
Literarischer Widerstand
Krieg und Sprache
Kevin Hanschke rezensiert die soeben im Suhrkamp Verlag erschienene Textsammlung „Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine“, herausgegeben von Kateryna Mishchenko und Katharina Raabe. Die Sammlung umfasst 18 Texte und einen Bildessay zum Krieg gegen die Ukraine, unter anderem von Kateryna Mishchenko, Oksana Karpovych, Susanne Strätling und Karl Schlögel.
Auf den Satellitenbildern, die momentan Europa zeigen, ist die Ukraine deutlich zu erkennen. Im Lichtermeer des Kontinents ruht ein großer, dunkler Fleck. Er offenbart, dass ein Land im Krieg ist. Die „ukrainische Nacht“, so schreibt Kateryna Mishchenko in ihrem Essay „Spiegel der Seele“, „ist beängstigend und erdrückend zugleich“. Der 24. Februar 2022 veränderte für die Bewohnerinnen und Bewohner der Ukraine alles. Zerstörung und Terror hielten Einzug in Städten und Dörfern. Der russische Angriff auf die Souveränität des Landes führt zu tausenden Toten und Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. Für die Intellektuellen der Ukraine markiert der Krieg einen traumatischen Bruch, der nicht nur ihre Existenz verändert hat, sondern auch ihre Arbeit, das Denken und Schreiben, neu formatiert.
Am Abend des russischen Einmarsches schlief die Germanistin Kateryna Mishchenko auf der Couch eines Freundes. „Alles wurde anders, selbst die Träume“, sagt sie. Das Leben in ihrer eigenen Wohnung im Stadtzentrum der sonst boomenden und vibrierenden Millionenmetropole Kiew war in den ersten Wochen des Angriffs zu gefährlich geworden, denn sie liegt direkt im Regierungsviertel, wo die russische Armee eigentlich in wenigen Tagen nach Beginn des Krieges Siegesparaden hätte feiern wollen.
Kurz darauf verlässt sie mit ihrem kleinen Sohn Kiew und flieht nach Berlin. „Die Welt war nicht mehr so, wie sie gewesen war. Und die Angst vor Zerstörung und Terror beherrschte uns zu Beginn“, sagt sie. Doch ihr Verhältnis zum Krieg veränderte sich. Aus Wut wurde Widerstand. Aus der Destruktion steigt Kampfeswille empor. Das schreibt Mishchenko in einem Text, der soeben in dem im Suhrkamp Verlag erschienen Sammelband mit dem Titel Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine veröffentlicht wurde.
Ihr bewegendes und zugleich analytisches Essay, das von den Gefühlen in den ersten Tagen des russischen Angriffskriegs erzählt und von all dem Horror und der Ohnmacht berichtet, die die Bürgerinnen und Bürger Kiews in dieser Phase des Krieges spürten, ist der Auftakt zu einer tiefgründigen Textsammlung zur Gegenwart der Ukraine, die sie herausgegeben hat. Die Autorinnen und Autoren des Bandes, Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, Künstlerinnen und Journalisten, halten die Gleichzeitigkeit fest: das Ende des friedlichen Lebens und seiner Orte; die zivile und militärische Selbstbehauptung; den Willen, eine neue, sichere Heimat zu schaffen.
Alle drei Kapitel, mit 18 Texten und einem eigenständigen Bildessay, setzen sich mit dem Krieg auseinander. Besonders einprägsam ist das erste mit der Überschrift „Die Erfahrung der Destruktion“, denn die neun Texte sind von Autorinnen und Autoren verfasst, die selbst vom Krieg betroffen sind, die den Krieg erlebt haben und damit umgehen müssen.
Mishchenko sammelte dafür Beiträge von Journalistinnen und Journalisten, die Kriegsverbrechen dokumentieren, von Menschen, die das Land verlassen mussten, von Ortskräften, die ausländischen Reporterinnen und Reportern dabei helfen, über die Grausamkeiten zu berichten. Im anschließenden Kapitel „Die Aufnahme der Veränderung“ versammelt der Band Fotografien vom Krieg, die beispielsweise das zerstörte Regierungsviertel von Charkiw, Soldatengräber auf dem Land oder Kinder zeigen, die in den Ruinen spielen.
