
Neuzugänge im Archiv
„Dies ist die Handschrift Wielands“
Ein Brief an Johanna Schopenhauer und ein seltenes Werkmanuskript – Pünktlich zu seinem 290. Geburtstag kann das Goethe- und Schiller-Archiv zwei bisher unbekannte Handschriften von Christoph Martin Wieland verzeichnen.
Nachdem bereits 2022 ein Wieland-Jubiläum in Weimar begangen wurde, gibt es auch 2023 Anlass zum Feiern: Am 5. September 2023 jährt sich Christoph Martin Wielands Geburtstag zum 290. Mal. Pünktlich zu diesem Jubiläum verzeichnet das Goethe- und Schiller-Archiv zwei Neuzugänge von bisher unbekannten Wieland-Handschriften. Der Ankauf der Manuskripte gelang dank großzügiger Unterstützung der Freundesgesellschaft des Goethe- und Schiller-Archivs bei einer im März stattgefundenen Versteigerung des auf Autographen spezialisierten Auktionshauses J. A. Stargardt in Berlin. Beide Handschriften stammen aus dem Besitz der Dichterin und Komponistin Annette von Droste-Hülshoff, deren Autographensammlung aufgelöst und teilweise veräußert wurde. Fortan ergänzen die beiden Manuskripte den hauseigenen, beinahe 4.000 Blatt umfassenden Wieland-Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs.
Ein bisher unbekannter Brief an Johanna Schopenhauer

Vorder- und Rückseite von Wielands Brief an Johanna Schopenhauer vom 1. November 1807
Bei der ersten Handschrift handelt es sich um einen bisher unbekannten Brief Wielands vom 1. November 1807 an Johanna Schopenhauer. Wie dieser in die Sammlung von Annette von Droste-Hülshoff kam, ist nicht bekannt – vielleicht als Schenkung Schopenhauers, die von Droste-Hülshoff 1830 in Bonn kennengelernt hatte. Das auf zwei Seiten beschriebene Doppelblatt trägt neben der Adresse Schopenhauers, Wielands Siegel und der wahrscheinlich von von Droste-Hülshoff stammenden Notiz „Wieland.“ folgenden Text:
Madame,
für Ihre so gütige und gefällige Einladung,
an der interessanten Gesellschaft, welche sich
wochentlich um Sie her versammelt, Theil zu nehmen,
sage ich Ihnen den wärmsten Dank. Mit dem
größten Vergnügen werde ich diese schöne Gelegen-
heit, Sie selbst und Ihre Freunde, die einen so
vorzüglichen Theil der besten Gesellschaft in W.[eimar]
ausmachen, zu sehen, mir zu Nutze machen: und
wenn es nicht geschehen sollte, so wird die Schuld
immer an zufälligen und unvermeidlichen Abhaltungen,
nie an meinem guten Willen liegen.
Ich bin mit wahrer Verehrung und Ergebenheit
dero
v.[on] H.[ause] den 1. Nov. gehorsamster Diener
1807. Wieland.
Vorausgegangen war diesem Schreiben eine vermutlich schriftliche Einladung der damals 41-jährigen Schopenhauer. Sie war ein Jahr zuvor mit ihrer neunjährigen Tochter Adele nach Weimar gekommen und hatte sich während der französischen Besatzungszeit um die notleidende Bevölkerung verdient gemacht. Um die Stimmung zu heben, hatte sie im November 1806 einen geselligen Zirkel ins Leben gerufen, der sich während des Winters zweimal wöchentlich in ihrer Wohnung an der Esplanade traf. An dem ‚Theetisch‘ nahmen zahlreiche prominente Weimarer teil, darunter Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Justin Bertuch, Johannes Daniel Falk und Carl Ludwig Fernow. Der Salon entwickelte sich zu einem kulturellen Zentrum des geselligen Lebens der Stadt, bei dem auch Wieland nicht fehlen durfte.

Johanna Schopenhauer mit ihrer Tochter Adele vor der Staffelei, Ölgemälde von Caroline Bardua, 1806

