
Ich heiße der Mangel
Faust II, 11384
Art: LyrikAutor:
20.03.2025
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Sie betreten am Ende von Fausts Leben nur kurz, aber dafür umso wirksamer die Bühne: die vier rätselhaften Figuren Mangel, Sorge, Schuld und Noth. Passend zum Themenjahr Faust schreiben die Autorinnen Heike Geißler, Lena Gorelik, Dana Grigorcea und Anne Haug dort weiter, wo Goethe einst aufhörte - und verleihen diesen Personifikationen eine neue, zeitgenössische Stimme.
Ich heiße der Mangel
war in der Gegend
die Nägel nachzufüllen
und wollte kurz hallo sagen.
Schließlich seid ihr meine Mieter,
da sollte man sich zu Gesicht bekommen
nach all den Jahren.
war in der Gegend
die Nägel nachzufüllen
und wollte kurz hallo sagen.
Schließlich seid ihr meine Mieter,
da sollte man sich zu Gesicht bekommen
nach all den Jahren.
Komme ich etwa
ungelegen?
Lasst bitte alles so stehen.
Nur kein Aufheben,
um Himmels willen,
Unordnung macht mir nichts aus.
ungelegen?
Lasst bitte alles so stehen.
Nur kein Aufheben,
um Himmels willen,
Unordnung macht mir nichts aus.
Auch wenn ich es selbst
eher geordnet mag,
klare Verhältnisse –
links und rechts,
oben und unten,
ich da
auf dieser Welt
und drüben für euch
einfach alles,
was die Seligpreisungen
versprechen.
eher geordnet mag,
klare Verhältnisse –
links und rechts,
oben und unten,
ich da
auf dieser Welt
und drüben für euch
einfach alles,
was die Seligpreisungen
versprechen.
Das sage ich jetzt so
geradeaus, bin direkt,
mag keine Umschweife.
Also: Hallo!
Sehr angenehm!
Fühlt euch wie zu Hause.
geradeaus, bin direkt,
mag keine Umschweife.
Also: Hallo!
Sehr angenehm!
Fühlt euch wie zu Hause.
Die Küchenschränke sind,
wie ich sehe, immer noch
die alten,
soweit ich mich erinnere.
wie ich sehe, immer noch
die alten,
soweit ich mich erinnere.
Ist eine Ewigkeit her!
Die Aufkleber sind weg,
irgendeine bunte Werbung,
die ich sehr mochte, dort,
wo die Plastiktäfelung heller wirkt,
das kriegt ihr nicht weg.
Die Aufkleber sind weg,
irgendeine bunte Werbung,
die ich sehr mochte, dort,
wo die Plastiktäfelung heller wirkt,
das kriegt ihr nicht weg.
Hier links war mein Zimmer!
Kommt mir so furchtbar eng vor,
das Fenster zur Mauer.
Kommt mir so furchtbar eng vor,
das Fenster zur Mauer.
Drüben im Haus wohnte ein
hübscher Dichter.
Nannte mich seine Muse.
Vielleicht habt ihr von ihm gehört.
Er war in aller Munde und hoch
geachtet. Er schrieb
nur über mich,
konnte nur bei mir dichten.
hübscher Dichter.
Nannte mich seine Muse.
Vielleicht habt ihr von ihm gehört.
Er war in aller Munde und hoch
geachtet. Er schrieb
nur über mich,
konnte nur bei mir dichten.
Da lag er, wo ihr diese
kleine Kommode habt.
Tagsüber kam er an der Tür
läuten,
mit irgendwelchen blauen
Blümchen aus seinem Garten
oder aus meinem.
kleine Kommode habt.
Tagsüber kam er an der Tür
läuten,
mit irgendwelchen blauen
Blümchen aus seinem Garten
oder aus meinem.
Nachts gab er mir Lichtzeichen,
und kletterte
das Efeu hinauf
in mein Zimmer.
Wir liebten uns lange,
konnten nicht ohne einander!
und kletterte
das Efeu hinauf
in mein Zimmer.
Wir liebten uns lange,
konnten nicht ohne einander!
Jetzt ist er sicher schon ewig
tot. Lange her alles. Und sehr heiß
heute, nicht wahr? Mir rinnt
der Schweiß unters Kleid.
tot. Lange her alles. Und sehr heiß
heute, nicht wahr? Mir rinnt
der Schweiß unters Kleid.
Setzen wir uns doch
gemütlich im Wohnzimmer
hin
auf diesem zerfledderten Sofa,
mein Gott!
gemütlich im Wohnzimmer
hin
auf diesem zerfledderten Sofa,
mein Gott!
Und starrt mir bitte nicht mehr so
ins Gesicht –
das sind die frischen
Hyaluronspritzen. Die brauche ich,
bin auch älter,
als ihr euch vorstellen könnt.
ins Gesicht –
das sind die frischen
Hyaluronspritzen. Die brauche ich,
bin auch älter,
als ihr euch vorstellen könnt.
Aber immer topfit
unterwegs, überall, in die Welt hinaus!
unterwegs, überall, in die Welt hinaus!
Gestern noch auf Santorini
vor Anker gegangen.
Habe mich durch die Gassen
gedrängt
mit allen Touristen,
eine Champagnerflasche
in der Hand
– Veuve Clicquot! –,
hin zu den venezianischen
Burgruinen
und mich im legendären Sonnenuntergang fotografiert mit den
stillen Windmühlen, für Instagram.
Ganz #ohnefilter.
vor Anker gegangen.
Habe mich durch die Gassen
gedrängt
mit allen Touristen,
eine Champagnerflasche
in der Hand
– Veuve Clicquot! –,
hin zu den venezianischen
Burgruinen
und mich im legendären Sonnenuntergang fotografiert mit den
stillen Windmühlen, für Instagram.
Ganz #ohnefilter.
Ihr könnt mir gleich
folgen. Das bin ich, schaut:
„Mangel“.
Als Profilbild ein graues Weib,
ein Zitat
aus toten Dichtern.
Und drunter
noch, wer ich bin:
folgen. Das bin ich, schaut:
„Mangel“.
Als Profilbild ein graues Weib,
ein Zitat
aus toten Dichtern.
Und drunter
noch, wer ich bin:
„Ich heiße der Mangel,
bin der fehlende Teil
zum beanspruchten Ganzen.“
bin der fehlende Teil
zum beanspruchten Ganzen.“
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