Herrliches Getön: Drei Doriden mit Delfinen und vier junge Männer, einer von ihnen bläst in ein Horn. Szene aus der Klassischen Walpurgisnacht, illustriert von Max Beckmann (1884–1950)

In dieser Lebensfeuchte

Körperflüssigkeiten und Sprachfluss

20.03.2025 2

Nicht nur in der wüsten Walpurgisnacht-Revue, dem Hexensabbat im ersten Teil des Faust, geht es um Geschlechtslust und Körperflüssigkeiten. Auch im zweiten Teil des Dramas kehrt das Thema wieder – nicht minder drastisch, aber in subtileren Varianten. Da ist zuerst das wilde Theater der Metamorphosen, das die Klassische Walpurgisnacht im Ägäischen Meer vorführt. Am Ende dieser tranceartig sinnverwirrenden Szenenfolge erleben die drei Reisenden – Faust, Mephisto und der noch immer in seiner Phiole steckende laborgezeugte Homunkulus – die Urzeugung mit, den Anfang allen Lebens auf der Erde.

Unauffälliges Muster und Gegenbild dieser im doppelten Sinne fantastischen Szene ist nicht die nordische Walpurgisnacht des ersten Teils, sondern ein viel zarterer Text: Goethes großes Lehr- und Liebesgedicht Die Metamorphose der Pflanzen. Adressiert an eine Geliebte, läuft diese botanische Belehrung hinaus auf die geschlechtliche Vereinigung, die das sich in immer neuen Kreisläufen entwickelnde Leben weitergibt. In ihr folgen Pflanzen und Menschen denselben Gesetzen. In mythologischen Bildern einer botanischen Hochzeit, auf dem von Amor und Hymen bewachten Liebesaltar, empfängt „der Erde / Stille befruchtender Schoß“ den Samen, und Neues kann wachsen.

Amor und Hymen bezeichnen auch in der Klassischen Walpurgisnacht Ziel und Höhepunkt des Geschehens. Nun aber ist das Meer der Schoß, und der von Proteus „verführte“ Homunkulus jubelt: „In dieser holden Feuchte / Was ich auch hier beleuchte, / Ist alles reizend schön.“ Wie ein Echo antwortet Proteus: „In dieser Lebensfeuchte / Erglänzt erst deine Leuchte / Mit herrlichem Getön.“ So erreicht die Szenenfolge ihren Höhepunkt – „Jetzt flammt es, nun blitzt es, ergießet sich schon“ –, so zerschellt die Laboratoriums-Phiole des Homunkulus an der Muschel der Galathee, und sein Weg zur Menschwerdung kann beginnen. Und so mündet das „feurige Wunder“ in den feierlichen Lobpreis: „Die Körper, sie glühen auf nächtlicher Bahn, / Und rings ist alles vom Feuer umronnen; / So herrsche denn Eros der alles begonnen!“

Das Wunder ist noch steigerungsfähig. Mit dem nächsten, zentralen Akt des zweiten Teils steht Goethe vor der Aufgabe, eine der ältesten Episoden der Überlieferung auf die Bühne zu bringen: die Vereinigung des nordischen Faust und der griechischen Helena, des gelehrtesten Mannes und der begehrenswertesten Frau. Wie er das macht, widerstreitet allen Erwartungen. Wenn sie auftreten, einander fern und fremd, sprechen beide in ihrer Sprache: in gereimten deutschen und in reimlosen, griechischer Form folgenden Versen. Je mehr sie sich aber einander nähern, staunend verliebt über die Grenzen der Zeiten und Kulturen hinweg, desto weiter gleichen die Klänge sich an. „So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön?“, fragt Helena, betört von Fausts Reimen, in denen sie die Wörter einander „liebkosen“ hört. Wenn er antwortet: „Das ist gar leicht, es muss vom Herzen gehen“, hat die Verwandlung von Poesie in Erotik schon begonnen.

So vollziehen die Liebenden, indem sie ihre Redeweisen verschmelzen lassen, vorsichtig tastend, bezaubert und entzückt, vor den Ohren des Hofstaats ihre metrische Hochzeit. Verse sind es, in denen Helenas „Brust von Sehnsucht überfließt“ und die Faust „mitgenießt“; einander „nah“, sind sie „da“. Aus den Körperflüssigkeiten wird in diesen traumhaften Szenen der Fluss der Sprache, in lauter Lust und Liebe.

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