
Goethe an Philipp Christoph Kayser, 28. Juni 1784, Ausschnitt mit den vier geschwärzten Zeilen, GSA 29/260,I, Bl. 13r, © Klassik Stiftung Weimar
Goethes geschwärzter Brief an seinen Jugendfreund Philipp Christoph Kayser
Durch Tintenschlingen unleserlich gemacht
Zensierte Stellen in historischen Briefen wecken unsere Neugierde. Doch wie lässt sich ein gründlich geschwärzter Text wieder lesbar machen? Was sich hinter den Tintenschlingen in Goethes Brief an Philipp Christoph Kayser verbirgt, haben Editoren am Goethe- und Schiller-Archiv und Restauratoren der Direktion Museen nun gemeinsam entschlüsseln können. Hier können Sie mehr über ihre philologische und materialtechnische Expertise erfahren.

Goethe an Philipp Christoph Kayser, 28. Juni 1784, Seite 1, GSA 29/260,I, Bl. 13r, © Klassik Stiftung Weimar
Die ersten vier Zeilen von Goethes Brief vom 28. Juni 1784 an seinen Frankfurter Jugendfreund, den Komponisten Philipp Christoph Kayser (1755–1823), sind durch Tintenschlingen unkenntlich gemacht. Goethes eigenhändiger Text ist nicht im gleichen Grad durch diesen Eingriff unlesbar geworden. Schon mit bloßem Auge lassen sich viele Worte erkennen. Soweit waren die Herausgeber der Weimarer Ausgabe, als sie diesen Brief 1890 abdruckten und die ersten zweieinhalb Zeilen und das letzte Wort reproduzieren konnten:
„d. 24. Jun. ist ein Brief an Sie abgegangen in dem ein Wechselbrief auf Lyon lag, wo [...] können.“
Für die Editoren der neuen historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen ist die vollständige Rekonstruktion des geschwärzten Textes noch immer eine Herausforderung. Damit verbunden ist die Frage, ob die Schwärzungen von Goethe selbst oder doch nachträglich von fremder Hand vorgenommen wurden. Im ersten Fall würde man nach editorischen Prinzipien bei der Textkonstitution von einer Variante oder Korrektur sprechen, konkret von einer Streichung im Text. Im zweiten Fall wäre die Schwärzung irrelevant bei der Textkonstitution: Da die Goethe-Briefausgabe Briefe als persönliche Dokumente versteht, ist die äußere Gestalt der Briefe, wie sie ihre Adressaten erreichten, maßgebend für die Textdarstellung. In diesem Fall sollte der geschwärzte Text, wenn möglich, vollständig konstituiert werden. Die Schwärzung würde lediglich in der Handschriftenbeschreibung im Kommentar zum Brief erwähnt.
Aus editionsphilologischer Perspektive ist vom letzteren Fall auszugehen: In Goethes Briefen aus dieser Zeit finden sich zwar immer wieder Streichungen in Form von Textkorrekturen, sei es als ersatzlose Tilgungen oder als Teil von Ersetzungen, jedoch selten mit der Absicht, die Grundschicht unkenntlich zu machen. Weil der Empfänger des Briefes diese Schwärzungen zu sehen bekommen hätte, würde es aus Sicht des Briefschreibers eher Sinn gemacht haben, den Brief nochmals auszufertigen. Die wenigen Ausnahmen finden sich tatsächlich in den Briefen an Kayser, die in einem Konvolut im Goethe- und Schiller-Archiv überliefert sind (GSA 29/260,I). In einigen dieser Briefe wurden Stellen geschwärzt, die Frauen- und Geldangelegenheiten betreffen, die meisten davon lassen sich mit einer guten Lupe und etwas Geduld oder durch Bearbeitung der Digitalisate entziffern. Die Schlingen im vorliegenden Brief haben denselben schwarzen Ton wie die Tinte, die Goethe für den Brief verwendete, daher lassen sich beide Schichten durch Bildbearbeitung der Digitalisate nicht unterscheiden.
Die Provenienz des Konvoluts unterstützt die Hypothese, dass die Schwärzungen nachträglich vorgenommen wurden, ja sie lässt sie noch genauer konturieren. Die Briefe an Kayser kamen nach dessen Tod nach Weimar in den Besitz der Familie Goethe. Das geht aus einem Brief Wolfgang von Goethes vom 23. Dezember 1878 an den Weimarer Archivar Carl August Hugo Burkhardt hervor. Burkhardt, dem Abschriften einiger Briefe vorlagen, arbeitete an der Monografie Goethe und der Komponist Ph. Chr. Kayser, die 1879 erscheinen sollte. Deswegen hatte er sich an Goethes Enkel mit der Bitte um Einsicht der Originalbriefe gewandt. Wolfgang von Goethe lehnte in seinem höflichen Antwortbrief ab:
»Die Originalbriefe des Großvaters, angeblich sämmtliche […], wurden für meinen Bruder [Walther von Goethe] auf seinen Wunsch und in besonderer Berücksichtigung seines musikalischen Interesses vormundschaftlicher Seits angekauft und sind sein Eigenthum. Es war und ist […] unsere Absicht, diese Briefe des Großvaters und die Kayser’schen Briefe insoweit sie sich in unserem Archive befinden, dem Publikum vorzulegen und hierbei einen Musik-Historiker hinzuzuziehen, um so ein, nicht nur für die Literatur-Geschichte, sondern auch für die Geschichte der Musik bedeutendes Werk herzustellen.«
Demnach war das Konvolut mit Goethes Briefen an Kayser nach Goethes Tod, wohl noch unter der Vormundschaft Friedrich von Müllers und mit Sicherheit vor 1845, nach Weimar gekommen. Der Testamentsvollstrecker Müller betraute Friedrich Wilhelm Riemer mit der Edition dieser Briefe. Goethes langjähriger Mitarbeiter Riemer, der an der Redaktion vieler Goethe’schen Werke beteiligt gewesen und von Goethe zum (Mit-)Herausgeber der nachgelassenen Werke ernannt worden war, hatte bereits den Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter (4 Bde. Berlin 1833–34) herausgegeben. Er bereitete ebenfalls die Edition des Briefwechsels zwischen Goethe und Carl Ludwig von Knebel vor, die jedoch aufgrund des rechtlichen Streits zwischen Goethes Enkeln und Kanzler von Müller nicht erschien. Vermutlich musste Riemer aus juristischen Gründen von seiner Edition der Briefe an Kayser absehen. Die Abschriften dieser Briefe, die als Druckvorlage für die Ausgabe dienen sollten, befanden sich in Riemers Besitz, als dieser 1845 verstarb. Riemers Witwe Caroline überließ sie Goethes Erben. Mit den Originalbriefen gehören sie zum Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs (GSA 29/260,III,1).
Diese Provenienz war also den Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe bekannt. Der Bandherausgeber Eduard von der Hellen behauptete in den „Lesarten“ zu den Briefen an Kayser, dass diese Zeilen „von Riemer bis zur Unleserlichkeit durchstrichen“ seien. Die immer wieder tradierte Vermutung, Riemer hätte die Schwärzungen vorgenommen, lässt sich jedoch ausschließen: In den von ihm edierten Briefen an Knebel und Zelter finden sich keine Eingriffe in die Originale, vielmehr nahm er Korrekturen und Kürzungen bei Geld- und Privatangelegenheiten der Briefpartner bzw. bei heiklen Äußerungen über Zeitgenossen erst in den von ihm selbst gefertigten Abschriften vor. Dies war gängige Praxis bei der Publikation von Briefen im 19. Jahrhundert. Dass Riemer, der jahrzehntelang Zugang zu Goethes Originalhandschriften hatte, dessen Texte in Hinblick auf Publikationen selektierte und sekretierte, ist unbestreitbar, nicht jedoch, dass er Goethes Handschriften verunstaltete. So notierte er etwa in seine Abschrift des vorliegenden Briefes an Kayser mit Bleistift: „vier Zeilen sind paraffirt.“

