
Ich heiße die Schuld
Faust II, 11384
Sie betreten am Ende von Fausts Leben nur kurz, aber dafür umso wirksamer die Bühne: die vier rätselhaften Figuren Mangel, Sorge, Schuld und Noth. Passend zum Themenjahr Faust schreiben die Autorinnen Heike Geißler, Lena Gorelik, Dana Grigorcea und Anne Haug dort weiter, wo Goethe einst aufhörte - und verleihen diesen Personifikationen eine neue, zeitgenössische Stimme.
Du trägst mich.
Einmal, da konnte mein Sohn noch nicht schwimmen, ein Sommertag, Sonne, wie es sich für den Anfang einer Geschichte gehört. Die Kamera, wäre das ein Film und keine Erinnerung, porös, die Kamera würde über einen Frühstückstisch im Grünen fahren. Pinienbäume, Sonnenstrahlen, die sich den Weg durch Äste bahnen, eine Wiese, im Hintergrund ein Pool. Sommer-Idylle quasi. Die Kamera dürfte nicht lange auf dem Pool verharren, das wäre zu viel Verheißung. Vielleicht also eine Großaufnahme von Kinderhänden, die rote saftige Erdbeeren naschen. Mein Sohn trug furchtbar gerne eine gelbe Schwimmweste in jenem Sommer. Sie sah wie die Weste eines Feuerwehrmanns aus, den er aus einer Kinderserie kannte, Feuerwehrmann Sam, falls das für irgendjemanden eine Referenz sein sollte. Er trug sie, weil er noch nicht schwimmen konnte, aber er trug sie auch, weil er sie von Herzen liebte. Den ganzen Tag über trug er sie, auch wenn er nicht ins Wasser wollte, und auch im darauf folgenden Sommer, als er bereits schwimmen konnte, trug er sie noch immer. Wir wollten beide nicht, dass er aufhört, die gelbe Schwimmweste zu lieben, dieses Bruchstück von Kindheit. An jenem Morgen aber, na klar, an jenem Morgen trug er sie nicht.
Die Schuld als Gefühl, also als etwas, das ich fühle. Abgespeichert: in das verwoben, was ich von mir sehe, wer ich heute bin. Das Gedächtnis löchrig wie immer bei den wichtigen Augenblicken im Leben. Erwachsene, die noch Kaffee trinken, und Kinder, die schon mal vorgehen zum Pool. Die Kamera bleibt respektvoll in der Ferne, nackte Kinderfüße vielleicht, die durch das Gras rennen, das letzte Kind ist natürlich das Kleinste. Erwachsene im summenden Gespräch, nichts drängt an diesem Sommertag, vielleicht greifen sie nach den letzten Erdbeeren in der Schüssel. Wir kommen gleich nach. Ich muss etwas gesagt haben, definitiv, denn ich erinnere mich noch an ihre Antwort: Er geht bestimmt nicht in den Pool ohne seine Weste. Oder so ähnlich. Die einzelnen Worte, deren Zusammensetzung sind mir entwischt, aber der Sinn. Dass ich sitzen bleiben könne. Oder solle? Das sagt sie zu mir, deren Kind bereits schwimmen kann, in einer Ruhe, die mir nicht zustand. Und: Ich will hier mit dir sitzen, sagt sie auch. Jemand anders stimmt ihr zu, bleib doch sitzen. Sprechen sie so, im Imperativ? Ich jedenfalls folge der Aufforderung, in welchen Worten sie auch immer geschah. Die Kamera sieht immer noch aus der Ferne, niemand von den Erwachsenen steht von diesem Tisch auf, um nach den Kindern zu sehen. Sie könnte jetzt in die Totale gehen oder auf ein Detail. Eine gelbe Schwimmweste auf einem Liegestuhl vergessen, zum Beispiel. Ganz dramatisch.
Mit Worten gegen die Schuld ankämpfen, anrennen. Sonderbar, dass die Schuld einer Tat entspringt – oder eben der Entscheidung, nichts zu tun, was nicht weniger eine Tat ist, wenn nicht sogar mehr –, aber man sie mit Worten wieder loswerden will. Die Tat durch Sprache wieder aushebeln, oder zumindest etwas von ihrer Schwere nehmen, wie ein Gegengewicht, das aus einer Erzählung besteht. Kontextualisieren: Dass ich sicher war, das Kind ist vorsichtig, vernünftig, so kannten wir es. Dass ich an jenem Morgen zu sehr auf eine andere Person fokussiert war. Dass ich da einfach sitzen und Kaffee trinken wollte, dass ich kurz nicht Mutter war. Dass das „mal passieren“ kann, was Therapeut*innen der Schuld entgegen werfen: Seien Sie nicht so streng mit sich selbst. Der Versuch, mich selbst zu verstehen: Die Frau, die sitzen blieb, um bei jemandem sitzen zu bleiben, während ihr Kind am Pool war, ohne schwimmen zu können. Ich verstehe die Frau, wirklich, aber es ändert nichts an der Entscheidung, die ich als Mutter traf.
