Ich heiße die
Noth

Faust II, 11385

Art: LyrikAutor: Anne Haug
20.03.2025 5

Sie betreten am Ende von Fausts Leben nur kurz, aber dafür umso wirksamer die Bühne: die vier rätselhaften Figuren Mangel, Sorge, Schuld und Noth. Passend zum Themenjahr Faust schreiben die Autorinnen Heike Geißler, Lena Gorelik, Dana Grigorcea und Anne Haug dort weiter, wo Goethe einst aufhörte - und verleihen diesen Personifikationen eine neue, zeitgenössische Stimme.

Kurz nach Mitternacht, in einem Baucontainer, irgendwo auf einem verlassenen Industriegelände.

NOTH (zu sich selbst)

Ich heiße die Noth …

Unzählige Bildschirme, alte Fernseher, Flachbildschirme, Pads, verschiedenster Größen erleuchten den Container. Auf ihnen Aufzeichnungen des aktuellen Weltgeschehens: iranische Frauen mit wehenden Haaren, die schwelenden Trümmer des Gazastreifens, Krawalle in den Straßen Englands, ein gekentertes Boot im Mittelmeer, eine russische Journalistin im Hungerstreik, brennende Leoparden in Kalifornien, israelische Eltern mit dem Bild ihrer entführten Tochter in der Hand, Dürre in Somalia … Bilder über Bilder, lauter Menschen, Tiere, Natur in Not. Inmitten der flackernden Bildschirme sitzt sie, die Noth, im grauen Kapuzenmantel, auf einem schäbigen Drehstuhl.

NOTH

So, nochmal. Ich heiße die Noth …

Die Noth greift in ihren Umhang, holt ein Handy und eine zerknüllte Zigarettenschachtel hervor. Dann zieht sie die graue Kapuze vom Kopf. Ihr schmales Gesicht, gelbgrün, mit scharfen Falten durchzogen, sieht müde aus. Fahrig zündet sie sich eine Zigarette an. Zieht einmal tief ein und atmet wieder aus.

NOTH

Die Noth bin ich … Die Noth. Die Noth.

Sie stellt das Handy vor sich und betrachtet sich selbst in der Kamera. Probiert verschiedene Positionen aus, betrachtet ihr Gesicht aus verschiedenen Winkeln. Irgendwann ist sie zufrieden. Sie startet die Aufnahme, spricht in die Kamera.

NOTH

Ich bin überall. Bei brennenden Wäldern, fallenden Bomben, in hungernden Körpern, beim Plastik im Meer. Bei Geiseln, im Hospiz, auf Trümmerfeldern. In trockenen Flüssen, Pockennarben …

Ein Hustenanfall unterbricht sie. Schüttelt ihren Körper. Sie spuckt gelben Schleim auf den Boden.

NOTH

Ich heiße die Noth, und wie Faust schon ganz richtig sagt …

Die Noth erhebt sich. Zieht zwischen zwei flackernden Bildschirmen – ein Tsunami rollt auf Japans Küste zu, San Franciscos Straßen, gefüllt mit Zelten der Fentanyl-Süchtigen – eine angebrochene Flasche Whisky hervor, trinkt einen großen Schluck. Dann zitiert sie Faust. Nein, sie äfft ihn geradezu nach.

NOTH

Es klang so nach, als hieß es – Noth. Ein düstres Reimwort folgte – Tod.

Die Noth bricht über ihre Imitation in ein irres Lachen aus, das nun genau wie der Husten durch ihren dürren Körper fährt. Im Hintergrund flackern die Bildschirme: eine Überschwemmung in Brasilien, blutige Aufstände in Bangladesch, ukrainische Männer auf der Flucht vor dem Militär. Die Noth beugt sich, immer noch keuchend, ganz nah über die Kamera.

NOTH

Die verwöhnten Gesichter, die wollen mich nicht. Ihr denkt, mein Wesen betreffe euch nicht. Und doch vermisst ihr mich stets, ihr giert nach mir. Hängt an euren Bildschirmen und verteilt den Schmerz der anderen. Im Netz. Auf euren Plattformen. Weil ihr euch dann ein bisschen besser fühlt, lebendiger.

Die Noth hat sich in Rage geredet.

NOTH

Mich zu betrachten, vom hohen Ross, zu verurteilen, ist ein Leichtes. Doch alle die ...

Die Noth zeigt hinter sich auf die Bildschirme. Blutige Kämpfe im Kongo, ein Geflüchtetenlager in Griechenland …

NOTH

An deren Fersen ich mich gehaftet habe, wissend, dass ich ein Teil von ihnen bin. Keine Aussätzige, keine Ausgestoßene.

Die Noth ist nun wirklich sehr emotional geworden ob ihrer eigenen Rede.

NOTH

Und so wende ich mich heute an euch. Nicht nur an dich, Faust, nein, an euch alle, die ihr euch den Kopf über euch selbst zerbrecht, philosophiert über mich, die Noth, an euch, die ihr euch auffüllt, mit den Geschichten anderer. An euch, die ihr euch menschlicher fühlt dabei, mich zu betrachten, obwohl euch eigentlich alles kalt lässt, nicht berührt.

Die Noth atmet einmal tief durch.

NOTH

Doch bin ich auch ein Teil von euch. Von jedem. Auch wenn es euch jetzt gerade gut geht. Und es könnte sein, dass ich euch schneller besuche, als ihr denkt. Mich an eure Fersen hefte. Habt acht! Ich bin immer irgendwo.

Die Noth beendet die Aufzeichnung. Erschöpft, aber zufrieden lehnt sich sich in ihrem Stuhl zurück. Legt die Beine auf einen der Bildschirme, zündet sich wieder eine Kippe an, nimmt einen Schluck aus der Whiskyflasche. Sie versucht das Video zu posten. Auf Instagram, vielleicht auch auf TikTok.

NOTH (wieder zu sich selbst)

Wie macht man das denn jetzt …

Sie drückt auf dem Handy herum. Das Video ist zu lang.

NOTH

Jetzt hört das hier einfach auf bei den Pockennarben.

Nein, nein, das geht nicht.

Je nervöser die Noth wird, desto mehr flackern auch die Bildschirme um sie herum.

NOTH

Das kann doch nicht wahr sein, dass das so kompliziert ist, verdammt noch mal. Ich will doch nur einmal ein Video posten. Wenn das die ganzen Idioten können, muss ich das doch irgendwie …

Die Noth scheitert. Sie wirft das Handy in die Ecke.

NOTH

Ach, leckt mich doch alle.

Sie dreht sich zu den Bildschirmen um. Die Bilder flackern nun so sehr, dass sie nur noch ganz kurz zu erkennen sind: ein Leichenberg, ein Amoklauf, ein Tornado, ein Kinderschuh auf einer zerbombten Treppe …

NOTH

Alle! Ihr auch! Leckt mich.

Sie nimmt einen alten Röhrenfernseher und schmeißt ihn gegen einen Flachbildschirm.

NOTH

Ich kann auch nichts dafür, dass es mich gibt. Ich wurde auch nicht gefragt, ob ich geboren werden möchte.

Wie eine Furie, wütend schreiend und zugleich hustend, demoliert die Noth einen Bildschirm nach dem anderen.

NOTH

Keiner liebt mich. Keiner wird mich jemals lieben.

Ich habe nur mich.

Nur ein paar einzelne Lichter flackern noch. Die Noth sinkt zwischen den zerstörten Bildschirmen auf den Boden. Tränen laufen über ihr faltiges Gesicht.

NOTH (ganz leise)

Ich bin so allein.

Schwarz.

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