
Krieg und Sprache
#7 | Menschenstunden. Klang und Klarheit
„Unsere Menschenleben kompensieren die Zeitstunden für andere“ – Zum zweiten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine erscheint ein neuer Beitrag der ukrainischen Autorin, Verlegerin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko. Es ist der siebte Teil ihrer vor zwei Jahren gestarteten Gast-Kolumne Krieg und Sprache.
Zu Beginn des Jahres 2024 habe ich ein neues Wort gelernt: Body count. Eine junge Frau erzählte mir darüber im Gespräch über Tinderkultur. What's your body count? - Die Frage, bezogen auf die Anzahl der Liebhaber*innen, bekommt man oft gestellt. Das ist anscheinend eine wichtige Leistungsfrage, und die Antwort darauf sollte irgendeinen Wert erhöhen. Das Wort hat mich verwirrt. Hätte ich es in so einer Frage gehört, würde ich in anderen Zeiten philosophisch an Datensubjekte der Sexualität im Neoliberalismus denken, aber gegenwärtig denke ich an die Zahl der im Krieg ermordeten Menschen. Body count klingt so klar und hallend, als könnte man in diesem Klang die Uhr ticken hören. Der Mord tickt und will nicht stoppen. Und in der Tat, wie ich später herausgefunden habe, bedeutet dieses Wort beides: Im direkten Sinne die Toten, im Jargon die Zahl der Sexpartner. Was diese zwei Kontexte verbindet, ist die Verlegenheit, das Unbehagen beim Stellen dieser Frage:
Was ist mein body count? Es gibt keine Antwort, nur den Klang. Die Friedhöfe nehmen immer mehr Land, die Bestattungen werden zu einer endlosen Kette, die Zahl der Verluste bleibt geheim. Die Daten anderer Art können doch einen Eindruck erzeugen. Nach Schätzungen des ukrainischen Verteidigungsministers kostet den Russen ein Quadratkilometer unseres Landes vierhundert Menschen. Ein Freiwilliger aus dem humanitären Projekt der ukrainischen Armee „Auf dem Schild“, der die Körper der Gefallenen oder ihre Überreste sucht, vom Kampffeld holt und manchmal den Körpertausch mit Russen durchführt, sagt in einem Interview, dass uns die Dimension des Geschehenen nicht bewusst ist und dass solche Menschen wie er mit der Arbeit für die kommenden fünfzig Jahre versorgt sind.
Die unklare Dimension des Schrecklichen überlappt sich mit der unklaren Position zur weiteren Unterstützung seitens des größten Partners. Wir reden ständig über die Katastrophe und über die Hilfe, bereits wie in einer Beschwörung. Für den Frieden reicht die Hilfe nicht, nur für den weiteren Krieg. Vor einem Jahr kämpften die Ukrainer*innen, damit ihre Kinder nicht kämpfen müssen. Nun ist es unklar, was die nächste Generation erbt: Werden sie in den Schulen Drohnen bauen, in ihren Nachbarwäldern entminen, ihre Umwelt entgiften und nie frei vom Trauma leben können? Werden die Enkelkinder weiter entgiften müssen? Die Unklarheit lässt viele in Europa vor der Katastrophe erstarren, statt sie vorzubeugen. Ist es schon zu spät? Bestimmt. Soll man dann aufgeben? Die Ukrainer*innen kennen die Antwort: Nein. Aber hört jemand wirklich zu?
Es gibt eine befremdende Bezeichnung im Ukrainischen für die Arbeitskraftstunden - людиногодини, etwa die Menschenstunden. Die Physikalität dieses Wortes ist auch erstaunlich. Unsere Menschenleben kompensieren die Zeitstunden für andere, das hört die Welt oft von unseren Politikern. Das klingt unheimlich, und es ist so.
Zu Beginn des Jahres 2024 habe ich ein neues Wort gelernt: Body count. Eine junge Frau erzählte mir darüber im Gespräch über Tinderkultur. What's your body count? - Die Frage, bezogen auf die Anzahl der Liebhaber*innen, bekommt man oft gestellt. Das ist anscheinend eine wichtige Leistungsfrage, und die Antwort darauf sollte irgendeinen Wert erhöhen. Das Wort hat mich verwirrt. Hätte ich es in so einer Frage gehört, würde ich in anderen Zeiten philosophisch an Datensubjekte der Sexualität im Neoliberalismus denken, aber gegenwärtig denke ich an die Zahl der im Krieg ermordeten Menschen. Body count klingt so klar und hallend, als könnte man in diesem Klang die Uhr ticken hören. Der Mord tickt und will nicht stoppen. Und in der Tat, wie ich später herausgefunden habe, bedeutet dieses Wort beides: Im direkten Sinne die Toten, im Jargon die Zahl der Sexpartner. Was diese zwei Kontexte verbindet, ist die Verlegenheit, das Unbehagen beim Stellen dieser Frage:
Was ist mein body count? Es gibt keine Antwort, nur den Klang. Die Friedhöfe nehmen immer mehr Land, die Bestattungen werden zu einer endlosen Kette, die Zahl der Verluste bleibt geheim. Die Daten anderer Art können doch einen Eindruck erzeugen. Nach Schätzungen des ukrainischen Verteidigungsministers kostet den Russen ein Quadratkilometer unseres Landes vierhundert Menschen. Ein Freiwilliger aus dem humanitären Projekt der ukrainischen Armee „Auf dem Schild“, der die Körper der Gefallenen oder ihre Überreste sucht, vom Kampffeld holt und manchmal den Körpertausch mit Russen durchführt, sagt in einem Interview, dass uns die Dimension des Geschehenen nicht bewusst ist und dass solche Menschen wie er mit der Arbeit für die kommenden fünfzig Jahre versorgt sind.
