Goethes Arbeitszimmer im Wohnhaus am Frauenplan um 1910.

„Faust II“ im Pappelholzschrank

Nachrichten ins Anthropozän

Art: ArtikelAutor: Petra Lutz
20.03.2025 7

Dass Goethe den Schrank nicht mochte, hat sein Sekretär Theodor Kräuter überliefert. Aus dem matten Grün-Braun des Arbeitszimmers sticht das glänzende Möbel bis heute eigenartig heraus. Ursprünglich gehörte es Ottilie und August von Goethe, aber nach Augusts Tod soll Ottilie den Schrank ihrem Schwiegervater „aufgeredet“ haben, der dann noch ein Jahr lang mit ihm lebte – nicht ohne zu klagen, er „zerstreue“ ihn.1

Heute verkompliziert dieser Pappelholzschrank die museale Vermittlung im Goethehaus: Auf Sockel und Löwentatzen-Füßen verstellt er die Tapetentür zwischen Arbeitszimmer und Bibliothek, durch die Goethe und seine Sekretäre jahrzehntelang Tag für Tag gegangen sind. Besucherinnen und Besucher können ihn vom Gitter aus, das den Zugang zum Arbeitszimmer versperrt, zwar sehen, aber weil seine Edelholz-Oberflächen sich so stark vom übrigen, vom Arbeiten zeugenden Mobiliar unterscheiden, sieht man ihm seine literaturhistorische Bedeutung einfach nicht an. Kurz gesagt: Eigentlich stört er bis heute.

Vielleicht passt es aber gerade deswegen besonders gut, dass Goethe genau hier sein allerletztes abgeschlossenes Werk deponierte, anstatt es zum Drucker zu schicken, und das, nachdem es ihn seiner eigenen Aussage nach ein Leben lang beschäftigt hatte: den zweiten Teil des Faust, den er mehr als 20 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Teils abschloss. Dieser hatte europaweite Resonanz gefunden – es gab also Erwartungen.

Nicht einmal der Gelehrte Wilhelm von Humboldt, fast 40 Jahre lang Goethes Freund und Briefpartner, bekam den abgeschlossenen zweiten Teil zu sehen. Sehr gern würde er ihm „diese sehr ernsten Scherze“ zukommen lassen und seine Erwiderung hören, heißt es in Goethes letztem Brief, geschrieben nur fünf Tage vor seinem Tod – um dann zur Begründung, warum das nicht möglich sei, ein erstaunliches Bild für die Gefährdung eines Werks zu finden, in dem das Meer als zentraler Akteur auftritt: Angesichts der so absurden wie konfusen Zeit sei er sicher, „meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünen-schutt der Stunden zunächst überschüttet werden.“2 Nichtveröffentlichen mit dem Ziel, das Werk vor dem Vergessen infolge Nichtverstehens zu retten also, wobei mit Eckermann bereits besprochen war, dass dieser den vollständigen Faust II nach Goethes Tod herausgeben sollte. Was wiederum nahelegt, dass es Goethe nicht zuletzt darum ging, die Reaktionen nicht mehr selbst zu erleben – Reaktionen einer Zeit, die er als verwirrt wahrnahm und der er mit dem Faust II, wie er an Wilhelm von Humboldt schrieb, das Eigene gegenüberstellen wollte, immer weiter gesteigert, immer klarer herausgearbeitet – „Widerstandspotenzial“ aus dem „Bewusstsein seiner ständig wachsenden Distanz zum Zeitgeist“, wie es der Germanist Ernst Osterkamp zusammenfasst.3

Die Perspektive dieses intellektuell einsamer gewordenen 82-jährigen Mannes, der aufs Intensivste neue technologische Entwicklungen verfolgte, richtete sich auf die Zukunft. Ihre Aporien, die der Moderne nämlich, führte er im Faust II vor – und hielt es zugleich für wert, „noch einige fünfzig Jahre auszuhalten“, um etwa die Folgen von Suez- und Panamakanal zu erleben.4 Der Option, sich gegenwartsvergessen in die Vergangenheit hineinzuträumen, erteilt der Faust II eine Absage.

Das abgeschlossene Werk nicht zu drucken – das heißt, nicht auf die zeitgenössischen Leserinnen und Leser zu setzen, sondern auf diejenigen einer Zukunft zu hoffen. Wobei wiederum das Manuskript einen, jedenfalls in Arbeitszusammenhängen, keinesfalls einsamen Autor zeigt, sondern Arbeitsprozesse einer Schreibwerkstatt sichtbar macht: Von unterschiedlichen Schreibern geschrieben, von Goethe mit Änderungen versehen, mit Ottilie von Goethe besprochen, die, wie es im Tagebuch am 8. Januar 1832 heißt, den bereits veröffentlichten Helena-Teil „gelesen und gut überdacht“ hatte.5 Ihr las Goethe das laut einem Brief an Wilhelm von Humboldt im Dezember 1831 angeblich versiegelte Werk noch im Januar 1832 vollständig vor –6 vielleicht hat es auch unter diesem Gesichtspunkt seine Richtigkeit, dass das Manuskript am Ende in „ihrem“ Schrank lag.