„Ich wollte Geschichten, die die Situation objektiv und zugleich subjektiv betrachten, von Menschen, die mittendrin sind, die das Problem von innen sehen und daraus ihre Schlüsse ziehen und eine Analyse verfassen“, sagt sie am Telefon. Momentan hat sie viel zu tun. Ein Interview folgt dem nächsten. Im Moment plant sie Lesungen und Vorträge. Man spürt im Gespräch, dass sie sich über die aktuelle Lage keine Illusionen macht. Dass sie aber trotz aller Wunden siegesgewiss ist. Es gehe ihr nicht um die intellektuelle Abstraktion, sondern um den radikalen Blick auf den Krieg, auch fotografisch. „Uns alle vereint der Kampf um eine freie Ukraine“, sagt sie.
Neun Jahre nach der „Revolution der Würde“ und ein Jahr nach der russischen Invasion werde die Grenze zwischen der Ukraine und der EU immer mehr durch den Tod bestimmt. Für den Frieden, die Gerechtigkeit und die Zukunft Europas sei es erforderlich, diese Grenze zu überwinden, meint sie. Dazu gehöre auch, dass die Ukraine in die Europäische Union aufgenommen wird. Dennoch: unterstützt vom Westen, halten Staat und Gesellschaft stand. Aus dem Nebel des Krieges entsteht eine neue, ungewisse Zukunft. Deren Szenarien werden im letzten Kapitel „Orientierungsversuch“ erörtert.
Kateryna Mishchenko wurde 1984 geboren und ist ein Kind all der Transformationen, die die Ukraine seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfahren hat. Sie ist Essayistin, Übersetzerin und Verlegerin und kommt aus Kiew. Doch momentan lebt sie in Berlin, ist Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und gehört zu den bedeutendsten jungen literarischen Stimmen der Ukraine. Sie war Herausgeberin von Prostory, einer Zeitschrift für Kunst, Literatur und Gesellschaftskritik. Zudem ist sie Mitbegründerin des ukrainischen Verlags Medusa und Mitautorin des Buches Ukrainian Night.
Für ihr Buch hat sie Essays, Textfragmente, Analysen und Geschichten gesammelt, die die ganze Vielfalt des momentanen literarischen Schaffens unter Kriegsbedingungen aufzeigt. „Einatmen. Nur einmal kurz reinschauen. So stelle ich mir meine kurze Reise nach Kiew vor“, schreibt sie. „Ich komme nach einem Jahr wieder. Aber viele Menschen die hier gewohnt haben, sind nun bestattet, vermisst oder vertrieben“. Die Ukraine beginne für sie auf dem Bahnsteig am Berliner Hauptbahnhof, hier, wo die Züge nach Polen und dann nach Lwiw, Kiew oder Odessa fahren, und wo viele ihrer Landsleute, mit denen sie für das Buch zusammengearbeitet habe, ihre Reisen in die zerstörte Heimat antreten.
Sie sei froh, dass die Fronten momentan standhalten und dass es die Möglichkeit gibt, in die Ukraine zu reisen, die von den tapferen Soldaten und Soldatinnen verteidigt wird. „Die Zeit dafür gibt es noch. Sie wurde von anderen erkämpft und mir geschenkt. Und ich nehme dieses Geschenk glücklich an“. Empathisch zeichnen die Autorinnen und Autoren die kleinen Alltagsbeobachtungen auf, die sie im Ausnahmezustand machen. Sie erzählen von Stromausfällen und der dabei einsetzenden „urbanen Melodie der Generatoren“, von Soldatenspuren in den weiten Wäldern, zerstörten und neu gepflanzten Bäumen, Häusern, die beschossen und dann wiederhergerichtet wurden, oder dem Zugverkehr an der Grenze zu Polen. „Kriegsfuturismus“ nennt Mishchenko das, woran sich die Bürgerinnen und Bürger auf dem Land und in der Stadt gewöhnt hätten. Eine Zukunft trotz Vernichtung. „Das Leben musste weitergehen“, sagt sie am Telefon mit leiser Stimme. Schimpfwörter würden besonders bei dieser Überbrückung in die neue Welt helfen, resümiert sie hingegen lachend.
Schon kurz nachdem sie in Berlin eintraf, sei die Idee für den Sammelband entstanden. Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen seien nach Deutschland geflohen, erzählt sie und hätten das Bedürfnis gehabt, über ihre Erfahrungen zu schreiben.
