tio­när gebraucht. Eine Suche mit dem Titel-Stich­wort „Atlas“ im Ver­zeich­nis lie­fer­ba­rer Bücher ergibt tausende von Treffern. Da­mit sind nicht mehr nur Kar­ten­wer­ke in ge­bun­de­ner Form gemeint, sondern be­bil­der­te Nach­schla­ge­wer­ke, Ü­ber­blicks­dar­stel­lung­en und Literatur aller Art. Zu den jüngsten Erwerbungen der Bibliothek ge­hö­ren etwa Neuerscheinungen wie der „At­las der ver­ges­se­nen Orte“, der „Atlas des Teu­fels“, der „Atlas der mythischen Rou­ten“ und der „Atlas der di­gi­ta­len Welt“. Aber auch der „James Bond Atlas“, der „Atlas li­te­ra­ri­scher Orte von Wunderland bis Mit­tel­er­de“ und der „Atlas der Welt­wun­der“ finden sich im Bestand.

Das Geographische Institut in Weimar

Um 1800 war der wichtigste deutsche Atlanten-Verlag das von Friedrich Justin Bertuch gegründete Geographische Institut in Weimar. Die Karten- und At­lan­ten­pro­duk­tion wurde von Herzog Carl August während der Napoleonischen Kriege stark gefördert. Hier hat die Sammlung Espenhorst ihren ersten großen Schwer­punkt. Bertuchs Verlagsprogramm umfasste Lehrbücher, Handbücher der Geographie, geographische Jahrbücher, Monographien zu einzelnen Ländern, Rei­se­bü­cher, Bü­cher zur Alten Geschichte, eine Zeitschrift („Allgemeine Geo­gra­phi­sche Ephe­me­ri­den“), Atlanten der neueren Zeit und zur alten Geschichte, Kartenwerke ver­schie­de­ner Gegenden, Himmelskarten und Globen. 1806 verlegte er den „Hand-Atlas über alle Theile der Erde, zunächst für Bürgerschulen und Zei­tungs­le­ser be­stimmt“. Ein weiteres wichtiges Verlagsprodukt war die große „To­po­gra­phi­sch-militairische Charte von Teutschland“, erschienen in mehreren Lieferungen von 1807 bis 1813/15.

Atlanten im Tiefmagazin der Bibliothek

Die Gothaer Konkurrenz

Wenig später, ab 1817, stieg der kleine, bis dahin kaum bekannte Verlag von Justus Perthes in Gotha mit Adolf Stieler und seinem „Hand-Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude“ zu einem international immer erfolgreicheren Kon­kur­ren­ten auf. Perthes Geographisch- Kartographische Verlags-Anstalt ent­wick­el­te sich zum bedeutendsten, marktbeherrschenden kartographisch-geographischen Verlag des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Sammlung Perthes wird heute an der For­schungs­bi­blio­thek Gotha aufbewahrt. Ihr Pendant in Weimar ist nun die Sam­mlung Es­pen­horst, die alle großen Atlas-Familien von 1800 bis heute do­ku­men­tiert: Stieler, Meyer, Sohr-Berghaus, Andrees, Debes und 70 weitere.

„Compendieuser Allgemeiner Atlas [...] beym Geographischen Unterrichte brauchbar“, Weimar 1812, mit Kritzeleien eines Schülers (HAAB, Sammlung Jürgen Espenhorst)

Atlanten-Erschließung

Jürgen Espenhorst hat in seinen Standardwerken „Andree, Stieler, Meyer & Co. Handbuch zu den Handatlanten des deutschen Sprachraums 1800 – 1950“ (1994/95) und „Petermann’s planet. A guide to German handatlases and their si­blings through­out the world 1800 – 1950“ (2Bände, 2003 – 2008) die umfassendste und beste Systematik zu den Atlanten des deutschsprachigen Raums vorgelegt. Da­nach wird die Sammlung geordnet und erschlossen. Mit dem Korpus lässt sich die Her­aus­bil­dung von kartographischen Schulen, Produktionsstätten, Institutionen be­zie­hungs­wei­se Organisationen seit dem 18. Jahrhundert sowie die Entwicklung der tech­ni­schen Ver­fah­ren für die Herstellung von Karten und deren Reproduktion nach­voll­zie­hen. Im Zu­sam­men­hang mit der Weimarer Militärbibliothek liegt ein the­ma­ti­scher Schwer­punkt auf kartographischer Erschließung, Geopolitik, Militär und Krieg, also Karten als Organisations- und Kommunikationsmittel der Kriegs­führung.

Künstler-Atlanten

Atlanten haben, wie die Enzyklopädien auch, eine Gemeinsamkeit: Es dominiert die Gesamtperspektive – eine Sichtweise, die vom großen Überblick ins Detail geht. Die­ser universale, oft auch hegemoniale Anspruch wird in der neueren Kritischen Kar­to­gra­phie hinterfragt, etwa im Sammelband „This is not an atlas“ (2018) oder im „Hand­buch Kritisches Kartieren“ (2022). Solche „Counter-cartographies“ spielen in der Map Art und in Künstlerbuch-Atlanten eine wichtige Rolle. Zum Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek gehören etwa die kartographischen Arbeiten der Berliner Buch­künst­ler­in Ursula Schieg­nitz. Ihr „Neuer Atlas der reduzierten Landmasse nach An­stieg des Mee­res­spie­gels“ von 2007 stellt „Inseln im Meer“ dar, die in Form von Pa­pier­res­ten auf alte Pressplatten einer Buchbinderei montiert sind. Ihr „Atlas“ von 2015 besteht aus 40 doppelseitigen, übermalten alten hol­län­di­schen Karten. Eine andere Berliner Künstlerin, Katja Marie Voigt, fragt in ihrem 2021/22 entstandenen „Weltatlas fremdbestimmter Lebenszeit“, wie es sich anfühlt, einer Weltordnung an­zu­ge­hö­ren, die durch einen Frem­den bestimmt wird. Eine der Künstlerin un­be­kann­te Person schickte ihr 14 Tage lang jeden Morgen einen persönlichen Tagesplan, der dann ausgeführt wurde. Die im Atlas versammelten Kartographien, begleitet von Zeich­nun­gen und Notizen, geben subjektive Wahrnehmungen der Künstlerin wieder, die beim Durchqueren der vor­ge­ge­be­nen Wegstrecken entstanden.

Mit dem historischen Bestand seit 1500, der Forschungssammlung Jürgen Es­pen­horst und den zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten ist die Weimarer At­lan­ten-Sammlung eine der größten und vielfältigsten in Deutschland. Ihre weitere Er­schließ­ung, Digitalisierung und Erforschung gehört zu den zentralen Vorhaben der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in den kommenden Jahren.

Künstlerbuch-Atlas von Ursula Schiegnitz, 2015 (HAAB 313850–D)

Der überarbeitete und aktualisierte Beitrag von Arno Barnert ist ursprünglich im  SupraLibros – Mitteilungen der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V., Heft 28, erschienen. 

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