
Erinnerungen und Gedanken
(k)ein lied für weimar
Anna Stiede ist 1987 in Jena geboren, aufgewachsen in Apolda und wurde durch die Wendejahre geprägt. Ihre persönlichen Erinnerungen aus den Nullerjahren bis in die Gegenwart und ihre Gedanken dazu hat sie für uns aufgeschrieben.
Mit dem Zug von Apolda nach Weimar und dann mit dem Bus Linie 6 hoch auf den Ettersberg. Dahin, wo die Bäume sich ihren Wald wieder zurückerobern. Wann war das? Ich bin in der siebten Klasse. 1999 oder 2000! Es ist mein erster Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald. Im Gästebuch der Dauerausstellung stehen heftige Nazi kommentare. Als ich zwei Jahre später ein Praktikum in der pädagogischen Abteilung der Gedenkstätte mache, erfahre ich von den regelmäßigen Besuchen von Nazis in Springerstiefeln und Bomberjacken. Sie posieren für Fotografien im Krematorium und verspotten die Geschichte. Ich beschloss damals: Ich habe keine Schuld an der Vergangenheit, aber ich trage die Verantwortung, dass nie nie nie wieder solch ein Terror geschehen darf. Klingt pathetisch. Leidenschaft und Drama: Ja, das hat mir meine Jugend im Osten mitgegeben.
März 2002
Ich bin gerade 15 geworden. Wieder und wieder zieht es mich in das Deutsche Nationaltheater Weimar. Marek Harloff fordert als Mephisto den Faust heraus, der von Thomas Thieme gespielt wird. Ich werde sie lange im Ohr behalten, diese krächzende Stimme des Mephisto. Ich hätte lieber mit dem Teufel als mit
dem Faust getanzt.
20. April 2002
Neonazis wollen unter dem Motto „Meinungsfreiheit für Deutsche – jetzt und überall“ in Weimar demonstrieren. Meine Mutter lässt mich nicht fahren – sie will nicht, dass ich die Gegendemo besuche. Nach einer Stunde Streit und unter Einsatz einiger Tränen darf ich dann doch. Eine Stunde zu spät zu einer antifaschistischen Demonstration zu fahren – so lerne ich an diesem Tag – ist keine gute Idee. Der vereinbarte Treffpunkt am Weimarer Bahnhof ist voll von Hunderten Neonazis. Mittendrin: ich mit meinen bunten Docmartens- Schuhen, rot gefärbten Haaren, die durch ein Kopftuch gebändigt werden und meinem Armee-Rucksack. Mich umzingeln mehrere Polizisten und erklären, mich nun schleunigst aus dem Bahnhof zu begleiten. Sie bringen mich raus, wo ich all die anderen Freund*innen und Demonstrant*innen treffe. An jenem Tag hat mir die Polizei vielleicht echt mal den Arsch gerettet. Anders als in AP. AP wie Apolda. Apolda fühlt sich an wie Anne Clarks „Sleeper in Metropolis“: rough, grau, abgefuckt, elend: Aber wir singen. Betrunkene Menschen, unglückliche und unzufriedene Gesichter, grau und immer wieder dieses Grau, Zombies, so viele kämpfende Zombies. Mittendrin: Grufties, Hippies, Punks, Discopopper. Wir – die bunten Freaks in diesem grauen Meer werden ständig durch die Stadt gejagt, angespuckt oder auch einfach nur mit „Sieg Heil“ in der Schulklasse begrüßt. Lehrkräfte sind überfordert. Die regierende CDU feiert das Apoldaer Bier und frisst Bratwürste, während die Kids der Stadt den Zusammenbruch eines alten Systems aus boxen. Die Polizei kommt nicht, wenn du sie brauchst. Zurück nach Weimar: Wir skandieren Sprechchöre, hören politische Lieder und halten mehrere Stunden auf dem Bahnhofsvorplatz aus, sodass es immerhin gelingt, dass Neonazis zwar durch Weimar demonstrieren, aber an diesem Tag nicht geschlossen nach Buchenwald laufen. In den Fenstern hängen klare Botschaften gegen Nazis. Mich beeindrucken diese sprechenden Fenster, diese Fenster, die ’ne Meinung haben.
