Ich heiße die Sorge

Die Sorge: Ein Berufsprotokoll

Art: LyrikAutor: Heike Geißler
21.03.2025 6

Sie betreten am Ende von Fausts Leben nur kurz, aber dafür umso wirksamer die Bühne: die vier rätselhaften Figuren Mangel, Sorge, Schuld und Noth. Passend zum Themenjahr Faust schreiben die Autorinnen Heike Geißler, Lena Gorelik, Dana Grigorcea und Anne Haug dort weiter, wo Goethe einst aufhörte - und verleihen diesen Personifikationen eine neue, zeitgenössische Stimme.

„Ich heiße die Sorge.
Ja, tatsächlich.“

Und wenn ich mich vorstelle, stelle ich mich auch genauso vor. Kurzes, aber verbindliches Lächeln, Händeschütteln und: Guten Tag, Sorge. Mal nehme ich mir mehr Zeit für die Vorstellung, mal nicke ich nur oder nuschele. Manchmal stelle ich mich gar nicht vor. Meine Macht ist schleichend, aber groß. Ich bin schon so lange berufstätig und leiste mir mittlerweile auch schlechte oder gar keine Manieren. Ich leiste mir auch Selbstvergessenheit.

Ich bin, und das überrascht ja vielleicht niemanden, der eine Ahnung von der Menge der Sorgen unter den Menschen hat, nicht die eine Sorge, ich bin Teil einer weltumspannenden Struktur aus Sorgendistributor*innen, wir sind ein großes Team, das arbeitet, um Sorgen auf der ganzen Welt zu verteilen. Unser jeweiliges Pensum ist trotz der Arbeitsteilung enorm, wir arbeiten eben direkt am Menschen und arbeiten mittels des Menschen in alle möglichen Strukturen und Systeme hinein und aus den Systemen heraus. Was wir tun, hat Auswirkungen auf alle Belange der Welt. Ist das eigentlich bekannt?

„Ich habe, wie ich finde, eine interessante Arbeit, die sich
in hochgradig individualisierten Gesellschaften und Zeiten am besten verrichten lässt.“

Ich arbeite übrigens nicht serviceorientiert. Niemand wählt sich seine Sorgen aus. Worüber zum Beispiel Sie sich Sorgen machen, mag wie eine persönliche Angelegenheit wirken, aber tatsächlich sind Sorgen nicht sonderlich originell, denn sie hängen am Puls der Zeit, und sie zu bringen ist in der Regel einfach und machte mir sehr lange sehr viel Spaß. Allein die Intensität der jeweiligen Sorge und die Häufigkeit, mit der man sie bedenkt, bearbeitet, durchleidet, ist individuell verschieden, darauf nehme ich kaum Einfluss. Ich habe jedoch Kolleginnen und Kollegen, die sich auch damit befassen. Das wäre mir persönlich ein zu großer Eingriff in die Privatsphäre der Menschen. Das Sorgengeschäft – ja, es ist eines – ist ein wenig reguliertes. Ich kann eigentlich machen, was ich will, kann Sorgen verteilen, wie ich will. Ich kenne keine Vorgaben. Solange ich Sorgen verteile, mache ich meine Arbeit gut.

Ich agierte früher recht frei und wild herum, und es lag mir – Herr Faust ist da natürlich ein gutes Beispiel – ab und an daran, genau jene mit Sorgen auszustatten, denen jede sie wirklich beschwerende Sorge bis dahin fremd zu sein schien. Wäre ich willens, könnte ich das häufiger schaffen. Vielleicht mangelt es mir mittlerweile etwas an Ehrgeiz dafür. Sollen das andere tun. Es gibt größere Zermürber als mich. Das ist für mich kein Wettbewerb. Es ist nur Arbeit. Kein einfacher Job, aber lange war es einer der besten!

„Ja, früher war das für mich ein Spiel.“

Was ich nicht kann: Ich kann jene nicht erreichen, die die Sprache der Sorgen nie erlernt haben. Die frei sind von Empathie, Vorfreude und Sehnsucht. Ich befülle dann ein schwarzes Loch, das riesig ist, das alles tilgt. Ich dringe nicht durch, ich verschwende nur meine Kraft und Zeit. Klar: Spuren bleiben auch bei diesen sorgenfeindlichen Menschen. Kleine Zweifel und dergleichen. Aber der Zweifel ist mir untergeordnet, wenngleich Zweifel und Sorgen natürlich in unterschiedlichen Größen auftreten können, klar. Das sehen Sie richtig.

Ob meine Arbeit wichtig ist?

Ich halte Sorgen für zivilisatorische Errungenschaften. Mein Team und ich arbeiten unermüdlich am Kern des Menschen.

Unterstellen Sie mir aber bitte für den Großteil meines Schaffens keine ethische Intention oder spezielle Moral. Unterstellen Sie mir einen gewissen Bewegungsdrang, Wettkampflust und Neugierde auf die Grenzen meiner Wirkmacht.