Auch den Entstehungsprozess kann man dem 188 Blatt umfassenden Manuskript ablesen, das heute als einzigartige Kostbarkeit im Magazin des Goethe- und Schiller-Archivs liegt: unterschiedliches Papier, schwarze Tinte, rote Tinte, Bleistift, Kohlestift, Blaustift, Rötel, geheftet, geklebt – unterschiedlichste Schreibwerkzeuge, unterschiedliche Schreiber (Goethe selbst hat nur 2,6 Prozent geschrieben). Auch die Nachlassverwalter Johann Peter Eckermann und Friedrich Wilhelm Riemer hinterließen hier Spuren bei der Vorbereitung des Erstdrucks, der noch 1832 erschien. Der Öffentlichkeit wurde dieses Manuskript vermutlich kaum je gezeigt, inzwischen ist es aber – wie auch alle anderen Handschriften zum Faust – vollständig online zu sehen.7

 Als Goethes Mitarbeiter nach seinem Tod alles akribisch verzeichneten, was sie im Arbeitszimmer fanden, lag das Manuskript im Pappelholzschrank unter vielerlei anderem, von Pappkapseln mit Spottgedichten bis zu einem Konvolut mit der Aufschrift „Unleserliches, Zweifelhaftes“. Nicht singulär herausgehoben also, sondern schon fast im papiernen „Dünenschutt“ versteckt.

Interessant ist, was nach dem Erscheinen des lang erwarteten Werks 1832 passierte, nämlich wenig, und das wenige war teilweise unfreundlich. Heinrich Heine verspottete den „lendenlahmen zweiten Teil“, Franz Grillparzer schreibt ins Tagebuch, dieser sei „redigiert statt gedichtet“,8 Weggefährten wie die Humboldt-Brüder scheinen sich nicht geäußert zu haben. Wollten sie das Werk nicht öffentlich ablehnen? Fanden sie noch kein Urteil? Über den vorab veröffentlichten Helena-Teil hatte Wilhelm von Humboldt an Caroline von Wolzogen geschrieben: „Etwas eigenthümlich Neues, von dem man noch keine Idee hat, für das man keine Regel und kein Gesetz kennt, das aber sich im höchsten poetischen Leben fortbewegt.“9

Erlahmte Dichterkraft, Weltferne, Wirklichkeitsflucht – dieses Urteil dominierte lange. Gespielt wird der zweite Teil bis heute eher selten. Dass einzelne Verse und Perspektiven aus dem Kontext genommen und intensiv missverstanden wurden, das passierte im Lauf der Zeit schon eher, etwa die Verse „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, / Auf freyem Grund mit freyem Volke stehn“. Nicht zuletzt aus ihnen meinte Walter Ulbricht ableiten zu können, die DDR sei die Arbeit am dritten Teil des Faust. Möglich war dies eigentlich nur bei vollständiger Ausblendung des Endes von Faust II, wie auch die im 19. und 20. Jahrhundert wirkmächtige Vorstellung eines Faustischen als nationales deutsches Wesen nur bei striktem Überlesen der Komplexität, Widersprüchlichkeit, man könnte auch sagen Subversivität des Texts möglich war.

Faust II als Flucht in eine Scheinwelt? Nicht wenn man heutigen Lesarten folgt, wie sie etwa von den Germanisten Michael Jaeger und Heinrich Detering formuliert wurden und zunehmend auch die Theater erobern. Mit der problematischer werdenden Moderne liest sich auch Heinrich Faust problematisch und entwickelt sich von der Identifikations- zur Reflexionsfigur, deren Freiheits- und Eroberungsdrang die eigene Welt vernichtet: Faust verkörpert geradezu modellhaft die Pathologien unseres Weltverhältnisses. Er wird damit zur Reflexionsfolie für „uns“ – die ein längst nicht mehr nur westliches „Kapitalozän“ Bewohnenden. In einer Epoche der globalen olykrisen mit lokalen Auswirkungen – des Klimawandels, Artensterbens und der Pandemien, der härter werdenden Kämpfe um Ressourcen, Identitäten und Weltanschauungen – schieben sich solche Lesarten des einzigartig uneindeutigen Werks, die das „Veloziferische“ und Vernichtende der „großen Beschleunigung“ in den Blick nehmen, nach vorne. Es ist, als identifiziere Goethe Entkopplungserscheinungen der zur Entstehungszeit gerade erst heranbrechenden Moderne, deren so katastrophale wie monströse Zuspitzungen heute wie in einer Tragödie über uns hereinbrechen.