Die unklare Dimension des Schrecklichen überlappt sich mit der unklaren Position zur weiteren Unterstützung seitens des größten Partners. Wir reden ständig über die Katastrophe und über die Hilfe, bereits wie in einer Beschwörung. Für den Frieden reicht die Hilfe nicht, nur für den weiteren Krieg. Vor einem Jahr kämpften die Ukrainer*innen, damit ihre Kinder nicht kämpfen müssen. Nun ist es unklar, was die nächste Generation erbt: Werden sie in den Schulen Drohnen bauen, in ihren Nachbarwäldern entminen, ihre Umwelt entgiften und nie frei vom Trauma leben können? Werden die Enkelkinder weiter entgiften müssen? Die Unklarheit lässt viele in Europa vor der Katastrophe erstarren, statt sie vorzubeugen. Ist es schon zu spät? Bestimmt. Soll man dann aufgeben? Die Ukrainer*innen kennen die Antwort: Nein. Aber hört jemand wirklich zu?
Es gibt eine befremdende Bezeichnung im Ukrainischen für die Arbeitskraftstunden - людиногодини, etwa die Menschenstunden. Die Physikalität dieses Wortes ist auch erstaunlich. Unsere Menschenleben kompensieren die Zeitstunden für andere, das hört die Welt oft von unseren Politikern. Das klingt unheimlich, und es ist so. Wir haben keine Zeit, denn das Leben wird ständig genommen. Die erschöpften Soldat*innen warten auf die Stellvertretung und sagen „wir laufen aus“, wörtlich „wir kommen zu Ende“. Der Ersatz eilt nicht. Ich bin nicht sicher, was der Grund dafür ist: Müdigkeit, Angst, schlechtes Management, wahrscheinlich alles zusammen. Sie warten. Die Zeit lebt in ihren Körpern.
In den ersten Monaten der Invasion wurden selbstbestimmte Bürger*innen Fahnenmenschen genannt. Nach tausenden verlorener Menschenstunden stehen die Fahnen auf ihren Gräbern. Diese Fahnenfelder sind eine klare und prognostizierbare Landschaft.
Ihre Widerspiegelung finde ich auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kyiv. Vor zehn Jahren fand hier der Aufstand und eine brutale Erschießung der Protestierenden statt. Die Menschen retteten sich selbst und ihr Land von der Diktatur und wurden vom Kreml dafür bestraft. Seit dieser Zeit bleibt Maidan ein symbolischer Ort der Zukunft und der Erinnerung. In den vergangenen zwei Jahren entstand dort eine Anlage, wie eine Miniatur des Friedhofs, wo kleine ukrainische Fahnen wachsen. Gebracht von Verwandten oder Freunden, stehen sie wie Kerzen für die Seelen der Gefallenen.

© Kateryna Mishchenko
Vor einer Woche bekam ich die Nachricht, dass ein ehemaliger Klassenkommilitone, Serhij, im Krieg getötet wurde.
Nach einer Weile kam die Nachricht, dass Aleksej Nawalnyj ermordet wurde. Wahrscheinlich wieder vergiftet. Die ausführlichen Beschreibungen seiner Foltergefangenschaft erzählen die Geschichte von Tausenden Kriegsgefangenen, die dort blieben. Unter ihnen ist Maksym Butkevych, ein Antifaschist und Menschenrechtler, der seit Juni 2022 gefangen ist. Viele meiner Freunde suchen ihn immer wieder auf den Fotos, die nach dem Tausch der Gefangenen veröffentlicht werden. In seiner Zeit vor dem Februar 2022 setzte sich Maxym für die unpopulärste Zielgruppe ein: Migrant*innen und politische Geflüchtete aus Zentralasien, Belarus und Russland.
Russland führt den Krieg auch gegen alle seine Bürger*innen, die noch ein Gewissen haben. Verstehen Russen das? Ich denke schon, und da ist das Schreckliche. Das Regime genießt ihre Ratlosigkeit. Das sah ich in den Reportagen von den Traueraktionen für Nawalnyj. Den Kopf eines festgehaltenen Filmers haben die Polizisten im Schneehaufen vergraben und danach den schon Bewusstlosen in ihr Auto getragen. Unfassbar, wie stark „zu spät“ es für die Russen ist. Und es ist viel zu spät, immer noch etwas nicht fassen zu können. Jede Sekunde zählt.
Zum zehnten Jahrestag der Erschießungen auf dem Maidan lese ich über die Kinder der getöteten Protestierenden, die heute im Krieg kämpfen. Ein Sohn kommt auf den Platz, um mit dem Vater sprechen zu können. Ich erinnere mich, wie 2014 Maxym Butkevych eine riesige aufblasbare Bildwand in eines der besetzten Gebäude brachte. Ein menschenrechtliches Kino für Protestierende. Ich war beeindruckt von der menschlichen Fantasie, so eine Bildwand zu produzieren, und vom großen Herzen von Maxym, der den anderen in jenem revolutionären Winter eine Auszeit schenken wollte.
In den Radiosendungen über den Kriegsverlauf oder unsere innenpolitische Lage höre ich bei den Kommentatoren oft das flickwortartige „und so weiter, und so fort“. Und ich weiß ganz genau, warum mich der Klang dieser Worte nervt: Die Verbrechen enden nicht.
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