
Medienkunst von Michał Matejko
Ein Elektriker findet die Klassik im Dreck
Goethes Dichtung und die Frage nach der Rettung der Menschheit
Im Poetischen sind Forschung und Lehre eins. Denn die Dichtung darf ihren jeweiligen Gegenstand nicht so darstellen, wie das ein Bericht, eine nackte Liste oder ein nüchternes Protokoll tun, bei deren Anfertigung jeweils vorab entschieden werden kann, ob das Ergebnis eher für die Ausbildung im Bekannten (also Lehre) oder für die Entdeckung von Gesetzen im Unbekannten (also Forschung) gut sein soll.
Dichtung muss ihr Gegebenes immer wie zum ersten Mal gestalten. Wenn das gelingt, kann das Resultat, weil es sich beispielsweise reimt oder auf sonst eine Weise einprägsam ist, leichter weitergegeben und behalten werden, taugt also als Lehre, was aber wiederum nur da klappt, wo die Dichtung den betreffenden Gegenstand nicht in fertigen Formen übernimmt, sondern sich selbstständig erschließt, was unweigerlich Entdeckungen mit sich bringt, weshalb es der Forschung zugerechnet werden darf.

Medienkunst von Michał Matejko
Der Alltag zwischen Forschung und Lehre in unserer Gegenwart sieht anders aus: Die beiden driften zusehends auseinander. Was die Gesellschaft kann, weiß sie nicht: Wir benutzen Geräte, die wir nicht verstehen, die ganze Zeit, niemand erklärt sie allen, nur die Zuständigen geben ihresgleichen weiter, was sie herausfinden müssen, damit diese Geräte erfunden, gebaut und verbessert werden können.
Dieses Auseinanderdriften von Forschung und Lehre im Gemeinwesen hat institutionelle Ursachen, und die haben ökonomisch-politische Gründe. Die Lehre soll einerseits meist der Staat besorgen, die Schule, die Universität, finanziert von mehr oder weniger allen, während andererseits gerade die lukrativsten und oft zugleich sachlich interessantesten Teile der Forschung zum Zweck der wirtschaftlichen Verwertung schon an den Quellen die Konzerne, Monopole, die großen Fondsgesellschaften und das Wagniskapital abgreifen. Überdies kaufen sich diese ökonomischen Instanzen auf dem Wege von Drittmittel- und verwandten Wissenschaftsfinanzierungsmodellen in die Universitäten ein, sofern dort nicht nur gelehrt und gelernt, sondern eben auch geforscht wird. Um das alles zu organisieren, muss das qualifizierte Personal dieser Universitäten daher nicht nur forschen und lehren, sondern mehr und mehr Zeit für die Administration aufwenden, was der Forschung wie der Lehre Zeit und Energie entzieht.
Zwischen Wirtschaft und Staat gibt es somit heute kaum einen Weg, der es einer Privatperson ohne Riesenvermögen erlauben würde, in so viele und so weit auseinanderliegende Wissensgebiete vorzudringen, wie Johann Wolfgang Goethe sie gekannt und für sich produktiv gemacht hat, von der Mikroskopie (seine Liebe zu den putzigen „Infusionstierchen“ ist belegt) bis zur Kosmologie (er hat es geistig tatsächlich „bis an die Sterne weit“ gebracht, wie er eine Figur sagen lässt).
Wohlüberlegt empfahl der Dichter seiner Mit- und Nachwelt in der dritten Person einer Selbstdarstellung, „den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz“ solle man in einem „immer tätigen“ Wissenwollen erkennen, weshalb er sich unter anderem noch im hohen Alter vom Vornamensvetter und Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner und dessen Kollegen Jöns Jakob Berzelius über Friedrich Wöhlers berühmte Forschungen zur Harnstoffsynthese unterrichten ließ, nicht einfach aus Neugier, sondern als Mann vom Fach, was Forschung und Lehre anging: Die Gedanken, die solche Neuigkeiten bei ihm auslösten, arbeitete er umgehend in die Homunkulus-Abschnitte des zweiten Faust-Teils ein.