Im Zentrum des Buches stehen deshalb unterschiedliche Themen. Einer der Beiträge setzt sich mit der brutalen Systematik der russischen Kriegsverbrechen auseinander, zeichnet die organisierte Zerstörungswut der russischen Armee nach – gegenüber Menschen und Kulturgütern, der Freiheit und der Demokratie. Andere hingegen gehen kritisch mit den deutsch-russischen Beziehungen ins Gericht, mit dem Kolonialismus im postsowjetischen Raum oder den Widerstandsstrategien in der Bevölkerung. „Wir wollen uns mit den Mitteln der kritischen Theorie diesem barbarischen Angriffskrieg annähern. Ihn verstehen und beenden“, sagt Mishchenko mit kämpferischer Stimme.
Seit Jahren setzt sich Mishchenko mit der Maidan-Revolution, dem Donbass-Krieg und den Folgen auseinander. Das neue Buch sei ein Folgeprojekt dieser Arbeit. Es solle die Themen ansprechen, über die deutsche Autorinnen und Autoren fast gar nicht sprechen. „Für mich ist dieses Buch und das Schreiben literarischer Widerstand“, sagt sie. Es sei ein Versuch, einen intellektuellen Schritt in Richtung Kriegsende zu machen, Menschen zu helfen und Diskurse zu beeinflussen.
Besonders berührend ist der Essay „Verfinsterte Orte“ von Oksana Karpovych, in dem sie sensibel über die Struktur und Transformation vom Räumen schreibt, die vom Krieg betroffen sind. Svitlana Matviyenko zeigt in „Terrorumgebungen“ hingegen auf, wie die Terrorstrategie Russlands das Denken der Menschen bestimmt und wie die Entmenschlichung im Krieg vonstattengeht.
Auch einige deutsche Autorinnen und Autoren sind in dem Band vertreten. Karl Schlögel zum Beispiel. Er ordnet die deutsche Debatte seit dem Kriegsbeginn ein, beschreibt das Unwissen der Deutschen über Osteuropa und kritisiert darin besonders die deutschen Intellektuellen, die der Ukraine wenige Tage nach Kriegsbeginn den Rat gaben, sich zu ergeben. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann vergleicht die Erinnerungskulturen der EU, Russlands und der Ukraine miteinander und beschreibt die Russische Föderation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als postimperiale Nation.
In der tiefgründigen Analyse „Zeitenwende. Ein Begriff des 24. Februar 2022“ seziert Susanne Strätling dazu die deutsche Reaktion auf das Kriegsgeschehen und die Debatte, die dadurch in der Bundesrepublik entstanden ist. Ihr Resümee: die Zeitenwende habe es zwar sprachlich in die Diskussion geschafft, aber gerade zu Beginn des Krieges sei Deutschland weit entfernt von einem Wandel im Umgang mit Russland gewesen. Viele Hoffnungen und Wünsche der Ukrainerinnen und Ukrainer seien enttäuscht worden. Was der Begriff tatsächlich bedeute, sei bis heute ziemlich offen. Es sei auch an den ukrainischen Intellektuellen in Deutschland, den Begriff mit Leben zu füllen und die ukrainischen Interessen in den Diskurs zu bringen. So sieht es auch Mishchenko, die im Gespräch sehr deutlich macht, um was es ihr mit der Publikation geht.
„Zerstörung und Gewalt müssen gestoppt werden. Russland muss gestoppt werden. Nur ein vollständiger Sieg der Ukraine, eine Rückeroberung aller besetzter Gebiete und eine russische Niederlage schaffen Frieden“. Auch in Deutschland müssten Intellektuelle und Politikerinnen und Politiker das verstehen und fordern, sagt sie. Die Unterstützung für die Ukraine dürfe nicht abnehmen. Nur so könne trotz der Zerstörung weitergekämpft und schlussendlich auch gesiegt werden.
Ihr Zukunftswunsch sei es, dass die Ukraine ein demokratisches, souveränes Land werde, dass der Wiederaufbau schnellstmöglich beginne und das Land als Bestandteil eines gemeinsamen europäischen Rahmens betrachtet werde. „Und dass unsere geliebte Ukraine in Freiheit lebt“. Es sei wichtig für sie, dass ukrainische Intellektuelle das in einem Buch äußern können. Auch um über den Krieg zu schreiben, wie noch nie über ihn geschrieben wurde.

Der von Kateryna Mishchenko und Katharina Raabe herausgegebene Band „Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine“. Foto: Lisa Bußler
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