Ich handelte die meiste Zeit meines beruflichen Lebens nicht aus moralischen Gründen, ich glaube wirklich, ich verfügte über keine Moral und kann jetzt nicht einmal mehr sagen, ob mir Moral grundsätzlich überhaupt bekannt war. War ich befähigt, moralisch zu handeln?

„Hatte ich nur kein Interesse am moralischen Handeln?
Handelte ich entgegen einer moralischen Intention?“

Wissen Sie, gerade entdecke ich mich ein bisschen neu, wenn Sie so wollen. Ich möchte die Menschen nicht mehr alle ausnahmslos in ihr Inneres stürzen lassen, will sie nicht in Blindheit schicken, nur, weil ich das so gut kann. Ich will jetzt die Sorgen als Abwägungen verstanden wissen.

Sich zu sorgen ist eine gute Wahl. Meines Erachtens sind Sorgen weit von kopfloser Panik entfernt, sie sind, so wie ich sie mittlerweile gern verstehe und verteile, tendenziell intellektuelle Zustände, sind sozusagen die klügeren Ängste.

Sagt die Bibel, du sollst dich nicht sorgen, sage ich: Sorge dich, doch, sorge dich, nutze die Sorgen als sneak peak als trailer einer Möglichkeit und triff, nachdem du dich ausführlich gesorgt hast, eine gute Entscheidung.

Natürlich platziere ich Sorgen mal präzise und mal nachlässiger. Aber auch aus der umsichtig platzierten Sorge kann eine ungeschickte, gar dumme Handlung erfolgen. Denken Sie an das Märchen Dornröschen. Ein Fallbeispiel für schlechte Entscheidungen!

Nicht der Prinz, die Dornenhecke, der hundertjährige Schlaf sind an diesem Märchen interessant, sondern warum es dazu kommen musste, dass die 13. Fee die Königstochter verflucht, sich an ihrem 16. Geburtstag an einer Spindel zu stechen und tot umzufallen. Alles nur, weil sie, die 13. Fee, nicht zur Feier für das neu geborene Königskind eingeladen war. Weil es nicht genug goldene Teller gab. Man gab der Sorge, sie könnte und würde sich ausgeschlossen fühlen, nicht ausreichend Raum. Man gab sich am Königshof keiner konkreten Vorstellung hin, man ließ ihr nicht irgendwo einen goldenen Teller besorgen, man kam auch nicht auf die Idee, ganz andere Teller zu benutzen, Teller aus Porzellan oder woraus auch immer. Man verwandelte die Sorge über den nicht vorhandenen 13. goldenen Teller und die ungleiche Behandlung nicht in eine Lösung. Ich kann das eigentlich immer noch nicht glauben, so erstaunlich ist das. Man meinte, sich des Problems durch Vertuschung entledigen zu können. Man handelte dilettantisch. Das war das eigentliche Problem.

Wer Sorgen nicht als Sprungbrett verstehen will, gerät in die Bredouille. Das ist jetzt mein Ansatz. Da ich nicht mehr an einem möglichst hohen Sorgenaufkommen interessiert bin, sondern an der Qualität der Sorgen, sehe ich es mittlerweile so: Ich bringe einen Anfang, aber der wird noch viel zu oft als wirres Ende gehandhabt, als etwas, das um sich selber kreist.

„Ich führe leider nicht grundsätzlich zu Handlungen, die
das, wovor man sich sorgt, abwenden.“

Das wundert mich. Ich frage mich: Liegt das nur an mir? Verrichte ich meine Arbeit falsch? Bedürfen die Menschen einer weltumspannenden Sorgenschulung?

Tja.

Wirklich, ich mache meine Arbeit gern, ich komme mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen. Manchen wäre ich lieber nicht begegnet. Lassen Sie es mich so sagen: Es gibt geradewegs diabolische Charaktere. Und wäre der Vorgang nicht sogar unmöglich, würde ich sagen: Die stürzten mich – die Sorge höchstpersönlich! – in Sorgen.

Es gibt darüber hinaus auch Leute, denen hätte ich einige Sorgen ersparen sollen, die können die Sorgen, das Sich-Sorgen, nicht handhaben. Die haben nichts als Sorgen geerbt, die muss ich nicht zusätzlich belasten. Als Sorge ist mir das Mitgefühl durchaus vertraut. Das war aber nicht immer so. Wie gesagt, ich habe die Moral außen vor gelassen. Ich fühlte mich nie sonderlich verantwortlich für die Folgen meines Tuns. Ich bin noch immer fasziniert vom Facettenreichtum meiner Arbeit. Ich empfinde keine Reue, wie ich auch keine Reue verteilen kann. Eine Kernkompetenz mit Entwicklungspotenzial ist mehr als genug, das reicht mir wirklich.

Aber ich denke ab und an: Ich habe jahrhundertelang fleißig gearbeitet, mal keinem und mal verschiedenen Herren gedient. Ich brauche vielleicht einen anderen Namen. Ich brauche ein bisschen Zeit. So, wie ich mich reinschleiche, schleiche ich mich raus.

Belassen wir es für den Moment dabei.

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