Goethes Leibarzt

Christoph Wilhelm Hufeland

07.08.2024 8

Johann Wolfgang von Goethe fand in seinem Leibarzt Dr. Hufeland einen na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Gesprächspartner. Was verband die beiden? Anna Sophie Gerber, ehemalige FSJlerin bei der Klassik Stiftung Weimar, ist dieser Frage nachgegangen.

In seinen jungen Jahren benötigte Johann Wolfgang von Goethe selten eine medizinische Behandlung. Sein Leibarzt Dr. Christoph Wilhelm Hufeland war zwar häufig zu Besuch, aber eher selten, um Goethe zu verarzten, sondern um mit ihm zu diskutieren. Goethe suchte für seine naturwissenschaftlichen Interessen stets nach geeigneten Gesprächspartnern. In seinem Leibarzt schien er einen Experten ge­fun­den zu haben. So erinnert es zumindest der praktizierende Arzt und Mediziner Hufeland selbst. In seiner Retrospektive hatte der 80-jährige Hufeland für die Jahre 1783 bis 1793 einen vitalen, gesprächigen Goethe vor Augen, der zwar „dem Arzte wenig zu thun [gab, denn] seine Gesundheit war in der Regel (…) vortrefflich; desto lieber unterhielt er sich mit dem Arzte als Naturforscher“. Stand Hufeland Goethe wirklich so nahe wie es der Arzt im Nachhinein selbst behauptete? Pflegten die beiden vorwiegend eine Arzt-Patienten-Beziehung, einen wissenschaftlichen Austausch oder entwickelten sie über die Jahre eine Freundschaft?

Hufeland im Kreise der Weimarer Dichter

Am 12. August 1762 in Bad Langensalza geboren, wuchs Christoph Wilhelm Hufeland in einer anerkannten Arztfamilie in Weimar auf. Sein Vater Johann Friedrich Hufeland (1730–1787) war am Weimarer Hof als Hofmedicus und im Speziellen als Leibarzt Herzogin Anna Amalias tätig. Diesen Spuren folgte Christoph Wilhelm: Nach seinem Schulabschluss begann er selbst eine medizinische Laufbahn. Er studierte Medizin in Jena und Göttingen. 1783 machte die voranschreitende Erblindung seines Vaters eine Rückkehr nach Weimar erforderlich. Christoph Wilhelm übernahm die „ganze große Praxis des Vaters“ und somit auch die medizinische Versorgung namhafter Weimarer Persönlichkeiten als Leibarzt, darunter Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder.

Für Hufeland war der Kontakt mit den „großen Geistern“, wie er sie selbst nannte, ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. In seiner 1831 veröffentlichten „Selbst­bio­gra­phie“ Hufeland – Leibarzt und Volkserzieher betonte er wiederholt, welche Bedeutung es für ihn hatte, in diesen intellektuellen Kreisen zu verkehren. Goethe widmete er allerdings nur wenige Zeilen. Über andere Weimarer Persönlichkeiten wie die Verleger Johann Bode und Friedrich Justin Bertuch, den Arzt Wilhelm Buchholz sowie den Schriftsteller und Literaten Johann Musäus verfasste er hingegen mehrere Seiten.

Man kann annehmen, dass das frühe Verhältnis zwischen Goethe und seinem Leibarzt durchaus über die notwendige Vertrauensbasis eines Arzt-Patienten-Verhältnisses hinausgegangen sein muss, denn Goethe ermöglichte Hufeland bereits in dessen jungen Jahren die regelmäßige Teilnahme an den von ihm initiierten Frei­tags­ge­sell­schaf­ten in Weimar. Bei diesen exklusiven Zusammenkünften tauschten die Gelehrten ihre neusten Ideen aus, hielten Vorträge oder lasen aus Publikationen vor, um an­schlie­ßend darüber zu diskutieren. Auch Hufeland erhielt dort die Möglichkeit, seine Aufsätze und Schriften zu präsentieren. Im Herbst des Jahres 1792 las er einzelne Abschnitte aus seinen Arbeiten über die Makrobiotik vor. Sie wurden vier Jahre später als Buch unter dem Titel Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu ver­län­gern veröffentlicht und stellen sein bekanntestes Werk dar. Herzog Carl August, der ebenfalls an der Freitagsgesellschaft teilnahm, war so beeindruckt, dass er Hufeland 1793 zu einer Professur in Jena verhalf.

Christoph Wilhelm Hufeland, Stich von Friedrich Müller nach Johann Friedrich August Tischbein, 1802, © Klassik Stiftung Weimar – Museen

Vom Leibarzt zum Professor – Umzug nach Jena

Mit dem Umzug nach Jena und dem Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Salana widmete sich Hufeland verstärkt seiner naturwissenschaftlichen Forschung. Damit endete auch seine Tätigkeit als Leibarzt Goethes. Der Kontakt zum Dichter brach dadurch aber keineswegs ab. Stattdessen bestand ihr Verhältnis fort – ganze 32 Jahre lang.

