
Henry van de Velde, Entwurf für das Kupferstichkabinett im Großherzoglichen Museum zu Weimar, 1907/08, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
eine graphik – eine geschichte
»Alleskünstler« Henry van de Velde
Die Graphischen Sammlungen der Klassik Stiftung Weimar bewahren rund 230.000 Kunstwerke auf Papier. Jedes Objekt hat eine Geschichte. Wie stellen sie vor. In dieser Folge: Kustode Stephan Dahme über Henry van de Veldes Entwurf für das Kupferstichkabinett im Großherzoglichen Museum zu Weimar von 1907/08.
»Schönheit hieß für Henry van de Velde eine organische Einheit von Form und Funktion, im Grunde ähnlich wie das, was zeitgleich auch mit dem Slogan 'form follows function' entwickelt wurde, der später prägend für das Bauhaus geworden ist. Für ihn war dieser neue Stil ein Stil ohne Lüge.«
Im Audiofeauture spricht Kustode Stephan Dahme über Henry Van de Veldes stetige Suche nach dem Neuen und über die Entstehung der Ideenskizze zum Großherzoglichen Kupferstichkabinett.
Audiofeature: Johanna Kiesler
Text: Stephan Dahme
Henry van de Veldes Weimarer Vision für ein modernes Kupferstichkabinett
In den Jahren 1907/08 schuf der belgische Protagonist des Jugendstils und Wegbereiter des Bauhauses Henry van de Velde 19 Entwürfe zur Neugestaltung des 1869 eröffneten Großherzoglichen Museums in Weimar. Ihre aufwendige Ausführung, ihr großes Format und ihre geradezu monumentale historische Passepartourierung und Rahmung zeugen noch heute von der Bedeutung, die der Künstler ihnen beimaß. Einen wichtigen Teil nahm dabei die Umgestaltung des Großherzoglichen Kupferstichkabinetts im zweiten Obergeschoss des Museums ein, der etwa ein Drittel der Entwürfe gewidmet ist. Grund genug, sich exemplarisch mit einem der insgesamt sechs Entwürfe näher zu befassen, handelt es sich doch um ein Hauptwerk, das die eigene Sammlungs- und Institutionsgeschichte reflektiert.
Gezeigt wird der Blick in den Hauptraum des Kupferstichkabinetts auf der Südseite des Museums. Vor drei großen Fenstern, durch die gedämpftes Licht eintritt, stehen ausklappbare Tische mit gepolsterten Stühlen und eleganten Jugendstillampen für die Vorlage originaler Grafik. Gegenüber finden sich in großen Wandnischen, die mit der Anordnung der Fenster korrespondieren, Sammlungsschränke für Großformate sowie gerahmte Grafiken in temporärer Präsentation. Darüber erstreckt sich eine umlaufende Empore mit Zugang zu weiteren Sammlungsschränken für Kleinformate. Im glänzend rotbraunen Fußboden, wohl modernes Linoleum, das für eine ruhige Studienatmosphäre sorgen sollte, spiegeln sich die hölzernen Einbauten und das Mobiliar.
Insgesamt erscheint der Entwurf beispielhaft für van de Veldes charakteristische Verbindung aus Schönheit und Erlesenheit auf der einen und Funktionalität und Pragmatismus auf der anderen Seite. Fließende, leicht geschwungene Linien und sparsam eingesetztes Dekor weisen auf seinen Neuen Stil als Spielart des Jugendstils. Alles ist auf Symmetrie sowie gestalterische und inhaltliche Korrespondenzen angelegt. Den hier gezeigten Blick nach Osten plante der Künstler offenbar nach Westen hin zu spiegeln, während er auf der Mitte – gegenüber vom zentralen Eingang – eine zweiläufige Treppe hinauf zur Empore vorsah. Hinzu kam hinter der Stirnwand im Osten ein Assistenzsitz zur Bearbeitung, Dokumentation und Vorlage der grafischen Bestände.