Dann renne ich diesen Abhang hinunter, der kein wirklicher Abhang war, die Wiese senkte sich nur leicht herab. Und so weit war es nicht, dieses Stück, das ich zum Pool rannte. Sehe Gras im Rennen, höre diesen Gedanken: Wie konnte ich nur? Alles andere wie ausgelöscht: Hat mich jemand gerufen? Die anderen Kinder vielleicht? Kurz blitzt, erst jetzt, während ich diese Zeilen tippe – eine Geschichte erzähle – der Gedanke auf: Vielleicht war auch nichts, nur meine Angst oder das schlechte Gewissen, das unter der Ruhe brodelte, man könnte sicher auch erzählen: die mütterliche Intuition. Vielleicht stand ich erst ruhig auf, und dann rannte die Mutter los.
Das Kind im Wasser. Erschrocken. Noch nicht weit weg von der Treppe, die in den Pool führt. Wie kann es sein, dass außer dieser Frage – wie konnte ich nur? – nichts bleibt. Noch nicht einmal, ob ich filmreif in Schuhen in den Pool rannte, in Klamotten. Was ich überhaupt trug, ob Schuhe, einen Rock, eine Hose. Ich meine, die Treppe genommen zu haben, ich sprang nicht hinein. Ob ich schrie, oder er, oder jemand anders, oder niemand. Ob Stille war, alles eingefroren. Nur dieses erschrockene Kind. Eine Beschreibung, die die Schuld diktiert, denn ich kann sein Gesicht vor mir nicht sehen. Sehe nichts, nur wie ich ihn, schon wieder oben, an einem Liegestuhl angelangt, in den Armen halte. Und die gelbe Schwimmweste, die auf einem anderen Liegestuhl liegt. Ohne jegliche Dramatik, einfach nur bereit, angezogen zu werden.
Ich suche die Schuld immer nur bei mir. Warum nur? Denke mich in meine Muttersprache zurück, suche da wie immer die Anfänge von allem. In der Muttersprache, und damit vielleicht auch in der Mutter. Höre „Deine Schuld“ wie „du bist nicht die Schuldige“ gleichermaßen, weil man die Adjektive in meiner Muttersprache dem Geschlecht der angesprochenen Person angleicht. Vor Kurzem fragte mein Sohn, weißt du noch, wie ich ohne Schwimmweste in den Pool ging? Er fragte das nur. Vielleicht finde ich die Schuld deshalb so schnell bei mir, weil ich sie zu kennen meine. Ich erkenne sie augenblicklich, da bist du ja, alter Freund. Freundin! Ich wage, die Frage nicht zu stellen, ob sie eine Fata Morgana sein könnte, als würde ich damit unverzüglich Gefahr laufen, keine Verantwortung zu übernehmen. Kann Schuld gehen oder vergehen?
Das Wort „Verantwortung“ fällt mir automatisch in weniger Sprachen ein als „Schuld“. In meiner Muttersprache nur als Verb in der ersten Person, „ich verantworte mich“ sozusagen. Verantworte ich mich? Indem ich was tue? Ich hab mich so fürchterlich erschrocken damals, sage ich. Ich auch, sagt das Kind. Es tut mir leid, könnte ich sagen, aber das Kind, das schon lange schwimmen kann, und sich trotzdem immer noch gerne an seine gelbe Schwimmweste erinnert, weißt du noch, die habe ich so geliebt wegen Feuerwehrmann Sam, ist immer noch ein Kind, ist schon zwei Themen weiter gezogen.
Es ist nichts passiert damals. Es ist eine Geschichte mit Happy End, oder es ist überhaupt keine Geschichte. Er zappelte irgendwie im Wasser, als ich ihn rauszog. Bestimmt erschrocken, aber mehr war auch nicht. Es ist doch nichts passiert, sagten die anderen, die nun auch an den Pool kamen. Ob wir Karten spielen wollen. Die Mutter, die ihr Kind hält, und in der Mutter die Frau, die vergessen hatte, Mutter zu sein, schuldbewusst und still auf einmal.
Es ist doch nichts passiert, nur diese Geschichte. Wie ich mich entschied, sitzen zu bleiben, nichts zu tun. Die Schuld ist weiblich, ich bin es auch. Wie ich mich entschied, zwischen Frau und Mutter; haben sie Gegensätze zu sein? Die Schuld klebt bis heute an der Mutter, an der Frau, die im falschen Moment keine Mutter war. Aber es ist ja nichts passiert, alles noch einmal gut gegangen, nur die Schuld klebt an uns beiden, der Frau der Mutter. Das letzte Bild der Kamera ist vielleicht der Pool, in dem Kinderspielzeug treibt: ein Ball, eine Luftmatratze in der Form eines Pizzastücks, ein Ruder.
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