Mai 2002
Der stellvertretende Schulleiter zitiert mich in sein Büro und erklärt, dass ich die Plakate zur Aufklärung von Nazisymboliken abnehmen muss. Poor wie sinnlooooos! Konzert in Naumburg. Meine Hose ist zerissen. Immer weiter tanzen, immer weiter gehen, nicht stehen bleiben, nie stehen bleiben!
Juni 2002
Öfters fahre ich nach der Schule mit dem Zug die zehn Minuten nach Weimar. Dort sammle ich zuerst meine Freunde vom Sophien-Gymnasium und dann die anderen vom Goethegymnasium ein. Wir besorgen uns noch Snacks und Bier und steuern dann unseren Fleck im hohen Gras vorm Goethe-Gartenhaus an. Kiffen, uns vor der Welt verstecken, philosophieren und zeitlose Zeit verbringen. Diese Weimarausflüge sind wie ein Urlaubstag. Da sind all diese über die Maßen kultivierten Menschen in ihren bürgerlichen Klamotten, die Männer mit farbigen Schals um den Hals. Weimar ist eine Erleichterung, sich mal ausruhen in dieser eingerichteten ordentlichen Bürgerlichkeit. Da ist ein Wind von offener Welt, Neugierde und vor allem Lust auf Zukunft, die ich in Apolda vermisse. Wenn wir in Weimar zusammensitzen, singe ich öfters voller Inbrunst „Ein Lied für Weimar“, angelehnt an Günter von Dreyfuß’ Lied, das die Weimarer Sängerin Ute Freuden berg 1999 sang. Meine Weimarer Freunde können diese Schnulze kaum ertragen. Ich hab wohl einfach Sehnsucht.
Januar 2003
Ihr seid mein Halt. Ihr baut mich auf. Ich lass es raus. Ihr seid am Start. Im Westen würde man sagen, wir sind ’ne Girls Gang, weil wir aber nicht im Westen, sondern in Apolda sind und viel Schabernack treiben, nennen wir uns einfach die Snowangels. Wenn wir uns nicht in der Stadt rumtreiben, verbarri kadieren wir uns regelmäßig in J’s Wohnung. Draußen sind wir laut und auf jedem Konzert oder jeder Party ’ne sichere Bank für gute Laune. NO NO NO NO NO NO NO
April 2003
Ich pass hier nicht rein in diese Kleinstadt. Ich pass hier nicht rein in diese Klamotten. Ich pass hier nicht rein in dieses „Politik interessiert mich nicht – ich halt die Fresse“. Mann ey: sinnlooooooooos!
27. Dezember 2003
Endlich. Unsere Weimarer Lieblingsband BUMSTICK spielt die Klassiker von „Rage Against the Machine“ im mon ami. Einzig die Securities nerven! Diese Macker bauen sich vor unseren Freunden auf der Bühne auf, fühlen sich geil, weil sie uns Befehle und Verbote aufdrücken können. Es ist absurd: Wir sind viel, viel mehr an diesem Abend in dem Raum, wir toben und pogen vor Wut und Lebenslust – und dazwischen diese aufgeplusterten Schränke, deren hasserfüllte Augen auf uns gerichtet sind. Und wir alle so: KILLING IN THE NAME OF!
Juni 2004
Apoldas CDU-Bürgermeister macht mich zur Schnecke und leugnet die Gewalt von Rechts vor unseren Austauschschüler*innen aus den USA und Westdeutschland.
19. September 2004
Ich könnt schreien und heule bitter in mein Kopfkissen hinein. Bei den heutigen Landtagswahlen in Sachsen hat die NPD einen übelsten Zulauf an Stimmen und kommt auf 9,2 Prozent. Sie gewinnt zwölf Sitze im Landtag. In Brandenburg 6 Prozent DVU. Was soll nur aus diesem Land werden? Nach außen glänzen – und nach innen zerfällt alles und hat eine hässliche Fratze.
März 2005
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
September 2005
Ich sammle meine Weimarer Freundin mit meinem Corsa ein. Ihr Hab und Gut wird auf die Rückbank geladen. Auf geht’s zu unserem Studium in den Westen. Endlich raus in eine Stadt, die mich an Weimar erinnert: Marburg an der Lahn. Sich endlich mal mit der Welt befassen! Anständige Punkkonzerte werde ich vermissen. Dafür kommt die elektronische Musik in mein Leben.