Wäre dieser aufgeschlossene, dabei aber nie naive Ausnahmemensch heute am Leben, so würde er sich zweifellos für die Sequenzierung des Proteoms durch die neueste Biochemie oder für Alternativen zu Lithiumbatterien interessieren. Aber den gesellschaftlichen Kontext der Wissensproduktionsfelder, die derlei umtreibt, sähe er nicht nur mit Blick auf die Abschirmung der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Wirtschaft von der Öffentlichkeit, sondern auch in öffentlichen Universitätsbelangen vermutlich ähnlich kritisch wie die akademische Wissenschaft seiner Zeit, über die er gesprächsweise bemerkt hat: „Es herrscht bei uns der Gebrauch, daß man die Wissenschaften entweder ums Brot verbauern lässt, oder sie auf den Kathedern förmlich zersetzt, so daß uns Deutschen nur zwischen einer seichten Popularphilosophie und einem unverständlichen Galimathias transzendentaler Redensarten gleichsam die Wahl gelassen ist. Das Kapitel von der Elektrizität ist noch das, was in neuerer Zeit nach meinem Sinne am vorzüglichsten bearbeitet ist.“
Die deutschen Sonderprobleme erkannte er freilich als Spezialfälle weltweiter Modernitätswehen, über die er an einen engen Freund, den Komponisten und Musikpädagogen Carl Friedrich Zelter, hellsichtig schrieb: „Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, dass eine mittlere Kultur gemein werde, dahin streben die Bibelgesellschaften, die Lancasterische Lehrmethode, und was nicht alles.“
Inzwischen ist der Einfluss jener „Bibelgesellschaften“ und der obskuren „Lancasterischen Lehrmethode“ (bei der es darum ging, Leute während der Ausbildung nicht nur in einer Sache, sondern auch in deren Vermittlung zu unterrichten) merklich geschwunden. Aber zu dem, was Goethe wegwerfend in der Wendung „was nicht alles“ zusammenfasst, gehören auch neueste Erscheinungen, zum Beispiel gewisse Bemühungen in den USA, aus vorgeblichem Mitgefühl mit jungen Leuten aus ethnisch und anderweitig diskriminierten Bevölkerungsgruppen, deren Mathematikprüfungsergebnisse zu wünschen übrig lassen, einfach die Ausbildungsanforderungen etwa bei der Differenzial- und Integralrechnung zu senken, damit es solche Kinder und Jugendlichen etwas leichter haben. Statt Ableitungsregeln und Verwandtes zu büffeln, sollen sie dann simple Computerprogrammierfertigkeiten erlangen, damit sie sich bei den Unternehmen, die heute die „Fazilitäten der Kommunikation“ regieren, von denen Goethe dem Freund schrieb, für niedrige Löhne verdingen können. Das Mitgefühl, das solche Vorschläge speist, ist entweder geheuchelt, oder die Hilfsrezepte sind nicht durchdacht, vielleicht auch beides. Denn die Mathenoten der Benachteiligten sind ja vermutlich nicht deshalb schlecht, weil den Armen irgendeine Denkvoraussetzung angeborener- oder sonstwie unabänderlicherweise fehlt, sondern weil man, wenn man das Differenzieren und das Integrieren lernen will, konzentriert und in Ruhe sehr viel üben muss, wofür den Kindern und Jugendlichen, um die es da geht, die sozialen Räume fehlen. Sie hätte folglich erst einmal bereitzustellen, wer es mit der Hilfe für die Armen wirklich ernst meint, bevor Eingriffe ins Lerngebiet sich begründetermaßen rechtfertigen ließen. Aber eine derartige Veränderung der Lernbedingungen kostet natürlich mehr Geld als die kalte Streichung von Rechenunterrichtseinheiten und ihre Ersetzung durch ein paar oberflächliche Coding-Kurse.

Medienkunst von Michał Matejko

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Es ist ein altes, schlimmes Lied: Schon in Goethes Faust ist der Zusammenhang, in dem gesellschaftlich zugängliches Wissen gewonnen und verwertet wird, keine Atmosphäre der reinen Freude an Erkenntnissen, sondern ein gewitterdichter Wust dunkelster Motive. Als das Doppeldrama entstand, war die heutige Weltwirtschaftsordnung aus Gewinnstreben unter brutalen Klassenverhältnissen und Raubbau an nicht erneuerbaren Ressourcen erst im Heraufziehen begriffen; im zweiten Teil des Dramas sieht man den Teufel einige der wirtschaftspolitischen Fundamentalvorgaben dieser unheiligen Angelegenheit setzen; aber Goethe moralisiert da nicht.
Denn er weiß, dass man sich weder die Quellen des materiellen Auskommens noch die der Erkenntnis unbedingt aussuchen kann. Auch ein Mensch, der seine eigene soziale Umgebung ablehnt und sie gern anders hätte, kann sich oft nicht erlauben, auf den Gebrauch von Einsichten, Anschauungsweisen und daraus gewonnenen Werkzeugen zu verzichten, die dieser Umgebung entsprungen sind.
