Benedikt Kautsky nach seiner Befreiung im KZ Buchenwald, nach dem 11. April 1945. National Archives at College Park, Maryland, Fotodatenbank der Gedenkstätte Buchenwald, Sig. 026-01.114

Ein Buchenwald-Häftling als früher Provenienzforscher

Benedikt Kautsky und die Bücher aus einstigen Gewerkschaftsbüchereien und SPD-Bibliotheken

Art: ArtikelAutor: Paul Kahl
09.04.2025 6

In der Zeit der Weimarer Republik gab es in Thüringen ca. 250 Gewerkschaftsbüchereien und SPD-Bibliotheken. Sie wurden 1933/34 von den Nationalsozialisten zwangsaufgelöst. Der größere Teil der Bücher wurde vernichtet, ein kleinerer Teil an staatliche Bibliotheken verteilt. So gelangten solche Bände auch in die damalige Weimarer Landesbibliothek. Bereits 1945 hat Benedikt Kautsky, ein ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Buchenwald, als kurzzeitiger Mitarbeiter der Bibliothek danach gesucht – eine frühe Form von ‚Provenienzforschung‘. Seine Recherchen blieben jedoch folgenlos – bis jetzt. Die Ermittlung einer jahrelang verschollenen Akte im Jahre 2022 und die genaue Auswertung von Hunderten von Dokumenten ermöglichten nun die Bestimmung von 193 Büchern. Sie konnten an die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung restituiert werden, bleiben als Dauerleihgaben aber im Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek erhalten.

Benedikt Kautsky nach seiner Befreiung im KZ Buchenwald, nach dem 11. April 1945. National Archives at College Park, Maryland, Fotodatenbank der Gedenkstätte Buchenwald, Sig. 026-01.114

Bücher „früherer sozialdemokratischer Ortsgruppen“

Der Vorgang ist aufschlussreich für das Vorgehen der sich etablierenden nationalsozialistischen Diktatur und Folge der sehr frühen systematischen Ausschaltung politischer Gegner durch die Vernichtung ihrer geistigen Grundlagen. Die Thüringische Landesbibliothek wurde zur Nutznießerin des Kulturgutraubes – auch wenn die hier in Rede stehenden Bücher, häufig Belletristik und sozialistische Sachbücher, keine bibliophile Aufmerksamkeit erregen konnten. Der größte Teil von ursprünglich geschätzten über 100.000 Bänden aus thüringischen Arbeiterbibliotheken wurde vernichtet, heute ist weniger als ein Prozent erhalten: Umso höher ist der dokumentarische Wert der jetzt identifizierten Bücher.

Frühe Provenienzforschung schon 1945

Der Bücherraub erregte bereits 1945 Aufmerksamkeit und führte gewissermaßen zu einer Frühform von ‚Provenienzforschung‘. Der österreichische Ökonom Benedikt Kautsky, kurz zuvor befreiter Häftling in Buchenwald, wurde, übergangsweise noch im Lager wohnend, Projektmitarbeiter der Landesbibliothek. Dort hatte er den Sonderauftrag, Bestände aus aufgelösten sozialdemokratischen Bibliotheken zu untersuchen. Er kam zunächst zu dem Schluss, dass „da kaum noch etwas zu holen“ ist, konnte aber schließlich über 650 Bände ausmachen – vermutlich sind die hier in Rede stehenden Bücher darunter –, wie aus seinem aufgefundenen und erstmals ausgewerteten Projektbericht von Juni 1945 hervorgeht (Archiv der Landesbibliothek im Goethe- und Schiller-Archiv). Daneben sind auch Kautskys Briefnotizen die Landesbibliothek betreffend bedeutende Zeugnisse dieser Zeit des Übergangs. Freilich wurde der Vorgang selbst jahrzehntelang nicht weiterverfolgt, bis die Provenienzforschung zu den selbstverständlichen Aufgaben sammlungsführender Einrichtungen aufstieg. Benedikt Kautsky spielte später eine wichtige Rolle für die Programme der sozialdemokratischen Parteien in Österreich und in Deutschland (Godesberger Programm).

