
Zeichnung eines Magellanpinguins von Georg Forster aus dem Jahr 1781
Neptunismus
Die Anfänge des Lebens im Weltozean
Die Meeresbiologin Antje Boetius und der isländische Schriftsteller Halldór Guðmundsson mischen sich ein in den Streit der Neptunisten und Plutonisten und aktualisieren Goethes Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält und wie wir Menschen dieses aus den Tiefen der Meere und den Feuern der Vulkane entstandene Wunder immer noch zu entschlüsseln versuchen.
»Alles ist aus dem Wasser entsprungen!!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ocean gönn’ uns dein ewiges Walten.«
„Was die Welt im Innersten zusammenhält“, lässt Goethe seinen Faust gleich zu Beginn der Tragödie erster Teil fragen, um ihn dann auf seine große Reise zu schicken. Bei mir war es Jules Verne, seine Reise ins Innere der Erde, der ich folgen wollte; eine Expedition bis zum Ursprung der Erdgeschichte. Das bedeutet, in der Zeit zurückzureisen um 4,5 Milliarden Jahre, um zu verstehen, wie aus einem Ur-Magma-Ozean die erste Lithosphäre und der Ozean entstanden sind und bald darauf das erste Leben. Einmal ins Innere der Erde zu schauen, um zu verstehen, woraus der Kern besteht, wie heiß er ist, wie er funktioniert. Denn reisen – in die Tiefe, in entlegene Gegenden, in die kleinsten Bestandteile materiellen Seins – macht die Geowissenschaft aus. Gerade haben wir sogar gelernt, etwas Wissen aus den wenigen mineralischen Überbleibseln zu gewinnen, die aus dieser vergangenen Zeit oder diesem unzugänglichen Raum noch vorhanden sind.
Die ältesten aller Überbleibsel von Erdkruste aus den ersten 500 Millionen Jahren seit Geburt der Erde sind seltene kleine Mineralkörner. Denn seit vielen Milliarden Jahren wirkt die Plattentektonik auf die Erdoberfläche ein, Kräfte wie heiße und kalte Temperaturen, Drücke und auch die Verwitterung zermahlen, was an Zeugnissen noch zu finden ist. Die kontinentale Kruste ist leichter als die ozeanische, also schwimmt sie auf und bleibt wesentlich länger erhalten. Auf dem Ozeanboden sind alle Spuren der ursprünglichen Erdkruste verloren. Die Ozeanplatten sind schwerer, sinken unter die Kontinente und werden wieder eingeschmolzen. Durchschnittlich ist der Ozeanboden nur circa 200 Millionen Jahre alt – zu jung für eine lange Reise ganz zurück.
Auch Gesteine als Zeugen von über drei Milliarden Jahren Erdgeschichte sind rar, sie kommen an weniger als 15 Prozent der Landoberfläche vor. Es ist daher ein spektakuläres Ereignis, wenn es Geologen gelingt, irgendwo auf der Welt einen wirklich alten Stein zu finden, um mehr über den Beginn der Erdgeschichte lernen zu können. Zur Datierung nutzen wir heute vor allem Zirkone, sehr stabile Kristalle aus Zirkonium-Silikat mit Spuren radioaktiver Nuklide, deren Zerfall genaue Altersbestimmung ermöglichen. Eine solche quantitative Forschung zum Erdursprung gelingt so erst seit wenigen Jahrzehnten.
Kein Wunder also, dass es für eine lange Zeit viel Streit darum gab, wie die Erde entstanden ist und welche Rolle Wasser und Feuer dabei gespielt haben. Dieser Streit blieb nicht nur eine Diskussion unter Naturwissenschaftlern, sondern erreichte Theologen, Philosophen, Dichter wie auch die Öffentlichkeit. Nicht zuletzt geht es dabei um die Schöpfung. In der biblischen Schöpfungsgeschichte ist der Ursprung der Erde so beschrieben:
»Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei ein Unterschied zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah also. Und Gott nannte die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der andere Tag. Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Örter, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer.«
Das ist geologisch gesehen angemessen vorsichtig ausgedrückt und lässt viel Raum für Hypothesen um konkurrierende Elemente, Prozesse und Naturgewalten. Wie wir heute wissen, gab es am Anfang der Erdgeschichte tatsächlich keine „Feste zwischen den Wassern“. Die Atmosphäre über der sich ausbildenden Kruste einer riesigen Magmakugel war geprägt von dichten Wolken aus CO2, Stickstoff und Wasserdampf, die einen extremen Treibhauseffekt bewirkten. Für flüssiges Wasser war es auf der jungen Erdoberfläche zunächst viel zu heiß. Durch Abkühlung entstand Krustenbildung. Doch immer wieder kam es zu Impakten durch einschlagende Meteoriten, die die Kruste teilweise wieder verflüssigten. Der schwerste Impakt hatte zur Folge, dass der Mond herausgeschleudert wurde und die früheste Kruste wieder aufschmolz. Erst danach wurde es allmählich stabil genug, um den Wasserdampf zu einem Meer aus Wasser kondensieren zu lassen und um die Erdkruste zu formen. Der erste Weltozean hatte dabei eine magmatische Kruste, aus der allmählich die Kontinente aufsteigen konnten.