November 2005
Mit einem Lächeln auf den Lippen trainiere ich mir meinen ostdeutschen Dialekt ab und sehe über die Ignoranz hinweg, wenn mir Westler auf die Frage, wo ich herkomme, entgegnen: „Ach, Thüringen, das ist doch an der Ostsee!“, oder gar nicht erst fragen, sondern aufgrund meiner Sprache ganz genau zu wissen glauben, dass ich aus Sachsen komme.
März 2010
Komisch, dass hier drüben keiner fragt. Komisch, dass so viele noch nie im Osten waren.
September 2011
Die Welt kollabiert in einer Finanzkrise. In Südeuropa passiert dasselbe wie in den 1990ern in Ostdeutschland: Privatisierung, Ellenbogen ausfahren und soziale Unsicherheit. Ich will nach Hause! Wo ist das? Italien oder im Osten? Ich ziehe zurück in den Osten. Warum bin ich weggegangen? Warum bin ich weggegangen? Warum bin ich weggegangen? Januar 2015 Du hältst es aus. Du sitzt es aus. Du schreist es raus.
Januar 2015
Du hältst es aus.
Du sitzt es aus.
Du schreist es raus.
Februar 2016
Warum bin ich weggegangen? Weil ich zerrissen bin. Weil ich mich irgendwo da draußen wieder zusammensetzen muss!
Sommer 2017
Ich suche
Ich suche
Ich suche mich selbst
Ich schwimme
Ich schwimme
Ich schwimme über meiner Angst
Da unten
Da unten
Da unten da ist sie
Angst und Befreiung
Monster der Tiefe
bist du Freund oder Feind
Ich hab nichts außer meinem Körper
Damals wie heute
my body my panzer
9. November 2019
Trübsal. Tanzen. Triefen. Turnschuh. Textil. Trauma. Turbine. Teletubbies. „Wir machen weiter!“, schreibt mir unsere Regisseurin Susann Neuenfeldt per SMS: T wie „TreuhandTechno“. Deswegen bin ich gegangen. Weil ich fortmusste, Abstand gewinnen zu Trübsal, Tonfa und Trauer. Weg, um einen Weg zu finden, mich dir wieder nähern zu können.
Sommer 2020
Ich kehre mit unserem Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen zurück nach Apolda. Dort beginnt das Forschungsprojekt TreuhandTechno. Wir untersuchen den Tanz auf den Trümmern der DDR. Zwischen all den Grautönen fängt die Stadt an zu schimmern. Die Textilproduktion und das Arbeiter*innenwissen funkeln. Ich sammle Stimmenund Maschinensounds mit meinem Freund Hans Narva. Ich fühle mich zu den Textil- und Strickmaschinen auf unerklärliche Weise stark hingezogen. Der Stillstand der Maschinen schmerzt. Der Stillstand der Maschinen tötet.
2. März 2021
Im Januar wurden in der Schiller- und Steubenstraße in Weimar vier Stolpersteine mit grauer Farbe übermalt. Und jetzt schon wieder! FUCK!
Juni 2021
TreuhandTechno Berlin
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
Mai 2022
Ich reiße die Wunden der 90er Jahre auf. Haben die Baseballschlägerjahre eigentlich jemals aufgehört? Vorwärts zurück in meine Jugend. grau ist der himmel tot ist meine jugend grau war der himmel tot ist meine jugend tot ist meine jugend grau ist der himmel tot ist meine jugend meine jugend ist tot tot ist meine jugend meine jugend ist grau grau ist meine jugend tot ist der himmel der himmel ist tot, meine jugend ist rot.
Juni 2022
Mehrfach und schon wieder ist das quirlige Café Spunk in Weimar von rechts angegriffen worden. Die Betreiberinnen haben keinen Bock mehr und verkünden die Schließung. Nie konnten Täter*innen ausgemacht werden. Nie konnten Täter*innen ausgemacht werden. Nie wollten Täter*innen ausgemacht werden. Sie sind und bleiben: Täter*innen
Oktober 2022
Wir bringen mit TreuhandTechno die Abwicklung der Apoldaer Textilindustrie in das Bauhaus-Museum Weimar. Das große SINNLOOOOOS-Banner dürfen wir nicht an der Außenfassade des Museums anbringen. Zu viel 90er- und Nuller-Jahre-Reality fürs Bauhaus? Ich gehe auf Position. Unsere TechnoTextilmaschinen-Sounds scheppern. Da sind sie wieder: all die Stimmen der Näherinnen, Stricker, Unternehmerinnen und Raver aus Apolda. Sie zucken durch meine Glieder. Der Tanz ist meine Sprache. Weimar: Hörst du diese Geschichten? Apolda ist der proletarische Unterbau deiner bürgerlichen Ordnung. Apolda ist das Licht, und du bist der Schatten.
