Faszination eines Klassikers

Goethe als Figur in der Gegenwartsliteratur

Art: Artikel Autor*in: Dr. Davina Beck
20.08.2025 5

Egal ob als Staatsmann, Liebhaber oder Detektiv: Johann Wolfgang von Goethe ist so populär wie nie – zumindest, was dessen Darstellung als literarische Figur in der aktuellen Gegenwartsliteratur anbelangt. 276 Jahre nach seiner Geburt und allen Kanondebatten zum Trotz arbeiten sich Generationen an Schriftsteller*innen und Leser*innen nach wie vor an dem Autor ab, der unser kulturelles Selbstverständnis wie kaum ein anderer geprägt hat. Eine Bestandsaufnahme von Davina Beck.

„Er läßt einen nicht los, von Anfang an ließ er einen nicht los. Ich hätte gern verstanden, wodurch er die Menschen so an sich zu binden vermag, ja, ich hätte es gerne gewußt!“1 Mit diesen Worten sinniert der Römer Beri in Hanns-Josef Ortheils Roman Faustinas Küsse (1998) über seine Faszination für Goethe, den er auf dessen Italienreise kennengelernt hat. Die Frage, was genau an Goethe so fesselnd ist, lässt der Text offen, überlässt sie vielmehr den Leser*innen zur Beantwortung. Dass Goethe einen aber tatsächlich nicht loslässt, und zwar nicht nur den fiktiven Protagonisten, sondern Generationen an Autor*innen und Leser*innen, davon zeugen nicht zuletzt literarische Darstellungen wie die von Ortheil selbst, biografische Fiktionen, in denen Goethe als Figur auftritt.

Goethe und kein Ende: Der Erfolg einer historischen Schriftstellerfigur

In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist Goethe der häufigste Schriftsteller – mit Abstand. In einer kürzlich erschienenen Untersuchung zu historischen Schriftsteller*innen als Figuren habe ich 250 erzählende und dramatische Werke aus dem Zeitraum 1990–2022 zusammengetragen und hinsichtlich der Auftritte von Schriftsteller*innen ausgewertet.2 Das Ergebnis: Goethe kommt in fast einem Viertel dieser Fälle in einer nennenswerten Rolle vor. Dies ist umso erstaunlicher vor dem Hintergrund, dass alle weiteren vorkommenden Schriftsteller*innen – immerhin 182 – nicht einmal annähernd diese Werte erreichen. Goethe tritt dreimal so oft wie Schiller und etwa viermal so oft wie Kleist, den zweit- und dritthäufigsten Schriftstellerfiguren, in Erscheinung. Seit 1990 liegt Goethe bezogen auf die Anzahl an biografischen Schriftstellerfiktionen in jedem Jahrzehnt an der Spitze. Reine Online-Publikationen und im Selbstverlag publizierte Texte sind hierbei nicht eingerechnet. Die Dunkelziffer ist damit vermutlich noch höher.

Diese Befunde scheinen mit Blick auf Goethes Bekanntheitsgrad und Bedeutsamkeit erwartbar, doch schaut man näher auf gegenwärtige Literaturdebatten und -entwicklungen, sind sie keineswegs selbstverständlich. In den vergangenen Jahren hat es zahlreiche Vorstöße gegeben, den literarischen Kanon zu verändern. Im Jahr 2024 titelte der Tagesspiegel in einem Artikel über die Initiative #breiterkanon: „Mehr als nur Goethe und Schiller“.3 Darüber hinaus verliert der Faust sukzessive seinen Status als Pflichtlektüre in Schulen.4

Das Interesse an Goethe als biografischer Person, sein Rang als Leitfigur und festes Element unseres kulturellen Selbstverständnisses wird von diesen Diskursen dagegen kaum beeinflusst.

Von Goethe als Liebhaber, Wanderer und Staatsmann bis hin zum Detektiv, Zeitreisenden und Unsterblichen – die literarischen Goethefiktionen der Gegenwart sind vielfältig und scheuen kaum Grenzen. Titel wie Goethes Mord (Hugo Schultz 1999), Goethes Hinrichtung (Viktor Glass 2009) oder Unsterblichkeit ist auch keine Lösung. Ein Goethe-Schiller-Desaster (Christian Tielmann 2019) brechen mit Erwartungen und erzeugen damit Aufmerksamkeit auf dem Literaturmarkt. Zugleich bringen sie die Neugier an Kontroversen in Goethes Leben zum Ausdruck. So beschäftigt sich der Roman Goethes Mord mit dem zwiespältigen Verhältnis des Dichters zu J.M.R. Lenz, Goethes Hinrichtung mit seiner Haltung im Fall der zum Tode verurteilten Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn.

Georg Melchior Kraus: Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), 1775-76, Leihgabe der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen
Goethefiktionen soweit das Auge reicht: In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist Goethe die mit Abstand häufigste Schriftstellerfigur. © Dr. Davina Beck

Der vielseitige Dichterfürst. Literarische Goethefiktionen

In der Gegenwartsliteratur sind drei Verfahren im Umgang mit Goethe besonders gängig: Da wäre zum einen das klassische Prinzip einer biografischen Annäherung, auf dem auch Thomas Manns berühmter Goetheroman Lotte in Weimar beruht. Entsprechende Goethedarstellungen nehmen Episoden aus Goethes Leben zur Grundlage und arbeiten nach eigenen Schwerpunkten bestimmte Facetten heraus. Nicht nachweisbare Gedanken und Gespräche werden ergänzt, mitunter nehmen Autor*innen aber auch größere Eingriffe vor, etwa wenn wie bei Ortheil zusätzlich fiktive Figuren auftreten. Oftmals bestechen die Texte durch direkte und indirekte Anspielungen auf Goethes Werke. In Martin Walsers Ein liebender Mann, einem der bekanntesten Goetheromane der letzten Jahre, ist Goethes Liebe zu Ulrike von Levetzow im Rahmen seiner Marienbadaufenthalte 1821–1823 das zentrale Thema. Der Roman arbeitet vor allem mit Verweisen auf Goethes Werther, aus dem Motive, Zitate und für den Schlussteil in abgewandelter Form auch die Struktur übernommen werden.