Goethe an Philipp Christoph Kayser, 28. Juni 1784, Abschrift von Friedrich Wilhelm Riemer, GSA 29/260,III,1, fol. 7, © Klassik Stiftung Weimar
Plausibel erscheint vielmehr, dass die Schwärzungen von Passagen, die von Geld- und Frauenangelegenheiten handeln, vor der Absendung des Briefskonvoluts nach Weimar durch die Erben Kaysers oder noch früher von ihm selbst herrühren. Bezeichnend ist, dass es sich häufig nur um den Namen „Bäbe“ handelt, den Rufnamen von Barbara (Bäbe) Schultheß, einer gemeinsamen Freundin Lavaters und Goethes in Zürich, wo Kayser seit 1775 als Musiklehrer wohnte. Bekanntlich richteten sich Kaysers Gefühle nicht auf sie, sondern auf deren gleichnamige Tochter, der er Klavierunterricht erteilte. Diese Verwechslung würde eher die These stützen, dass die Schwärzungen nicht von Kayser selbst vorgenommen wurden.

Unbekannter Künstler, Philipp Christoph Kayser, Kupferstich, © Klassik Stiftung Weimar

Goethe an Philipp Christoph Kayser, 28. Juni 1784, Aufnahme im Nahinfrarotbereich, © Klassik Stiftung Weimar