Goethes Text bietet keine Auswege aus unseren Polykrisen, aber er liefert Anlässe, über deren Wurzeln in der mentalen Verfassung der Moderne nachzudenken. Dabei verknüpft er diese Gesellschaftsanalyse konsequent mit den Ergebnissen seines lebenslangen Natur-Studiums, die er insbesondere in Faust II hineingeschrieben hat. Indem neben Meeresgöttern, Nymphen, Sphingen und Greifen auch Ameisen- und Insektenchöre zu Wort kommen, nimmt er vorweg, was der französische Theoretiker Bruno Latour oder in neuerer Zeit die US-amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing und der indische Historiker Dipesh Chakrabarty in die Auseinandersetzung über unsere Zukunft einbringen: das Aufzeigen der unauflöslichen Verwobenheit und Abhängigkeit alles Menschlichen von dem, was die Moderne als Natur scheinbar sauber abgespalten, beherrscht, beschrieben und zum Hintergrundbild der Geschichte erklärt hat.

Wenig also könnte einer Wirklichkeitsflucht fernerliegen als der Faust II. Die Belege für den Realitätsbezug dieses Kassibers im Pappelholzschrank liegen nur wenige Sammlungsschränke weiter: Goethes Natursammlungen, zu denen Kohle jedweder Art ebenso gehört wie ein Kanalrohr oder Torf von Trockenlegungsprojekten, seine Bibliothek mit der damals neuesten Literatur zu den verhandelten Natur- und Technikthemen, die grafischen Sammlungen mit ihren vielen Karten und technischen Skizzen. All diese Auseinandersetzungen mit der Natur und ihrer Bearbeitung sind in das Werk eingeflossen. Aber zugleich geht das Werk über diese präzise erkundete Realität weit hinaus und feiert die Poesie. Seiner Zuhörerin und Gesprächspartnerin zum Faust II, der Pappelholzschrank-Schenkerin Ottilie von Goethe, widmete Goethe in einem Stammbuchblatt Verse der Figur des Euphorion,10 „Meister alles Schönen“, mit der er dem britischen Dichter Lord Byron ein literarisches Denkmal gesetzt hat:

„… Wollt ihr unerobert wohnen,
Leicht bewaffnet rasch ins Feld;
Frauen werden Amazonen
Und ein jedes Kind ein Held.“

Die Orte, an denen das Manuskript von Faust II einst lag und wo es heute liegt: Damals befand es sich in einem Pappelholzschrank, den Goethe von seiner Schwiegertochter Ottilie als Geschenk erhalten hatte. Matthias Hoch © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Heute wird das Manuskript im klimatisierten Magazin des Goethe- und Schiller-Archivs aufbewahrt. Matthias Hoch © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Fußnoten

1 Karl Immermann: Blätter der Erinnerung, Stuttgart: Adolph Krabber, 1842

2 Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Wilhelm von Humboldt, 17. März 1832

3 Ernst Osterkamp: Sterne in stiller werdenden Nächten. Lektüren zu Goethes Spätwerk, Frankfurt /Main: Vittorio Klostermann, 2023

4 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von F. Bergemann, Gespräch vom 21. Februar 1827

5 Tagebucheintrag von Johann Wolfgang von Goethe, 8. Januar 1832

6 Vgl. etwa Tagebucheinträge Goethes vom 27. und 29. Januar 1832

8 Wilhelm Emrich: Das Rätsel der „Faust II“-Dichtung. Versuch einer Lösung, in: Werner Keller (Hrsg.), Aufsätze zu Goethes „Faust II“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991

9 Wilhelm von Humboldt, Brief an Caroline von Wolzogen, 21. Dezember 1826

10 Für diesen Hinweis danke ich Francesca Fabbri

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1:

1 Karl Immermann: Blätter der Erinnerung, Stuttgart: Adolph Krabber, 1842

2:

2 Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Wilhelm von Humboldt, 17. März 1832

3:

3 Ernst Osterkamp: Sterne in stiller werdenden Nächten. Lektüren zu Goethes Spätwerk, Frankfurt /Main: Vittorio Klostermann, 2023

4:

4 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von F. Bergemann, Gespräch vom 21. Februar 1827

5:

5 Tagebucheintrag von Johann Wolfgang von Goethe, 8. Januar 1832

6:

6 Vgl. etwa Tagebucheinträge Goethes vom 27. und 29. Januar 1832

7:

7 www.faustedition.net

8:

8 Wilhelm Emrich: Das Rätsel der „Faust II“-Dichtung. Versuch einer Lösung, in: Werner Keller (Hrsg.), Aufsätze zu Goethes „Faust II“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991

9:

9 Wilhelm von Humboldt, Brief an Caroline von Wolzogen, 21. Dezember 1826

10:

10 Für diesen Hinweis danke ich Francesca Fabbri