
Krieg und Sprache
#2 | Innere Bilder
Im Gespräch mit dem Journalisten Simon Shuster erzählte Wolodymyr Selenskyj, wie ihm regelmäßig die Fotoberichte von Kriegsfolgen gezeigt werden. Er hat ja seine Mitarbeiter*innen extra gebeten, ihm alles zu zeigen. Auf dem Foto, das in seinen Gedanken hängen geblieben ist, war eine tote Frau auf dem Bahnhof in Kramatorsk zu sehen, enthauptet durch die Explosion nach dem russischen Raketenschlag. Später, erzählte er, war dieses Bild immer noch in seinem Kopf, auch beim Treffen mit Ursula von der Leyen, als sie zum erstem Mal Kyjiw besuchte.
Das klang wirklich seltsam und gleichzeitig stark. Eine Art visueller Kommentar unserer europäischen Integration. Und gleichzeitig war diese unerwartete Kombination eines Bildes im Kopf mit dem, was sich vor den eigenen Augen abspielt für mich eine erhellende Beschreibung der heutigen Kriegswahrnehmung. Der Krieg stellt uns sein blutiges Selbst vor Augen und wir wissen nicht mehr, was eine Täuschung ist: verinnerlichte Bilder der Vernichtung oder äußere Snapshots des noch bestehenden Lebens.
Auf dem sicheren Boden eines anderen Landes erlebe ich eine analoge Situation. In der Außenwelt finde ich das Verinnerlichte. Die Landschaften meiner Heimat sind plötzlich da.
Rakete, die einen zentralen Platz durchbohrt.
Leiche oder Körperteile, die wochenlang in einer besetzten Stadt liegen.
Oder das Z aus Zweigen, das mich plötzlich aus meinem Fenster anschaut.
Auf diesen Fotos wird das Unheimliche auf die Straße geworfen. Ist die Gegenwart so dicht, dass sich drin kein Platz mehr findet? Wahrscheinlich steckt hinter so einer Doppelsicht etwas Akustisches, der Ruf aus der persönlichen Tiefe, oder ein Schrei. Die Trauer, für die heute weder Zeit noch Raum da sind, legt sich auf die Augen als zweite Membran, die ständig zittert.
Der bekannte Fotojournalist Maks Levin sagte einmal nach dem Beginn des Krieges in 2014, dass jeder Fotograf träumt, ein Foto zu machen, das den Krieg stoppen könnte. Levin wurde im März von russischen Soldaten erschossen.
Seitdem denke ich an ein Foto, das mich hindern könnte, die unendliche Trauer zu verdrängen. Ich weiß nicht, ob es nur ein Bild im Laufe des Krieges sein kann, oder mehrere zu verschiedenen Zeitpunkten. Im Juni kam die Nachricht über den Tod eines jungen Mannes, den ich nur kurz in 2014 zu einem Interview über den Majdan traf. Ich erinnerte mich all die Jahre an seinen ruhigen, freundlichen Blick, auch wenn er sehr kritisch über Dinge sprach. Dieser Blick erwischte mich wieder, als nach seinem Tod seine Portraits in unseren Medien präsent waren. Sein Vater, den ich auch oberflächlich kenne, hatte gehofft – das weiß ich von meinen Freunden -, dass der Sarg mit dem Körper seines Sohnes nicht geschlossen zugestellt wird. Er wollte sich vergewissern, dass der Sohn nicht gefoltert wurde.
So ein Horizont von Hoffnungen heute. Und der Blick eines einzigen Menschen, ab jetzt nur auf dem Foto, das mich aus dem Spiegelland meiner Wahrnehmung herausführt und das Übermaß an Trauer plötzlich zugänglich macht.
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