Das Zugangsbuch der einstigen Landesbibliothek

Im Zugangsbuch der einstigen Thüringischen Landesbibliothek steht im Jahr 1934: Überweisung aus Thüringischen Bibliotheken früherer sozialdemokratischer Ortsgruppen u. ä.. Es folgt die Verzeichnung von gut 600 Büchern verschiedenster Themenfelder, die der Bibliothek einverleibt wurden. Die meisten von ihnen, sieht man von der Aussonderung von Doubletten und von Brandverlusten ab, sind in der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek erhalten, der Nachfolgerin der einstigen Landesbibliothek. Schon vor Längerem erregten sie die Aufmerksamkeit der Provenienzforschung, denn bei dem Hinweis auf sozialdemokratische Ortsgruppen liegt der Verdacht auf NS-Raubgut nahe: Bibliotheken von Gewerkschaften und von sozialistischen und sozialdemokratischen Gruppen wurden zwangsweise aufgelöst, und auch andere öffentliche Bibliotheken waren angehalten, entsprechende Literatur abzugeben – oder taten dies von sich aus und mit großer Bereitschaft. Im elektronischen Bibliothekskatalog tragen diese im Zugangsbuch verzeichneten Titel bislang einen Vermerk NS-Raubgut, der künftig präzisiert werden wird.

Pauschale Lösung unmöglich

Dennoch gestaltete sich die Bearbeitung dieses Bestandes nicht als einfach: Bei gut 130 Büchern nennt das Zugangsbuch zusätzliche Herkunftsangaben, die dem Hinweis auf sozialdemokratische Ortsgruppen widersprechen, nämlich Volks-, Stadt-, Dorf- und Schulbibliotheken wie etwa die Schul- und Volksbücherei Obergrunstedt, sowie Lehrerseminare und dergleichen: Dies sind öffentliche Einrichtungen. Sie waren im Rahmen der nationalsozialistischen Zensurvorgaben (schwarze Listen) ebenfalls verpflichtet, politisch unerwünschte Literatur abzugeben. Bei den Büchern mit dieser Provenienz handelt es sich nicht um NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut, da öffentliche Einrichtungen nicht Gegenstand staatlichen Kulturgutraubs sein können. Die Bücher wurden von einer staatlichen Einrichtung an eine andere verschoben, sie sind insofern als ‚unverdächtig‘ anzusehen. Der Hinweis Verdacht auf NS-Raubgut fällt in all diesen Fällen im Bibliothekskatalog künftig fort, die Bücher werden nicht restituiert.

Provenienzrecherche

Auch in allen anderen Fällen ist ein pauschales Vorgehen unmöglich, da verschiedene Provenienzen zusammenkommen, sozialdemokratische Ortsgruppen (SPD-Ortsgruppe Langenorla), Gewerkschaften (Ortskartell Wünschendorf), Metall- und Porzellanarbeiterverbände und schließlich hin und wieder auch religiöse Gruppen wie die Internationale Bibelforschervereinigung Blankenhain. Daneben stehen Bücher, die sich keiner dieser Gruppen zuordnen lassen, und dies umso mehr, als das Zugangsbuch den Vorgang ebenso dokumentiert wie verschleiert: Die Bücher werden als Überweisung oder als D für Donum, also als Geschenk, bezeichnet. Der Jahresbericht der Bibliothek für 1934 spart den Erwerb der Bücher mit ausdrücklicher Entscheidung aus. Die Bibliothek ließ das thüringische Volksbildungsministerium wissen: Die Überweisung der aus den ehemaligen sozialdemokratischen Büchereien stammenden Werke ist in dem für die Öffentlichkeit bestimmten Jahresbericht nicht erwähnt.

Neben dem Zugangsbuch können, soweit vorhanden, Provenienzmerkmale in den Büchern selbst Auskunft geben, in der Regel Stempel und Signaturen; sie sind im Bibliothekskatalog dokumentiert. Zusätzliche Auskunft bieten die begleitenden Schriftwechsel, Dutzende von amtlichen Schreiben der verschiedensten kleinen thüringischen Bibliotheken an die Weimarer Landesbibliothek, die gemeinsam mit den übersendeten Büchern eingingen. Alle diese Schriftstücke sind in einer gemeinsamen Akte gesammelt, die jahrelang verschollen war und 2022 im Goethe- und Schiller-Archiv ermittelt werden konnte. Häufig liegt diesen Schreiben eine Liste mit Titeln bei, die zur Bestimmung beiträgt.