November 2022
Ein Ausstellungspavillon mit dem großen Schriftzug „WEIMAR HAT EIN NAZIPROBLEM“ wird beschädigt. Der Bürgermeister wünscht sich ein Fragezeichen hinter den Schriftzug. Ach! Was soll das Abschwächen von Zuständen? Viel zu lange hörte ich in meiner Jugend von Erwachsenen, dass alles doch nicht so schlimm sei. Schon zu DDR-Zeiten wurde rechte Gewalt als jugendliches Rowdytum verharmlost. Dieses jahrzehntelange Wegsehen hat das Gedeihen einer akzeptierten Rauheit in der Mitte der Gesellschaft begünstigt. In der eingerichteten Weimarer Bürgerlichkeit und Schöngeistigkeit gab es keinen Raum, um vom Abfuck der Wende zu erzählen. Vielleicht hätten Dreyfuß und Ute Freudenberg mal an den Weimarer Stadtrand oder nach Apolda schauen sollen und ein Lied für die schreiben sollen, die durch die sogenannte deutsche Wiedervereinigung überflüssig gemacht und abgewertet wurden. Denen ihr Zuhause kaputt gemacht wurde. Deren Körper begannen zu sprechen, was Worte nicht durften. Ein Lied für Apolda. Wie das wohl geklungen hätte?
Dezember 2022
man wünscht sich gute Taten
nur wehtun solln sie nicht
Juli 2023
Ich hab nen Schaden
Ich und meine schöne Ostmacke
FUCK YOU; I WON’T DO
WHAT YOU TELL ME
August 2023
Ich suche weiter nach Anhaltspunkten in den Nuller-Jahren, will mich erinnern, wie es war, aber meine Ergebnisliste bei Google ist voller aktueller Einträge über Beschädigungen in der Gedenkstätte Buchenwald, Pöbeleien von Holocaust-Leugnern beim Kunstfest, rassistischen Übergriffen in Weimar und Thüringen heute. Nazis brauchen heute keine Baseballschläger mehr.
14. September 2023
Im Thüringer Landtag beschließt die Opposition die Herabsetzung der Grunderwerbssteuer. In der Folge wird das Land Thüringen weniger Geld haben, zum Beispiel für Kindergärten oder Schulen. Steuererleichterungen sind ja nice – aber warum nicht für alle, sondern nur für jene, die ein Haus haben können? Ende Oktober 1922 marschierten die Schwarzhemden mit und im Interesse der Großgrundbesitzer Norditaliens auf Rom zu. Daran muss ich denken.
WIR HABEN EIN
FASCHISMUSPROBLEM
AUSRUFEZEICHEN
Weitere Arbeiten von Anna Stiede
„SORGENMASCHINE“ (Teaser)
„Sorgenmaschine" ist eine Performance von Anna Stiede, die 2023 im Rahmen der Performancereihe EAST IN ME von Panzerkreuzer Rotkäppchen mit verschiedenen Künstler*innen produziert wurde. EAST IN ME thematisiert die Restbestände an Osten und DDR, die in Biographien, Psychen und Körpern seit 1989 weiterleben. Im Teilprojekt „Sorgenmaschine“ beschäftigt sich Anna Stiede mit dem akustischen und emotionalen Nachleben der durch die Treuhandabwicklung entsorgten VEB-Maschinen. Konzept und Idee zu EAST IN ME stammen von der ostdeutschen Regisseurin Susann Neuenfeldt, die Produktion von Panzerkreuzer Rotkäppchen, gefördert wurde das Projekt vom Fonds Darstellende Künste.
ANNAMEDEA TRYOUT
„Wer hat das Recht zu schimpfen? Das Schimpfen ist eine bereits in der DDR trainierte subversive Praxis und eine Form der politischen Meinungskundgabe. Schimpfen ist wie Schnaps. Schimpfen ist Verdauung von dem, was scheisse ist.“
Anna Stiede
Sehen Sie sich die komplette Performance ANNAMEDEA TRYOUT auf Vimeo an.
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