In den 1790er Jahren hielt sich Goethe häufiger in Jena auf, um dort seinen amt­li­chen Tätigkeiten nachzukommen, zum Beispiel die Vorbereitung des Botanischen Gartens. Er erhielt dafür eine kleine Unterkunft im Jenaer Schloss. Hufeland bewegte sich im akademischen Milieu Jenas, weshalb man davon ausgehen kann, dass aus­rei­chend Gelegenheit für persönlichen Kontakt und Austausch mit Goethe bestand. So schreibt Ludwig Friedrich Göritz, angestellter Hauslehrer in Jena und von 1791 bis 1793 an Schillers Tischgesellschaft beteiligt: „Als ich nach Jena kam, hatte sich eben ein Professorenkränzchen gebildet, worin ich auch als Mitglied aufgenommen wurde. Die Gesellschaft war Schiller […], die beiden Hufeland […], aber auch oft Goethe, Wieland, Herder […].“

Der in dieser Zeit beginnende Briefwechsel zwischen Hufeland und Goethe dokumentiert das Verhältnis der beiden eindrucksvoll. So übersandte Hufeland an Goethe für gewöhnlich Abhandlungen oder kleinere Aufsätze über seine eigenen Arbeiten und Forschungen, aber auch Texte anderer Naturforscher. Dabei bat er häufig um Goethes Urteil und bezeichnete ihn als „competenten Richter“. Hufeland scheint in Goethe einen Ratgeber gesehen und dessen Expertise in na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Thematiken geschätzt zu haben. Goethe antwortete bereitwillig, richtete seinerseits aber keine Fragen an den Briefpartner. Gleichwohl wurde auch er durch den naturwissenschaftlichen Austausch mit Hufeland angeregt und be­ein­flusst. Noch heute befinden sich zahlreiche Veröffentlichungen und Bücher Hu­fe­lands in Goethes erhaltener Privatbibliothek. Zudem entsprach Goethes Lebensweise den Grundsätzen der Makrobiotik Hufelands, die dieser unter dem Titel Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern in der von Wieland herausgegebenen Zeit­schrift Teutscher Merkur veröffentlichte, die Goethe regelmäßig las. In seinen späteren Lebensjahren hielt sich Goethe an einen strikteren Tagesablauf mit einem späten Frühstück, dem Auslassen des Mittagessens sowie ausgedehnten Spa­zier­gän­gen. Er verbrachte viele Tage in umliegenden Kurbädern und hielt sich häufig an der frischen Luft auf. Er scheint damit bewusst oder unbewusst Hufelands Leitprinzip verinnerlicht zu haben, dass es „weit besser [ist], Krank­hei­ten [zu] verhüten, als Krankheiten [zu] heilen“. Die überlieferte Briefkorrespondenz spiegelt dies jedoch kaum wider, denn hier nahm Goethe in erster Linie eine beratende und gebende Rolle als Naturforscher nicht als Patient ein. Hufeland war derjenige, der den Kontakt mit großem Interesse pflegte und immer wieder den brieflichen Austausch initiierte. Seine Briefe an Goethe enthalten vorrangig Grußformeln, Danksagungen und Ehrerbietungen, die Zeitgenossen in einer asymmetrischen Beziehung dem jeweils Ranghöheren zollten. Zumeist gab er an, sich in Goethes Andenken rufen zu wollen, und bat um persönliche Treffen. Familie, Freunde oder Alltägliches wurde kaum thematisiert. Betrachtet man allein die Briefe, dann begegneten einem zwei Wis­sen­schaft­ler, die einander zugeneigt sind, aber ein eher förmliches, pro­fes­sio­nel­les Verhältnis pflegten.

Für eine Einschätzung des Verhältnisses der beiden Männer sind allerdings ihr unterschiedlicher Bekanntheitsgrad und ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung nicht außer Acht zu lassen. Goethe genoss eine Bekanntheit, die weit über die Grenzen des Weimarer Herzogtums hinauswirkte. Er hatte unzählige Bewunderer, die das Gespräch und den Austausch mit ihm suchten. Seine Kontakte musste er daher sorgsam auswählen und entscheiden, wem er Zeit und Aufmerksamkeit schenkte. Hufeland gehörte zweifellos dazu, Goethe maß dem Kontakt mit ihm eine große Wichtigkeit bei. Er antwortete Hufeland in ausführlichen Briefen, arrangierte darüber hinaus aber auch persönliche Treffen und erwähnte Hufeland in Gesprächen mit engen Vertrauten. In einem Brief an seine Ehefrau Christiane Vulpius schrieb Goethe am 7. Juli 1803: „Seit einigen Tagen bin ich in Jena, wo auch die Sachen ganz gut gehen. […] Rath Hufeland von Berlin ist hier, da sind Abends große Thees und der­glei­chen […].“Das Verhältnis scheint demnach weit über einen rein wis­sen­schaft­li­chen Austausch hinausgegangen und auch durch eine sehr persönliche Wertschätzung geprägt gewesen zu sein.