Goethe an Philipp Christoph Kayser, 28. Juni 1784, Aufnahme unter ultraviolettem Licht © Klassik Stiftung Weimar
Materialtechnische Untersuchung
Im Hinblick auf die Entzifferung der geschwärzten Passage wurde durch materialtechnologische Verfahren der Versuch unternommen, zerstörungsfrei eine bessere Lesbarkeit des betroffenen Textbereiches zu ermöglichen. Aufgrund der Art der Textschwärzung liegt die Verwendung verschiedener Schreibmittel nahe, wofür die Multispektralanalyse und die Röntgenfluoreszenzanalyse besonders gut geeignet sind.
Die Multispektralanalyse ist ein lichtbasiertes, spektrales, bildgebendes Aufnahmeverfahren, das speziell für die Untersuchung von Zeichnungen angepasst wurde. Dieses Verfahren mag der klassischen Fotografie ähneln, ist im Grunde doch ein rein analytisches Digitalisierungsverfahren.1 Die Multispektralkamera x71 der Grafikrestaurierung arbeitet in allen Wellenbereichen filterlos und ohne mechanischen Verschluss. Dank dieses innovativen und nahezu verschleißfreien Systems konnte die Strahlenintensität auf ein Minimum reduziert werden, was aus konservatorischer Sicht essentiell und nachhaltig ist. Ein speziell für das System optimiertes Objektiv schafft ohne Nachjustierung von Schärfe und Blende in allen Wellenlängenbereichen ein deckungsgleiches, pixelgenaues Digitalbild. Durch diese Neuerung lassen sich herausragende und präzise Falschfarbenaufnahmen errechnen. Diese spektralen Aufnahmen in völlig neuer Qualität ermöglichten zum ersten Mal einen umfassenden pixelgenauen Vergleich, bis hin zum unterschiedlichen Reflexions- und Fluoreszenzverhalten der verwendeten Materialien.
Die Röntgenfluoreszenzanalyse zählt zu den klassischen Methoden bei der Untersuchung von Elementzusammensetzungen und ist fester Bestandteil archäometrischer Untersuchungen. Das zu untersuchende Material wird mit hochenergetischer Röntgenstrahlung bestrahlt. Durch die Wechselwirkung zwischen Röntgenlicht und Materie werden einzelne Elektronen aus ihrer ursprünglichen Umgebung im Atom herausgeschlagen. Die auf diese Weise angeregten Atome kehren unter Abgabe von Energie wieder in den Grundzustand zurück, indem Elektronen aus weiter außen liegenden Schalen das entstandene Loch wieder füllen. Dieser Relaxationsprozess ist mit der Emission sogenannter charakteristischer Strahlung verbunden. Charakteristisch deshalb, da jedes Atom eine spezielle Elektronenkonfiguration, also einen Aufbau der Elektronenhüllen besitzt. Die Höhe der erhaltenen Röntgenpeaks erlaubt generell Rückschlüsse auf die Menge des enthaltenen Elements.
Zunächst wurde der geschwärzte Text multispektral untersucht. Verschiedene Materialien lassen sich unter spezifischen Wellenlängen unterschiedlich anregen, wodurch sie mittels Falschfarbenaufnahmen besser differenziert werden können. So ist beispielsweise die von Goethe verwendete Schreibtinte auf Basis einer Rußtusche ausgeführt und durch eine Eisengallustinte unkenntlich gemacht. Unter Infrarotstrahlung wird die Eisengallustinte transparent, während die Schreibtinte weiterhin sichtbar bleibt. Umgekehrt verhält es sich ebenso: Die Eisengallustinte wird im Nahinfrarotbereich (940 nm) ebenfalls zunehmend transparent, wodurch unter Infrarotfalschfarbenaufnahmen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den beiden Tinten festgestellt werden konnten. Auch unter ultraviolettem Licht (365 nm) zeigte sich eine gleichmäßige Anregung beider Tinten, was auf ein identisches Bindemittel hindeutet. Erst durch digitale Nachbearbeitung und den Einsatz der Hauptkomponentenanalyse konnte ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt werden. Die Frage nach der genauen Zusammensetzung der Tinten konnte jedoch mit dieser Methode nicht geklärt werden.