Ein Teil von dieser Idee des Weltozeans, aus der sich die feste Erde bildet, steckt in der Theorie des Neptunismus, benannt nach Neptun, dem Gott des Meeres. Abraham Gottlob Werner (1749–1817), sächsischer Geologe und Begründer der Mineralogie, lehrte, dass alles Gestein durch Auskristallisation aus einem die Erde umspannenden Urmeer entstanden sei. Fälschlicherweise ging er davon aus, dass nicht nur manche, sondern alle Gesteine der Erde so abzuleiten wären. Ihre Ausfällung würde zu Sedimenten führen, Ablagerung am Meeresboden des Urozeans. Nach seiner Lehre sollten sich die Gesteinsarten entsprechend nach dem Zeitraum ihrer Bildung in ihrem Vorkommen unterscheiden, und zwar in der Reihenfolge, in der sie aus dem Ozean ausgeschieden wurden. Eine entsprechende Schichtung der Kontinentalkruste leitete er aus seinem Untersuchungsgebiet im Erzgebirge an den dort beobachteten Gesteinsfolgen ab. Auch dem Basalt und dem Granit schrieb er eine Ausfällung aus Wasser zu. Dabei hatte er einfach Pech mit der Stratigrafie an seinem Standort. Wo er Basaltreste fand, war ihr vulkanischer Ursprung nicht mehr erkennbar. Erosion hatte den ehemaligen Vulkan abgetragen. Weder er noch seine Zeitgenossen ahnten etwas vom Vulkanismus unter dem Erzgebirge.
Goethe war ein begeisterter Mineralsammler, rund 18.000 Stück trug er zusammen, die heute in der wissenschaftlichen Sammlung des Goethe-Nationalmuseums bewahrt und erforscht werden. Er folgte Werner und war Neptunist. Goethe glaubte an den wässrigen Ursprung der Gesteine und den Ozean als Urkraft. Den Streit zwischen den Neptunisten mit ihrer mineralogischen Forschung und den Plutonisten mit ihrem Hang zu Feldforschung an Vulkanen und spektakulären Weltreisen inszenierte Goethe in den Szenen der Klassischen Walpurgisnacht im Faust II: Anaxagoras und Thales liefern sich einen Schlagabtausch darüber, wie Gebirge entstanden sein könnten. „Plutonisch grimmig Feuer, Äolischer Dünste Knallkraft, ungeheuer, durchbrach des flachen Bodens alte Kruste“, sagt Anaxagoras. Die Sirenen warnen vor Erdbeben. Denn Seismos ruft die Naturgewalten der tiefen Erde herbei:
»Einmal noch mit Kraft geschoben,
Mit den Schultern brav gehoben!
So gelangen wir nach oben,
Wo uns alles weichen muß.«
Doch Thales setzt auf die sanfte, lebendig bildende Kraft des Wassers und singt:
»Heil! Heil! aufs neue!
Wie ich mich blühend freue,
Vom Schönen, Wahren durchdrungen …
Alles ist aus dem Wasser entsprungen!!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ocean gönn’ uns dein ewiges Walten.«
Der deutsche Neptunismus war die Antwort auf die englische Schule des Plutonismus, in Deutschland oft auch als Vulkanismus bezeichnet. Ihr Namensgeber Pluto ist der Gott der Erdtiefe und ihrer Totenwelt und steht für die inneren Kräfte der Erde, dem „Zentralfeuer“. Es war der schottische Geologe James Hutton, der zuerst die wesentlichen Gestaltungskräfte der Erde in ihrem heißen Mantel verortete. Er verfolgte die Theorie eines dynamischen Prozesses der Erdentstehung unter großer Hitze, die zu Kontinenten mit ihren Gebirgen und Vulkanen führte und durch besondere Gesteine markiert war. Der Plutonismus erklärte die Bildung der frühen Erdkruste vor allem aus vulkanischen Phänomenen, durch die Abkühlung von Magma und ihrer Auskristallisation in Magmatite – Erstarrungsgestein – wie Basalt und Granit.