Was das für Versuche bedeutet, ungerechte Verhältnisse abzuschaffen, haben sozialistische, anarchistische und kommunistische Bewegungen seit mittlerweile bereits mehreren Hundert Jahren lernen müssen; nicht selten unter Schmerzen.
Eine bedeutende Metapher für diesen Prozess findet sich in einem Roman, der insgesamt von der schwierigen Arbeit handelt, die Bestände an Wissen und Können, die in Klassengesellschaften nur den Eliten vorbehalten sind, für davon Ausgeschlossene zu öffnen: Die Aula von Hermann Kant, erschienen 1965 in der DDR, erzählt von einer Fakultät, an der die Kinder von Fabrikarbeitern oder Landarbeiterinnen Ingenieurswissenschaften, Medizin oder fremde Sprachen lernen. Eine kurze Episode, gestaltet in der ersten Person, schenkt uns ein Gleichnis auf die widrigen Umstände: „Mit Goethe bin ich schon in meiner Lehrzeit bekannt geworden. Ich lernte Elektriker, wer von euch Elektriker ist, der hat bestimmt auch schon einmal in einem Haus arbeiten müssen, in dem es entsetzlich schmutzig war. Aber ich glaube, eine so schmutzige Wohnung wie die, in der ich auf Goethe stieß, gibt es nicht wieder. Jedenfalls scheue ich die Vorstellung, dass es so etwas zweimal geben könnte. Es war barbarisch, und ich streikte. Ich setzte mich auf die Trittleiter und wartete auf meinen Meister. Von der Leiter aus sah ich auf einem Schrank den von Staub gerundeten Umriß eines Bücherstapels. Ich habe einen Band von Spinnweben befreit, und am Abend hatte ich den Faust, den ersten Teil, gelesen.“
Dass im sozialistischen Bildungsroman der Faust vorkommt, ist kein Zufall. Goethes größtes Buch handelt von der Selbst- und Welterschließung als Selbst- und Welterschaffung, und deren Wendungen ins Gesamtgesellschaftliche ist das Kernprogramm fortschrittlicher Bewegungen. Der später unter Stalin hingerichtete sowjetische Theoretiker und Politiker Nikolai Bucharin erklärte 1934, Goethe habe im deutschen Nationaldrama einerseits den allgemeinen Kampf des menschlichen Geistes um seine Verwirklichung auf Erden gestaltet, damit aber zugleich eine philosophisch-poetische Konzeption der zu sich selbst findenden bürgerlichen Ära geschaffen. Genau das müsse die Kunst einer neuen, besseren Epoche eben auch schaffen, wenn sie ernst genommen werden wolle: diese grandiose Verschränkung abstrakt-überzeitlicher Gedanken mit konkret historischen.
Im Sprachraum Goethes hat die Literatur der DDR diesen Anspruch in ihren besseren Zeiten sehr ernst genommen, häufig in Romanen mit naturwissenschaftlich-technischem Hintergrund, etwa in Alchimisten (1967) von Eduard Klein oder in Kippenberg (1979) von Dieter Noll. Es gibt sogar ein Stück aus diesem untergegangenen Land, das im direkten, kühnen Zugriff auf Goethes Versmittel das gemeinsame Lernen in der Produktion von Bedarfsgütern dramatisiert, Die Sorgen und die Macht von Peter Hacks, entstanden zwischen dem Ende der Fünfziger- und dem Beginn der Sechzigerjahre. Das wertvolle Projekt der sprachbild-optischen Zerlegung der Überblendungserscheinungen von Wissen und Können mittels der feingeschliffenen Prismen, die Goethe der Welt gab, hat das Ende der DDR-Literatur, die sich auf diese Zerlegung so wunderbar verstand, zum Glück überlebt: In einem der besten Bildungsromane unserer Zeit, The Second Coming von Garth Risk Hallberg, erschienen im Sommer 2024 in den USA, kommt eine junge Frau vor, die Deutsch lernen will, um Europa erforschen zu können, sich aber gegen einen Sprachlehrgang entscheidet und für das Lernen durch Lektüre – sie wählt West-östlicher Divan von Goethe, der damit selbst eine geistige Reise unternommen hatte, nicht nach oder in Europa, sondern ins alte Persien. Dichtung lernt und lehrt: Das hört nicht auf, das reißt nicht ab, das mag noch die Menschheit retten.

Medienkunst von Michał Matejko
Der polnische Künstler Michał Matejko antwortet in einem Bild-Essay mit digital verursachten Störungen, sogenannten „Glitches“, auf den Beitrag von Dietmar Dath und Goethes „Projekt der sprachbild-optischen Zerlegung der Überblendungserscheinungen von Wissen und Können“.
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