Zugangsbuch der Thüringischen Landesbibliothek Weimar, Signatur: Loc A : 200. 1931, Foto: Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Zugangsbuch der Thüringischen Landesbibliothek Weimar, Signatur: Loc A : 200. 1931, Foto: Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Zugangsbuch der Thüringischen Landesbibliothek Weimar, Signatur: Loc A : 200. 1931, Foto: Herzogin Anna Amalia Bibliothek

Provenienzmerkmal Stempel (durchgestrichen, durch neuen Stempel ersetzt) „Sozialdemokratischer Verein Langenorla“ u. Stempel der Thüringischen Landesbibliothek Weimar (1934) in: H. Schneider, Die gelbe Schutztruppe der Unternehmer, Hannover 1912

Provenienzmerkmal Stempel (durchgestrichen) „Ortskartell Wünschendorf an der Elster“, in: Wilhelm Liebknecht, Sein Leben und Wirken, hrsg. v. Kurt Eisner, Berlin 1906

Zwei Beispiele für die Restitution von SPD- und Gewerkschaftsbeständen an die Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Bücherei der SPD-Ortgruppe Langenorla und ihr Aktenschrank wurden laut Entscheidung der Landesregierung an die Ortsgruppe der NSDAP in Langenorla ‚abgegeben‘. Aus einem Begleitschreiben des Thüringischen Kreisamtes Saalfeld an die Gendarmeriestation in Pößneck vom 26. Januar 1934 geht die Anweisung hervor: Vor der Übergabe ist die Bücherei jedoch von marxistischen Stücken zu bereinigen. Die ausgesonderten marxistischen Stücke sind von dort unter Bezugnahme auf unser Schreiben an die Landesbibliothek in Weimar zu schicken. Es wurden 106 Titel – Bücher und Hefte – an die Landesbibliothek gesandt, nämlich klassenkämpferische Stücke, während zehn weitere Titel, als unpolitische Stücke von mehr oder weniger Wert bezeichnet, in Langenorla verblieben. Die Bibliothek bestätigte den Eingang und die Übernahme in den eigenen Bestand.

Ähnlich ein Schreiben über die Auflösung des gewerkschaftlichen Ortskartells Wünschendorf bzw. seiner Bücherei. Es heißt hier ausdrücklich: Die in diesem Verzeichnis aufgeführten Bücher wurden am 23. Mai 1934 der Thür. Landesbücherei [sic] in Weimar zugesandt. Die Landesbibliothek bestätigt den Erhalt: Die Bücher werden, soweit hier nicht vorhanden, unsern Beständen zugeführt, im übrigen eingestampft. Heute sind ca. vierzig Bände bekannt, die dem Ortskartell Wünschendorf zugewiesen werden können. Ihr verfolgungsbedingter Entzug ist eindeutig belegt.

Restitutionsempfänger ist in den allermeisten Fällen die Friedrich-Ebert-Stiftung, und zwar ebenso bei SPD-Besitz wie bei Gewerkschaftsbestand. Letzteres jedenfalls dann, wenn es sich um die sogenannten ‚freien‘ Gewerkschaften handelt, die im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossen waren (daneben gab es die ‚liberalen‘ und die ‚christlichen‘ Gewerkschaften, die nicht zum ADGB gehörten; sie spielen aber im vorliegenden Fall keine Rolle).

Kombination von Hinweisen

Nicht alle Rechercheergebnisse sind gleich eindeutig. 58 Bücher wurden schon 2019/20 restituiert, weil ihre SPD-Provenienz offensichtlich war. Im Jahr 2025 wurden nunmehr 193 weitere Titel an die Friedrich-Ebert-Stiftung restituiert. Insbesondere durch Aktenauswertung konnte die Zahl der eindeutig bestimmbaren Titel vergrößert werden. Im Idealfall stimmen drei Hinweise überein: Provenienzmerkmale im Buch selbst, die Verzeichnung im Zugangsbuch und ein begleitender Schriftwechsel. Ein Provenienzmerkmal im Buch ist eindeutiger als ein Aktenbefund, da nur so das Exemplar genau bestimmt werden kann. Es bleiben dennoch zurzeit etwa 130 Fälle offen. Hier kommt die historische Sammlungsforschung vorläufig an ihre Grenze. Die nun vollzogene Restitution erinnert aber an ein verschollenes Kapitel Kulturgeschichte – an einstmals zahlreiche thüringische Kleinstbibliotheken, die Arbeiterbewegung und Bildungsanliegen verbinden wollten und die im Nationalsozialismus brutal zerstört wurden.

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