Der Neptunist Abraham Gottlob Werner lehrte an der Akademie Freiberg Mineralogie. Seine Schüler waren nicht überzeugt: Leopold von Buch (1774–1853) und Alexander von Humboldt (1769–1859) verhalfen dem Plutonismus in Deutschland zum Durchbruch und beeinflussten letztendlich auch Goethe. Von Buch besuchte Italiens Vulkane und beobachtete die Abfolge von basaltischen und granitischen Gesteinen, die er auf Magma-Erkaltung zurückführte. Als Feldforscher schien es ihm unwahrscheinlich, dass Vulkane reine Oberflächenstrukturen seien, gespeist von Hitze aus darunterliegenden Kohlelagern, wie von den Neptunisten behauptet. 1821 veröffentlichte er seine Theorien zur Kraft des Magmas und der Ursache von Vulkanen. Auch Alexander von Humboldt besuchte viele aktive Vulkane – zum Beispiel auf den Kanarischen Inseln – und entwarf Ideen zu ihrer geologischen Rolle auf der Erde. Die Vorstellung verbreitete sich, dass Vulkanismus und Magmaausbrüche weltweit eine wichtige Rolle in der Prägung der Erdkruste spielen.
Goethe war besonders von Alexander von Humboldts Reiseerzählungen beeindruckt. In Faust – der Tragödie zweiter Teil – lässt er Mephistopheles auf der Reise mit Faust und dem Homunkulus über Vulkanismus schimpfen (Klassische Walpurgisnacht, Vers 7684):
»Wer weiß denn hier nur, wo er geht und steht,
Ob unter ihm sich nicht der Boden bläht?
Ich wandle lustig durch ein glattes Thal
Und hinter mir erhebt sich auf einmal
Ein Berg, zwar kaum ein Berg zu nennen,
Von meinen Sphinxen mich jedoch zu trennen
Schon hoch genug – Hier zuckt noch manches Feuer
Das Thal hinab, und flammt ums Abenteuer …«
Die große Frage nach dem Ursprung des Planeten und seinem Leben führte über den Streit zwischen den Anhängern des Neptunismus und des Plutonismus über das „Heroische Zeitalter der Geologie“, von extremen Entdeckungsreisen und Feldforschung geprägt, immerhin zur Gründung der modernen Erdsystemforschung. Wie der Münchner Geologe Karl Alfred von Zittel über die Zeit von 1790 bis 1820 schrieb: „Kühne Forscher wagten es, in die wildesten Theile der Hochgebirge einzudringen und bestiegen bis dahin für unerreichbar gehaltene Schneegipfel; opferwillige Reisende erforschten die menschenleeren Regionen Sibiriens, die entlegenen Hochgebirge Asiens und Amerikas und brachten aus fernen Welttheilen eine Fülle von Beobachtungen nach Hause, die zum Vergleich mit den heimischen Verhältnissen aufforderten.“
Heute wissen wir viel mehr über die Wechselwirkungen zwischen Erdkruste und Erdmantel: Die Bildung, das Absinken und die Schmelze der ersten Erdkruste lief in der frühen Erdgeschichte schneller und anders ab als heute. Denn die Temperaturen des Erdmantels waren zunächst höher. Das behinderte das Absinken der im ersten Ozean gebildeten Erdkrusten aus Silizium, Aluminium und anderen leichten Elementen. Sie stapelten sich übereinander und bildeten auf diese Weise die ältesten Kontinentalkerne. Mit zunehmender Abkühlung der Erde entstand ein weiterer Krustenbildungsprozess. Die unter die Kontinente absinkende basaltige Ozeankruste gelangte tiefer ins Erdinnere und gab ihr Wasser an den heißen Erdmantel darüber ab. Bei der Schmelze der Basalte stiegen die siliziumreichen Magmen auf und bildeten eine neue Kontinentalkruste, während das schwerere magnesium- und eisenhaltige Material in den Mantel zurückgeführt wurde. Der größte Teil der Kontinentalmasse bildete sich so im Zeitraum zwischen 3,5 und 2 Milliarden Jahren. Bis heute hält dieser Prozess an und lässt die Kontinente ständig wachsen. Das Festland ist also schon aus dem Meer aufgestiegen, aber seine Gesteine sind zunächst aus Magmatiten gebildet.