Um von und über Goethe zu erzählen, müssen jedoch längst nicht mehr Geschichten aus seinem Leben herhalten: Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist Goethe im Bereich der Unterhaltungsliteratur angekommen. Eine Vielzahl an Darstellungen der letzten Jahre kombiniert das Schreiben über den Weimarer Schriftsteller mit Motiven und Erzählmethoden der Unterhaltungsliteratur: Unerklärliche Morde, tragische Liebesgeschichten, Verfolgungsjagden, falsche Fährten, blutige Auseinandersetzungen und Rettungen in letzter Sekunde stehen in diesen Texten an der Tagesordnung. Ihren Reiz gewinnen Romane wie Kai Meyers Der Geisterseher (1995), Robert Löhrs Das Erlkönig-Manöver (2007) oder Stefan Lehnbergs dreibändige Krimireihe um Goethe und Schiller (2017–2019) im Stil der Sherlock-Holmes-Geschichten gerade durch ihr Spannungsverhältnis zwischen aktionsreichen, witzigen, bis ins Unwahrscheinliche gehende Handlungen sowie dem Auftreten von historischen Persönlichkeiten der Literaturgeschichte.

Goethes Aktualität und das Bedürfnis nach seiner Meinung zu unserer Zeit demonstrieren gerade jene Texte, die die Grenzen des physikalisch Möglichen überschreiten und Goethe als Figur in der Gegenwart auftreten lassen – ein Verfahren, das bereits aus Arno Schmidts Goethe und Einer seiner Bewunderer bekannt ist. In Karl Otto Conradys Erzählung Goethe was here (1994) lebt Goethe im Weimar der 1990er Jahre und berichtet in Briefen an seine ebenfalls quicklebendigen Freunde, Bekannte und Angehörige von seinem Alltag. Conrady – selbst Goetheforscher – lässt Goethe insbesondere auf dessen eigene literarische, touristische und wissenschaftliche Rezeption reagieren. So wundert sich der Dichter über Goethefiktionen, nach ihm benannte Sitzgelegenheiten und Forscher*innen, die ihre Zeit seinem Leben und Werk widmen. In Unsterblichkeit ist auch keine Lösung begeben sich Goethe und Schiller wie selbstverständlich, wenngleich nicht ohne Komplikationen, im Jahr 2014 auf Lesereise, um Jung und Alt wieder von ihren Texten zu begeistern.

Den Klassiker neu entdecken

Über die Darstellung als Figur ist es möglich, Goethe immer wieder neu zu entdecken, auch noch fast 200 Jahre nach seinem Tod und einer langen Rezeptionsgeschichte. Am derzeitigen fiktionalen Umgang mit Goethe können wir beobachten, wie sich einerseits das Interesse an ihm geändert und andererseits das Verhältnis zu ihm wesentlich entspannt hat. Die meisten gegenwärtigen Goethefiktionen bauen auf dem Verständnis auf, dass Goethe keine unnahbare Lichtgestalt ist, der man ausschließlich mit Ehrfurcht begegnen darf, sondern jemand, mit dem sich auch humorvolle, spannende Geschichten erzählen lassen. Sie zielen letztlich darauf ab, das Bild des verstaubten Klassikers zu relativieren.

Wie Ortheils Beri kann man also davon ausgehen: Goethe wird Autor*innen und Leser*innen auch weiterhin nicht loslassen.

In seinem Torquato Tasso stellte Goethe bereits selbst einen historischen Schriftsteller literarisch dar. Raphael Morghen, Pietro Ermini: Torquato Tasso, Kupferstich, 1807 © Klassik Stiftung Weimar
Fußnoten

1 Hanns-Josef Ortheil: Faustinas Küsse. München: Luchterhand 1998.

2 Davina Beck: Dichter am Werk – Dichter im Werk. Historische Schriftsteller als Figuren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2024.

3 Julia Kitzmann: Mehr als nur Goethe und Schiller: Forscherinnen für Vielfalt im Literaturkanon. In: Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/wissen/mehr-als-nur-goethe-und-schiller-forscherinnen-fur-viefalt-im-literaturkanon-11463065.html (06.04.2024).

4 Britta Schultejans: Kaum noch Pflichtlektüre: Viele Schulen lassen Goethes „Faust“ nicht mehr lesen. In: Stern. https://www.stern.de/gesellschaft/goethes--faust---in-vielen-schulen-ist-er-nicht-mehr-pflichtlektuere-32677352.html (30.08.2022).

1:

1 Hanns-Josef Ortheil: Faustinas Küsse. München: Luchterhand 1998.

2:

2 Davina Beck: Dichter am Werk – Dichter im Werk. Historische Schriftsteller als Figuren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2024.

3:

3 Julia Kitzmann: Mehr als nur Goethe und Schiller: Forscherinnen für Vielfalt im Literaturkanon. In: Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/wissen/mehr-als-nur-goethe-und-schiller-forscherinnen-fur-viefalt-im-literaturkanon-11463065.html (06.04.2024).

4:

4 Britta Schultejans: Kaum noch Pflichtlektüre: Viele Schulen lassen Goethes „Faust“ nicht mehr lesen. In: Stern. https://www.stern.de/gesellschaft/goethes--faust---in-vielen-schulen-ist-er-nicht-mehr-pflichtlektuere-32677352.html (30.08.2022).