
Adolf Hitler (1932) © Klassik Stiftung Weimar
Ein Suchbild und viele Fragen
Nietzsche im Nationalsozialismus
Die Kabinettausstellung „Nietzsche im Nationalsozialismus“ thematisiert die Rolle des Nietzsche-Archivs in der NS-Zeit. Justus H. Ulbricht geht in seinem Beitrag Fragen darüber nach, was Nietzsche mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, wie er und sein Werk in der NS-Zeit verwendet, verfälscht und verklärt wurden, und warum sich Faschisten und Antifaschisten zugleich für ihn begeistern konnten.
Ikone der Gleichschaltung
Im Nachlass des ehemaligen Nietzsche-Archivs in Weimar existiert ein Foto vom 20. Juli 1934, das die „Heimholung“ Nietzsches ins Reich Adolf Hitlers zu beglaubigen scheint. Der „Führer“, der oft und gerne in Weimar weilte, steht vor dem Hauptportal des Archivgebäudes und wird von der „Archivherrin“ Elisabeth Förster-Nietzsche sowie weiteren Gästen erfreut begrüßt. Hitler besuchte das Nietzsche-Archiv erstmals 1932 nach der Uraufführung eines von Benito Mussolini, dem italienischen „Duce“, verfassten Napoleon-Dramas im Weimarer Nationaltheater. Er kehrte 1933 und 1934 wieder, leistete dem Archiv mehrfach finanzielle Unterstützung und war schließlich Ehrengast bei der Trauerfeier für Elisabeth Förster-Nietzsche am 11. November 1935.
Doch die hohe Konjunktur Nietzsches in der NS-Zeit war weniger Hitler selbst zu verdanken als vielmehr denjenigen Intellektuellen, Journalisten und akademischen Philosophen, die den sprichwörtlichen Umwerter aller Werte um jeden Preis zum Propheten oder Vordenker des sogenannten Dritten Reiches der Deutschen machen wollten. Sie dienten damit der geistigen Aufwertung eines totalitären Regimes, mehrten den eigenen Ruhm und beglaubigten mit ihren Texten die Treue zu „Führer, Volk und Vaterland“.
Die Kriege und Katastrophen im „Zeitalter der Extreme“, dem 20. Jahrhundert, und dessen politische wie moralische Abgründe ließen nach 1945 die internationale Nietzsche-Forschung sowie die Öffentlichkeit nicht zur Ruhe kommen. Die Frage, ob Nietzsches Philosophie den Nationalsozialismus vorgedacht, inspiriert oder gar legitimiert habe, verstummte nie. Bis heute ist der Fall Nietzsche nicht abgeschlossen – er liegt aber komplizierter, als das erwähnte Foto glauben machen möchte.