Heute ist klar, dass im Ozean heißes, magmatisiertes Erdmantelmaterial in Konvektionsströmen nach oben aufsteigt und austreten kann. Im Ozean bildet sich an den mittelozeanischen Rücken neue Kruste nach. So fließt die ozeanische Kruste langsam vom mittelozeanischen Rücken weg, bis sie auf Kontinentalplatten stößt und unter ihnen absinkt. Eine andere Wechselwirkung zwischen Meer und Land machte die Erde schließlich bewohnbar: Im Meer entsteht die Photosynthese, Einzeller erfinden die Spaltung von Wasser mit Sonnenenergie und erzeugen Sauerstoff. An den submarinen Kontinentalrändern und ihren Schelfmeeren wurden im Verlauf der Erdgeschichte gigantische Kalkgesteine gebildet, vor allem vom Leben selbst.
Obwohl Geodynamik und Geophysik auch beim Verständnis des Erdmantels, des großen, heißen, inneren Ozeans der Erde Fortschritte gemacht haben, bleibt vieles rätselhaft. Wir wissen immer noch nicht genug über die chemische Zusammensetzung und das Verhalten der Mantel- und Kernschichten der Erde von ihrer Entstehung bis zur heutigen Dynamik, denn wir können sie weder beproben noch bereisen. Sicher scheint jedenfalls, dass die Mantelkonvektion innerhalb großer geologischer Zeiträume den ganzen Erdball durchknetet wie einen Brotteig. Moleküle aus der Atmosphäre geraten ins Meer, gehen neue Verbindungen ein, gelangen durch Subduktion ins Erdinnere, tauchen irgendwann als Lava wieder auf, werden sedimentiert, ausgewaschen, verdunsten. Und so geht die Metamorphose endlos weiter. Die Erde ist dynamisch, in ihrem äußeren wässrigsalzig-kaltem wie innerem heißen Ozean.
Auch die vermeintlich feste Oberfläche ist nicht mehr die, die sie mal war. Längst hat der Mensch die Naturgewalt der Vulkane überholt und ist die stärkste geologische Kraft auf der Erde geworden. Und heute streiten wieder Mineralogen mit Geologen, mit Atmosphärenforschern aber auch Transformationsforschern und Philosophen um Sedimente und Weltanschauung. Diesmal geht es darum, ob der menschliche Einfluss auf die Erdoberfläche so groß und gewaltig ist, dass dies einem neuen geologischen Zeitalter entspricht: der Ära des Anthropozäns. Wir streiten uns alle, wer am Anthropozän schuld ist und wie wir da wieder herauskommen. Nur Theologen und Dichter halten sich noch etwas zurück, als könnten sie mit dieser Form von Gewalt und Hybris gar nicht so viel anfangen. In einigen Jahrhunderten schaut man auf die Texte dieser Zeit, unseres Heute, auf die Ablagerungen von Literatur und Poesie in den Archiven – so wie wir heute Goethes Werk analysieren und uns fragen, wie sehr er an die Macht von Neptuns Reich glaubte. Immerhin, heute finden wir über Gestern: Das Thema zunehmender menschlicher Kräfte, die die Erde umgestalten, ist in Goethes Faust schon angelegt, vor der industriellen Revolution – sowohl als Utopie eines fruchtbaren Gärtnerns der Erde für das paradiesische Leben im Einklang mit den Elementen, wie auch in der Dystopie der wachsenden Übernutzung. So warnt uns die alte Frau, Baucis – eine mythologische Figur aus Ovids Metamorphosen – schon damals vor Verlusten:
»Tags umsonst die Knechte lärmten,
Hack’ und Schaufel, Schlag um Schlag;
Wo die Flämmchen nächtig schwärmten,
Stand ein Damm den andern Tag.
Menschenopfer mußten bluten,
Nachts erscholl des Jammers Qual;
Meerab flossen Feuergluten,
Morgens war es ein Kanal.
Gottlos ist er, ihn gelüstet
Unsre Hütte, unser Hain’
Wie er sich als Nachbar brüstet,
Soll man untertänig sein.«
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