Im Gegensatz dazu ermöglicht die Röntgenfluoreszenzanalyse eine Bestimmung der elementaren Zusammensetzung der Tinten. In der Grafikrestaurierung kommen hier zwei unterschiedliche Verfahren zum Einsatz: der Punktscan und der Flächenscan. Die Analyse ergab einen deutlichen Marker im Element Kupfer. Während die für die Schwärzung verwendete Eisengallustinte nahezu kein Kupfer enthielt, wies die vom Briefschreiber Goethe benutzte Tinte eine signifikante Kupferkonzentration auf. Die unterschiedliche Zusammensetzung der verwendeten Tinten lässt darauf schließen, dass die Korrektur von einer anderen Person vorgenommen wurde. Ein Flächenscan hätte die Kupferanteile beider Tinten eindeutig differenziert und somit eine klare Identifikation und sogar möglicherweise eine Datierung der Schwärzung ermöglicht. Diese Untersuchung wurde nicht durchgeführt, weil die Ergebnisse aus der Multispektralanalyse bereits ausgereicht haben, die betreffende Textpassage vollständig zu entziffern.
Der entschlüsselte Text
Die materialtechnische Analyse hat die editionsphilologische Hypothese bestätigt, die Schwärzungen seien nicht von Goethe vorgenommen worden. Der Text lässt sich mithilfe der von der Multispektralanalyse gelieferten Bilder rekonstruieren:
»dℓ 24ten Jun ist ein Brief an Sie abgegangen in dem ein Wechselbrief auf Lyon liegt, wo Sie die verlangten 12 Caroℓ. erheben können.«
Somit konnte im Vergleich zur Weimarer Ausgabe der Text vollständig wiedergegeben und eine Lesart verbessert werden. Zu Beginn des vorliegenden Briefes bezieht sich Goethe auf seinen Brief vom 24. Juni 1784, in welchem ebenfalls zwei Zeilen geschwärzt worden sind. Dort war zum ersten Mal von Goethes finanzieller Unterstützung von Kaysers Italienreise die Rede. Von dieser Reise versprach sich Goethe, der am Libretto des Singspiels Scherz, List und Rache arbeitete, Nachrichten aus erster Hand vom italienischen Musikleben und vor allem eine Vertonung seines Singspiels, mit dem er anknüpfend an die italienische Opera buffa der deutschen Oper neue Impulse verleihen wollte. Kayser nahm schließlich den Auftrag an. Im April 1785 schickte Goethe das Libretto nach Zürich und es entwickelte sich eine rege Korrespondenz über diese Komposition, bis Kayser Ende Oktober 1787 zu Goethe nach Rom reiste. Seine Komposition ist trotz mehrfacher Bearbeitung und intensiven persönlichen Austausches allerdings nur in Teilen überliefert.
Leseempfehlung: Diese und weitere Geschichten können Sie im Band 5 der Goethe-Briefausgabe mit den Texten und den Kommentaren zu den 733 überlieferten Briefen Goethes aus dem Zeitraum 1782 bis 1784 nachlesen: Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe (GB). Bd. 5 I–II: 1782–1784. Text und Kommentar. Hrsg. von Héctor Canal und Elke Richter unter Mitarbeit von Sören Schmidtke und Bettina Zschiedrich. Berlin/Boston 2024 (ISBN: 978-3111233369).
1 Der vollkommen autonom und automatisch ablaufende Prozess umfasst eine Farbaufnahme recto/verso (Visible/VISr/v), eine Streiflichtaufnahme im sichtbaren Bereich (SL), eine Durchlichtaufnahme (DL), eine Ultraviolett-Aufnahme (UV), eine Nahinfrarot-Aufnahme (NIR) und eine spektrale Aufnahme (Spec). Das System errechnet zusätzlich vollautomatisch anhand der bereits gewonnenen Aufnahmen die Ultraviolettfalschfarben-Aufnahme (UVFC), die Nahinfrarotfalschfarben-Aufnahme (NIRFC), sowie die Aufnahme zur Erkennung der Papierstruktur (PS) und des Wasserzeichens.
Aktuelle Stories

Ein Jahrhunderte überdauerndes Gemeinschaftsprojekt zur Geschichte der Bauhütten

Schulprojekt

Goethe-Kind

Citizen Science in der Romantik