Adolf Hitler wird von Elisabeth Förster-Nietzsche vor dem Nietzsche-Archiv empfangen, 1934
Politik „im Geiste Nietzsches“
Zu Lebzeiten war Nietzsche eher ein Geheimtipp unter Intellektuellen, Künstlern und im eigenen Freundeskreis. Wissenschaft, Kirche, Schule und andere etablierte Institutionen im Deutschen Kaiserreich lehnten ihn und sein Denken dagegen strikt ab. Seit 1889 psychisch schwer krank, wurde er zum Pflegefall und starb am 25. August 1900 in Weimar.
Dass er just zur Jahrhundertwende abtrat, faszinierte seine Bewunderer, deren Zahl innerhalb weniger Jahre in ganz Europa anwuchs. Nietzsche inspirierte fortan nicht mehr nur einzelne Künstler, sondern auch die bildungsbürgerlichen Reformbewegungen in Deutschland, die Kunst- und Kulturkritik, die Lebensreform- und Körperkulturbewegung, den Ausdruckstanz und die Rhythmik. Auch die Jugendbewegung und die Reformpädagogik schworen auf den „Künder neuer Werte“ und seine Idee des „neuen Menschen“. Die Rezeption seiner Schriften erfolgte meist selektiv und anlassbezogen, einem späteren Bonmot Kurt Tucholskys entsprechend: „Sage mir, was Du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen.“
Im engeren Sinne politisiert wurde Nietzsches Denken bereits im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, jener Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die man in England gar den „Euro-Nietzschean-War“ genannt hat. Künstler der Avantgarde-Bewegungen (Expressionismus, Futurismus, Kubismus und Bauhaus) setzten nach der Kriegsniederlage und Revolution weiterhin auf Impulse nietzscheschen Denkens. Doch für die spätere Wirkung war etwas anderes entscheidend: Deutschnationale Republikfeinde, Gruppen der völkischen Bewegung und schließlich die aufstrebende NSDAP bauten den Philosophen beziehungsweise jeweils passende Fragmente seines Denkens in ihre Weltbilder ein. Nietzsche selbst unterlag nun der Umwertung seiner Werte: Aus dem Kritiker von Antisemitismus und Nationalismus wurde ein „deutscher Denker“, dessen Distanz zur Politik der Kaiserzeit gegen die Weimarer Republik gewendet wurde. Das intellektuelle Ideal des selbstdenkenden „Übermenschen“ deutete man um zum „Herrenmenschen“ oder gar „Arier“. Der Philosoph und seine berühmteste Kunstfigur Zarathustra wurden zu Heroen stilisiert und damit im deutschnationalen, völkischen und antidemokratischen Sinn vereinnahmt. Was Nietzsche einst – angeblich – erdacht hatte, sollte nun in die Tat umgesetzt werden.
Die „Deutschsprechung“ Nietzsches (ein Begriff Franz Pfemferts von 1915) begann also lange vor 1933. Neben Publizisten wie Houston Stewart Chamberlain (Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 1899), Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlandes, 1919/20) oder Alfred Rosenberg (Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 1930) war der Philosoph Alfred Baeumler mit seinem Bestseller Nietzsche der Philosoph und Politiker (1931) besonders einflussreich. Baeumler, nach 1919 Anhänger antidemokratischer Kreise, wurde 1930 Mitbegründer des „Kampfbunds für deutsche Kultur“. Sein enger Kontakt zu Hitler und Rosenberg sorgte ab 1933 für eine steile Karriere. Zusammen mit seinem Kollegen (und Konkurrenten) Ernst Krieck gehörte er zu den maßgeblichen Vordenkern der NS-Pädagogik. Baeumler identifizierte Nietzsche als Repräsentanten „germanischer Gesittung“ und als „Künder“ eines „heroischen Realismus“: „Seine Lehre vom Willen ist der vollkommenste Ausdruck seines Germanismus.“ Ein neuer deutscher Staat werde „aus dem Geiste Nietzsches und dem Geist des großen Krieges“ – gemeint war der Erste Weltkrieg – geschaffen.
An diesen und vielen weiteren Umdeutungen und Verfälschungen war das Weimarer Nietzsche-Archiv unter der Leitung Elisabeth Förster-Nietzsches maßgeblich beteiligt. Derartige Ideologisierungen gelten in der heutigen Nietzsche-Forschung als mit dem Werk des Philosophen unvereinbar.
Nietzsche, Mussolini und die „Ethik des Faschismus“
Eine der berühmt-berüchtigtsten Indienstnahmen Nietzsches für die Ideen eines totalitären Regimes fand bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Italien statt, dem Sehnsuchtsland des Philosophen. Im Jahr 1908 veröffentlichte ein radikaler italienischer Sozialist den Essay La filosofia della forza (Die Philosophie der Macht): Benito Mussolini. Dieser wechselte ab 1918 seine Gesinnung und wurde Führer der faschistischen Bewegung. In einem Interview mit dem in England lebenden Nietzsche-Verehrer Oscar Levy bekannte der „Duce“ 1924 seine intensive Nietzsche-Lektüre: „Sie haben ganz recht mit ihrer Annahme, daß ich von ihm gelernt habe […]. [Seine Werke] haben mich von meinem Sozialismus kuriert.“
Dieses Bekenntnis wurde im Nietzsche-Archiv aufmerksam registriert. In der Gazzetta di Venezia publizierte Max Oehler, ein Cousin Nietzsches, der eng mit Elisabeth Förster-Nietzsche zusammenarbeitete, im August 1925 den Aufsatz Mussolini und Nietzsche. Ein Beitrag zur Ethik des Faschismus, der in einer Festschrift zu Nietzsches 30. Todestag erneut abgedruckt wurde. Damit war ein erstes Band zwischen dem Archiv und Mussolini, dem „herrlichsten Jünger Zarathustras, den sich Nietzsche träumte“ (so Förster-Nietzsche), geknüpft. Zu Förster-Nietzsches 80. Geburtstag ging eine große Spende aus der Privatschatulle Mussolinis in Weimar ein, und an der Trauerfeier für die Archivherrin im November 1935 nahmen auch Vertreter des italienischen Staates teil. 1944 stiftete Mussolini für die im Bau befindliche „Nietzsche-Gedächtnishalle“ in Weimar eine antike Dionysos-Statue, die allerdings in den Wirren gegen Ende des Krieges nicht mehr aufgestellt und später an den italienischen Staat zurückgegeben wurde.