Henry van de Velde, Entwurf für das Kupferstichkabinett im Großherzoglichen Museum zu Weimar, 1907/08, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
»Alleskünstler«“ Henry van de Velde
1902 war der charismatische Visionär vom jungen Großherzog Wilhelm Ernst als „Künstlerischer Berater für Industrie und Handwerk“ nach Weimar berufen worden. Maßgeblich betrieben wurde die Berufung von Elisabeth Förster-Nietzsche und Harry Graf Kessler, die mit ihm nach dem Goldenen Zeitalter von Goethe und dem Silbernen Zeitalter von Liszt ein Neues Weimar im Zeichen der Moderne anstrebten. Van de Velde, der sich unter dem Einfluss der englischen Arts and Crafts-Bewegung und zeitgenössischer sozialer Utopien dem Kunsthandwerk als aus seiner Sicht einziger gesellschaftlich relevanter Kunstpraxis zugewandt hatte, sollte zur ästhetischen Erziehung der örtlichen Handwerker und darüber des ganzen Volkes beitragen.
Der „Alleskünstler“ befasste sich neben verschiedensten Formen des Kunsthandwerks auch mit Entwürfen von Architektur und kompletten Inneneinrichtungen. Um die Jahrhundertwende war er hier als Missionar gegen die „Hässlichkeit“ angetreten. Im Gegensatz zur verbreiteten historistischen Stilimitation suchte er nach einer authentischen Einheit aus Form und Funktion, die den Bedingungen der modernen Welt Rechnung trug. In dieser Mission erneuerte er auch das Kunsthandwerk im Herzogtum und schuf mit den Gebäuden der Kunstgewerbeschule und der Kunsthochschule zugleich ikonische Bauten, die später symbolisch für das Staatliche Bauhaus stehen sollten.
Als van de Velde 1907 den Auftrag zur Umgestaltung des Großherzoglichen Museums erhielt, verband der neue Museumsdirektor Karl Kötschau mit ihm die Hoffnung auf einen Neuaufbruch für die unter dem Vorgänger Carl Ruland in eine Art „Dornröschenschlaf“ gefallene Einrichtung. Schon 1902 hatte van de Velde den Innenausbau des Museums Folkwang in Hagen realisiert und startete nun mit großem Elan in das neue Projekt, obwohl sich mit dem Verlust zweier wichtiger Förderer des Neuen Weimar, Harry Graf Kessler und Großherzogin Caroline Reuß zu Greiz, eine kulturpolitische Wende in Weimar abzeichnete.

Das Großherzogliche Museum (heute Museum Neues Weimar), 1903, Foto: Louis Held

Henry van de Velde in seinem Weimarer Atelier, um 1910, Foto: Louis Held, © Klassik Stiftung Weimar
Instrument der eigenen Mission
Die Bestände des Kupferstichkabinetts, deren herausragende Qualität sich auch der klugen Ankaufspolitik Goethes verdankte, dienten schon früh nicht allein fürstlicher Repräsentation und Erbauung. Parallel betrieb man den Aufbau der Fürstlichen Freyen Zeichenschule zur praktisch-künstlerischen Ausbildung des Handwerks, die ab 1809 unter Goethes Oberaufsicht auch Beispiele aus dem großherzoglichen Kupferstichkabinett als Vorbildersammlung im Weimarer Fürstenhaus öffentlich zugänglich machte. Mit der Eröffnung des Großherzoglichen Museums 1869 wurde diese Tradition unter dem kunstaffinen Großherzog Carl Alexander fortgeschrieben. Neben einer eigenen „Vorbildersammlung von Architektur und Kunstgewerbe“ gab es im „Cupfer-Cabinet“ temporäre Ausstellungen im Zusammenhang kunstgeschichtlicher Vorlesungen für Studierende der Kunstschule.
Auch van de Velde griff diese Ansätze im Sinne der eigenen Mission auf und entwickelte sie in seinen Entwürfen für das Museum maßgeblich weiter. Insbesondere seine Ideen für die Umgestaltung des Kupferstichkabinetts spiegeln den modernen Wandel des Museumswesens und nehmen die Definition der bis heute gültigen Museumsaufgaben – auch im Sinne demokratischer Teilhabe – vorweg: Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln.
Als der Auftraggeber Kötschau seitens des Hofes nur wenig Unterstützung für seine Reformbemühungen erhielt, verließ er Weimar jedoch schon 1908 wieder und wurde Direktor der Berliner Gemäldegalerie. Damit war auch der ambitionierte Plan zur Erneuerung des Museums gescheitert. Van de Velde, der sich im Vorfeld des Ersten Weltkriegs auch zunehmend nationalistischen Ressentiments gegenübersah, schrieb daraufhin 1908 an Kessler: „Ich habe mich noch nie so fremd in Deutschland gefühlt wie gerade jetzt. Ich fühle mich hier wie eine alte Hyäne, in einem Käfig.“ Auch bei weiteren Baumaßnahmen des Großherzogs wie dem Neubau des Hoftheaters oder der Schlosserweiterung wurde er übergangen. Und als er schließlich erfuhr, dass hinter seinem Rücken bereits nach einem Nachfolger für ihn als Leiter der Kunstgewerbeschule gesucht wurde, reichte er im Juli 1914 selbst seinen Rücktritt ein.
1917 vertraute man in Weimar kurz vor der Emigration des in Kriegszeiten als „feindlicher Ausländer“ diffamierten Belgiers dennoch ein letztes Mal auf den Rat Henry van de Veldes. Mit der nachdrücklichen Empfehlung von Walter Gropius als Nachfolger gelang es ihm so trotz der letzten Rückschläge und Ressentiments, doch die Weichen auf eine Fortsetzung seiner Reformbemühungen zu stellen. Ab 1919 führte Gropius mit der Vereinigung von Kunsthochschule und Kunstgewerbeschule zum Staatlichen Bauhaus nicht nur van de Veldes Ideal einer engen Verbindung von freier und angewandter Kunst konsequent fort, sondern übernahm mit der gestalterischen Elementarlehre und dem Werkstattprinzip auch zentrale Lehrmethoden von ihm. Zudem erfuhr van de Veldes Wertschätzung für die grafischen Künste als Instrument seiner Mission gegen die „Hässlichkeit“ eine würdige Fortsetzung in der für alle Bauhausstudierende als Experimentierfeld zugänglichen Druckwerkstatt.
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