Christoph Martin Wieland mit dem russischen Sankt-Annen-Orden, Ölgemälde von Ferdinand Jagemann, 1808
Nach ihrem ersten Zusammentreffen im November 1806 beschrieb Schopenhauer Wieland gegenüber ihrem Sohn Arthur mit folgenden Worten: „Er ist 73 Jahr alt, lebhaft genug für sein Alter. Er bat auch zu mir kommen zu dürfen. Bey schlechtem Wetter geht er nicht aus; daher ist er noch nicht gekommen, und da er ohne Spiel nicht leben kann,“ – Wieland war ein leidenschaftlicher Kartenspieler – „so wird er bey mir seine Rechnung nicht finden; denn in meinem Zirkel spielt niemand. Auch weicht er Göthen sehr an Interesse. Er trägt ein schwarzes Käppchen, wie ein Abbé; das giebt ihm bey seinem weißen Haar etwas Würdiges. Er hat eine französische Physiognomie, und kann nie gut ausgesehen haben; jetzt ist er, besonders ohne Brille, ziemlich häßlich. Er war gar freundlich und aufmerksam gegen mich und schien viel von mir gehört zu haben“.[1]
Trotz dieser Bedenken wurde Wieland schon kurz nach dieser ersten Begegnung zu einem regelmäßigen Gast in Schopenhauers Salon. Friedrich Wilhelm Riemer beschrieb den üblichen Ablauf dieser Abende in einem Brief an Carl Friedrich Ernst Frommann: „Sie treten ein und finden eine Versammlung von Männern zunächst, und dann um den Theetisch die Damen […]. Man nimmt Thee, auch Zwieback und Butterbrot, man schwatzt von novis, politischen und literarischen; man zeichnet, man spielt Clavier und singt. Um 6 Uhr geht man hin, um oder nach 8 schleicht man sich wieder fort.“[2]
Auch den Abend des 1. November 1807 verbrachte Wieland an Schopenhauers ‚Theetisch‘. Das geht aus einem Tagebucheintrag des ebenfalls anwesenden Theologen und Dichters Johann Stephan Schütze hervor, in dem es heißt: „Sonntag. Bei der Sch[openhauer]. Mit Goethen über das Wiener Journal. Auch der alte Wieland ist da."[3] Wieland wurde zum gern gesehenen Gast der Salonnière, die ihre Einladung jeweils mit Beginn der neuen Saison im Herbst eines jeden Jahres erneuerte. Zwar scheint sich keine der an Wieland gerichteten, eigens von Schopenhauer angefertigten Einladungskarten erhalten zu haben, ein weiterer Dankesbrief Wielands vom 3. November 1808 belegt aber, dass dieser weiterhin zum Kreis der Eingeladenen zählte. [4]
Einzelblatt aus Wielands Übersetzung der Briefe Ciceros
Die zweite Handschrift – ein doppelseitig beschriebenes und mit einem zeitgenössischen Echtheitsvermerk versehenes Einzelblatt im Oktavformat – gehört zu den seltenen Werkmanuskripten Wielands. Wie um 1800 noch durchaus üblich, verband dieser mit seinen Manuskripten noch kaum einen eigenen Wert. Das gilt insbesondere für die Werkmanuskripte. Vorstufen und Druckvorlagen seiner Werke bewahrte Wieland nicht gesondert auf, sondern vernichtete sie in der Regel im Anschluss an die Drucklegung. Die meisten der erhaltenen Werkmanuskripte sind folglich Zufallsüberlieferungen, die auf Umwegen und meist nur bruchstückhaft erhalten blieben. Eine Ausnahme bilden in dieser Hinsicht die Manuskripte zu Wielands letztem großen Werk, der Übersetzung sämtlicher überlieferter Briefe des römischen Politikers und Philosophen Cicero ins Deutsche, in deren Kontext auch das neu erworbene Einzelblatt gehört.

Vorder- und Rückseite des Einzelblattes aus Wielands Manuskript seiner Übersetzung der Briefe Ciceros

Titelblatt des vierten Bandes von Wielands Übersetzung von M. Tullius Cicero's Sämmtlichen Briefen, Zürich 1811
Die Arbeit an dieser Übersetzung hatte Wieland 1806 begonnen. Damals hatte der 73-Jährige eine letzte „grosse, schwere und mühselige […] Geistesarbeit“ gesucht, um sich aus der „fürchterlich einengenden Gegenwart“ zu befreien. [5] Obwohl er ab 1808 beinahe jährlich einen Band publizierte, konnte Wieland die Arbeit an der Übertragung der rund 900 Briefe nicht mehr abschließen. Als er am 20. Januar 1813 im Alter von 79 Jahren starb, waren von den sieben geplanten Bänden lediglich fünf erschienen. Allerdings lagen umfangreiche Manuskripte sowohl der bereits gedruckten wie auch der noch fehlenden Bände vor. Die Erben Wielands erkannten den ökonomischen Wert dieser Papiere sofort und bemühten sich um den Abschluss der Übersetzung.[6] Während Friedrich David Gräter die beiden noch offenen Bände 1818 und 1821 publizierte, verwahrten Wielands Nachkommen die Manuskripte, bis sie 1889 durch Vermittlung des Wieland-Forschers Bernhard Seuffert als sogenannte ‚Stiftung Emminghaus‘ ins Goethe- und Schiller-Archiv kamen.
Aber welchen Weg nahm das neu erworbene Einzelblatt? Wir wissen es nicht! Sicher ist lediglich, dass es sich um ein Bruchstück aus den Manuskripten der Cicero-Übersetzung handelt: Das Blatt enthält den Schluss der achten und die vollständige neunte Erläuterung zum Zehnten Buch der Übersetzung. In ihnen diskutiert Wieland philologische Fragen zu Einzelstellen der betreffenden Briefe. Der Text erschien 1811 auf den Seiten 509 bis 511 des vierten Bandes der Druckausgabe und dürfte folglich kurz zuvor, vermutlich im Jahr 1810, entstanden sein.
Dank dieser Zuordnung lässt sich das Blatt nun wieder in seinen ursprünglichen Manuskriptzusammenhang einfügen. Es gehört in ein Konvolut von Handschriften, das heute im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrt wird und Wielands Manuskripte zum Neunten und Zehnten Buch seiner Cicero-Übersetzung enthält. Tatsächlich lässt sich der ehemalige Platz des Blattes sogar ganz genau bestimmen. Neben dem Textzusammenhang sprechen auch Format, Farbe, Wasserzeichen und Art des Papiers sowie Anlage und Duktus der Handschrift für diese Zuordnung. Am linken Rand des Blattes sind zudem noch Spuren der alten Bindung erkennbar. Nur wann und unter welchen Umständen das Blatt aus dem ursprünglichen Manuskriptzusammenhang herausgelöst wurde, ist unklar.
Ein interessanter Fund bringt allerdings Licht ins Dunkel! Wie bereits erwähnt trägt das neu erworbene Einzelblatt einen zeitgenössischen Echtheitsvermerk:

Echtheitsvermerk von Friedrich von Müller
Wieland’s Handschrift
Bruchstück des M[anu]sc[ri]pts seiner Uebersetzung
der Briefe des Cicero. Bezeugt
von Müller.
Bei dem Unterzeichner handelte es sich um den Weimarer Juristen und Politiker Friedrich von Müller. Er hatte Kontakt zu Wieland unterhalten und war nach dessen Tod auch in die Verhandlungen zur Versorgung von Wielands Angehörigen involviert. Ein ganz ähnlicher Echtheitsvermerk findet sich im erwähnten Konvolut nur einige wenige Seiten zuvor:

Echtheitsvermerk von Ludwig Friedrich von Froriep
Dies ist die Handschrift Wielands, aus dem vierten Bande
seiner Uebersetzung der Briefe Cicero’s.
Welches bezeugt Weimar 22 Aug. 1845
LFvFroriep
Unterzeichner war diesmal der Weimarer Mediziner Ludwig Friedrich von Froriep, der als Schwiegersohn von Wielands Freund und Geschäftspartner Friedrich Justin Bertuch Wielands Handschrift ebenfalls gut kannte. Stil und Duktus dieser beiden Echtheitszertifikate sind durchaus ähnlich, stammen vermutlich sogar von der gleichen Hand. Zudem kam auch dieses zweite Einzelblatt, das Teile von Wielands Übersetzung einiger Briefe des Zehnten Buches enthält, in Folge einer bei J. A. Stargardt veranstalteten Auktion im Herbst 1967 ins Goethe- und Schiller-Archiv und konnte daraufhin an seine ursprüngliche Stelle zurückgelegt werden.
Obgleich keine letzte Sicherheit besteht, liegt folglich der Schluss nahe, dass auch das neu erworbene Blatt um 1845 aus seinem Manuskriptzusammenhang herausgelöst wurde. Wielands Erben haben in jener Zeit offenbar Teile seiner Nachlasspapiere auseinandergenommen und sich deren Echtheit vor dem Verschenken oder Verkaufen von ehemaligen Bekannten Wielands bestätigen lassen.[7] Danach verliert sich die Spur der Manuskripte. Wie das jetzt erworbene Blatt an von Droste-Hülshoff kam, konnte bislang nicht ermittelt werden. Allerdings kann es nicht lange in ihrem Besitz gewesen sein, denn sie starb bereits im Mai 1848.
Umso schöner ist es, dass der ursprüngliche Manuskriptzusammenhang nun wiederhergestellt werden konnte und das Blatt nach beinahe 180 Jahren wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückgekehrt ist.

Wiederhergestellter Manuskriptzusammenhang. Rechts das neu erworbene Blatt. Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv (GSA 93/23)
[1] Zitiert nach: Starnes, Thomas C.: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 3. Sigmaringen 1987, S. 247 f.
[2] Zitiert nach: ebd., 248.
[3] Zitiert nach: ebd., 274.
[4] Vgl. Wielands Briefwechsel. Hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Bd. 17.1. Berlin 2001, S. 478 f.
[5] M. Tullius Cicero’s Sämmtliche Briefe übersetzt und erläutert von C. M. Wieland. Bd. 1. Zürich 1808, S. XVI.
[6] Vgl. Martin, Dieter: Wielands Nachlass. Kapitalien, Hausrat, Bücher. Heidelberg 2020, insbes. S. 173-182.
[7] Einen weiteren Fall eines offenbar absichtlich aus dem Manuskriptzusammenhang herausgelösten Einzelblattes aus dem gleichen Konvolut, das sich im Besitz „des Direktors der Münchner Hof- und Staatsbibliothek [Karl] v. Halm“ befand, dokumentierte schon Seuffert, Bernhard: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. III. und IV. Berlin 1905, Nr. 100, S. 37.