Porträt Benito Mussolinis mit eigenhändiger Widmung an Elisabeth Förster-Nietzsche, datiert auf den 11. Juni 1926: „Für Frau Elisabeth Förster-Nietzsche mit großer Verehrung“

Adolf Hitler im Nietzsche-Archiv bei der Trauerfeier für Elisabeth Förster-Nietzsche, November 1935

Richtfest für die von Paul Schultze-Naumburg entworfene „Nietzsche-Gedächtnis-Halle“ in Weimar, 1938

Innenraum der „Nietzsche-Gedächtnis-Halle“, Rohbau, Sichtachse von der Eingangshalle zur Apsis, 1938

Karteikarte des britischen War Department vom Februar 1918: Oscar Levy galt als Verdachtsfall für „Enemy Activities“
Seltene Widersprüche
Diejenigen, die der Indienstnahme Nietzsches für den Nationalsozialismus und Faschismus widersprachen, waren in der Minderheit und lebten zumeist im Exil oder in der „inneren Emigration“. Denker wie Karl Jaspers oder Max Horkheimer widersprachen der nationalsozialistischen Vereinnahmung Nietzsches entschieden, und selbst der Antidemokrat und konservative Revolutionär Oswald Spengler trat 1935 aus dem Vorstand des Nietzsche-Archivs aus, weil er meinte: „Entweder man pflegt die Philosophie Nietzsches, oder die des Nietzschearchivs, und wenn beide sich in dem Grade widersprechen, wie es der Fall ist, muß man sich entscheiden.“
Noch deutlicher wurden zwei politisch ganz gegensätzliche Nietzsche-Leser. Der Zahnarzt und Musikwissenschaftler Curt von Westernhagen warnte als überzeugter Nationalsozialist und Antisemit seine Gesinnungsgenossen vor Nietzsche: „In diesem Waffengang zwischen Judentum und Deutschtum stand Nietzsche in den Reihen des Judentums, aus Neigung und Berechnung, mit Herz und Kopf. […]: er hat den jüdischen Geist über den deutschen Geist gestellt.“
Der bereits erwähnte Oscar Levy, ein überzeugter Europäer und säkularer Jude, lebte seit 1892 in London, wo er zwischen 1907 und 1913 die erste Gesamtausgabe Nietzsches in englischer Sprache edierte. Während des Ersten Weltkriegs galt Nietzsche in Großbritannien als geistiger Wegbereiter des deutschen Militarismus. Als Verfechter von Nietzsches Ideen wurde Levy 1921 ausgebürgert, war fortan staatenlos und damit in jeder Hinsicht ein freier Geist. In hunderten Artikeln, die in wichtigen Zeitungen Englands, Deutschlands, Frankreichs und Amerikas erschienen, focht Levy über Jahrzehnte hinweg für den Philosophen und gegen all jene, die Nietzsche seines Erachtens falsch verstanden oder gewaltsam umdeuteten. Sein bereits seit 1908 existierender Kontakt zum Nietzsche-Archiv ging zurück, je mehr sich Elisabeth Förster-Nietzsche dem Faschismus und Nationalsozialismus zuwandte. Über Nietzsches Schwester schrieb Levy 1935: Diese „blinde Pythia des Nietzsche-Kultus […] hat dessen ‚Umwertung aller Werte‘ einfach in die ‚Wertung aller Unwerte‘ umgefälscht“.

Portrait von Oscar Levy
Und heute?
In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später in der DDR überwog bis in die 1980er Jahre hinein die Vorstellung, Nietzsche sei ein Vertreter des deutschen Irrationalismus gewesen und damit zum Wegbereiter des Nationalsozialismus geworden. Die neuere Nietzsche-Forschung hat den Philosophen mehrheitlich von diesem Verdacht freigesprochen, indem sie die Verfälschung, Aneignung und Ideologisierung seiner Werke in der NS-Zeit aufgezeigt hat.
In den 1960er Jahren hatten Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Philosophen aus dem Umfeld des Partito Comunista Italiano, die Erlaubnis der DDR-Behörden, in Weimar an Nietzsches Nachlass zu arbeiten und die Kritische Gesamtausgabe der Schriften und Briefe Nietzsches zu edieren. Diese Ausgabe ist bis heute die unverzichtbare Grundlage einer kritischen, in interpretatorischen Details weiterhin streitbaren und widerspruchsvollen Nietzsche-Forschung in aller Welt.
Man muss Nietzsche lesen, um ihn (und vielleicht sogar sich selbst) zu (er)kennen. Dabei darf man jedoch einen Fehler nicht machen, auf den Nietzsche selbst schon hingewiesen hat: „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze.“1
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Lyrik von Tom Tritschel / O.T.Z.E.

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