Brief von Hufeland an Goethe, 1. Juli 1805

Hufelands Aufstieg in Berlin und seine Verbindungen nach Weimar

Dies hieß allerdings nicht, dass Goethe dauerhaft Hufelands Behandlungskünsten vertraute. Als er 1801 schwer erkrankte, ließ er sich von Johann Christian Stark, dem Leibarzt des Weimarer Herzogs behandeln, und zog nicht Hufeland zu Rate. Das mag auch daran gelegen haben, dass dieser etwa zeitgleich einen Ruf des preußischen Königs an die Berliner Charité folgte. Im Jahr 1801 zog Hufeland nach Berlin um und übernahm dort die Stelle als königlicher Leibarzt, wurde Direktor des Collegium medico-chirurgicum und Erster Arzt der Charité, die sich in einem Reformprozess, der akademische und praktische Ausbildung in der Medizin verbinden sollte. Damit befand er sich 300 Kilometer weit entfernt von Goethe.

Der Briefwechsel wurde dennoch fortgesetzt, und auch der persönliche Kontakt endete trotz der größeren räumlichen Entfernung nicht. Hufeland besuchte Goethe in den Jahren 1812 und 1817 in Weimar. Wie sich einem Brief Hufelands vom 15. Dezember 1817 entnehmen lässt, führte Goethe die Familie Hufeland anlässlich eines Besuchs durch seine privaten Räumlichkeiten und präsentierte ihnen seine Kunstschätze – eine Ehre, die nur ausgewählten Person zuteilwurde. Auch in Jena stattete er seinem alten Bekannten in den Jahren 1806, 1816 und 1820 Besuche ab. Das letzte persönliche Treffen ereignete sich vermutlich im Jahr 1824. In seinem Brief an Goethe vom 21. Oktober 1826 schreibt Hufeland: „Erlauben, daß ich durch eine literarische Kleinigkeit […] mein Andenken bei Ihnen erneuere, und meinem Herzen die Befriedigung verschaffe, recht lebendige und von Angesicht zu Angesicht geschöpfte Nachrichten von Ihrem Wohlsein zu erhalten, die ich mir leider seit zwei Jahren nicht persönlich machen konnte […].“In Berlin wurde Hufeland bereits als Vertrauter Goethes angesehen. Goethe schrieb am 21. Mai 1817 an seinen engen Freund Carl Friedrich Zelter, dass ihn Hufeland im Namen des Fürsten Anton Heinrich Radziwill sehr freundlich nach Berlin eingeladen habe. Die vertraute Beziehung zwischen Hufeland und Goethe war demnach unter den Zeitgenossen bekannt.

Christoph Wilhelm Hufeland und Johann Wolfgang von Goethe schätzten einander als Naturforscher und rechneten die Expertise des anderen hoch an. In welcher Position sich Hufeland auch befand, ob als Professor in Jena oder als Direktor der Berliner Charité, er unterhielt immer eine Verbindung zu Goethe. Noch knapp 30 Jahre nach seiner Zeit als Leibarzt in Weimar, sprach Hufeland voller Bewunderung über ihn. So ließ er zum Beispiel den russischen Dichter und Übersetzer Wassili Andrejewitsch Schukowski wissen, dass er Goethe aus seiner „Jugend“ kannte und „er nie einem Menschen begegnet sei, in dem Physisches und Moralisches in solcher Vollendung und Harmonie wären, wie in ihm“. Hufeland und Goethe pflegten ein auf Wohlwollen und Respekt gründendes Verhältnis, das auf der Anerkennung der naturwissenschaftlichen Leistung des jeweils anderen beruhte. Ihr Schriftverkehr war geprägt von einer Sachlichkeit, die den zeitgenössischen Regeln einer asym­me­tri­schen Beziehung folgte und nur selten Privates durchscheinen ließ. Darüber hinaus bestand aber auch ein persönlicher Kontakt, der die Verbindung der beiden durch die Besuche Hufelands in Jena und Weimar immer wieder aufs Neue festigte und später auch die Familien der beiden zusammenbrachte. Goethe und Hufeland verband mehr als ein Arzt-Patienten-Verhältnis – sie pflegten eine gelehrte Freundschaft.