Eine (un)mögliche Ausstellung

Interview mit den Kurator*innen

31.08.2023 1

Die Sonderausstellung Nietzsche privat im Museum Neues Weimar zeigt erstmals die Einrichtung der Geschwister Nietzsche. Was uns die Möbel heute noch erzählen können, warum historische Fotos für die Ausstellung wichtig sind und was es mit der Inszenierung der Objekte auf Paletten und in Transportkisten auf sich hat, verraten die Kuratoren im Interview.

Wie kamen Sie auf die Idee, die Wohngegenstände von Friedrich Nietzsche und Elisabeth Förster-Nietzsche in den Fokus einer Ausstellung zu rücken?
Manuel Schwarz: Im Rahmen des Projekts Kunst und Memoria, das im For­schungs­verbund Marbach Weimar Wolfenbüttel angesiedelt ist, beschäftigen wir uns schon seit ei­ni­ger Zeit mit dem dinglichen Nachlass des Weimarer Nietzsche-Archivs. Hierzu ge­hö­ren einerseits die Bildnisse von Friedrich Nietzsche, die ebenfalls Teil der Aus­stellung sind, aber auch das Mobiliar und der Hausrat der Geschwister Nietzsche. In den 1990er Jahren hat sich unsere frühere Kollegin Angelika Emmrich mit ein­zelnen Stü­cken befasst, mit sehr interessanten Ergebnissen. Doch eine systematische Auf­ar­bei­tung der Einrichtung, die zu DDR-Zeiten eingelagert wurde, fehlte bislang.

Sabine Walter: Der Bestand ist gigantisch und treibt mich schon länger um. Im Arbeitsalltag konnten wir uns nicht einfach nebenbei damit beschäftigten, dafür brauchte es schon ein richtiges Projekt. Kunst und Memoria und das Themenjahr Wohnen der Klassik Stiftung Weimar boten uns endlich einen Anlass, die Objekte zu zeigen. Wir haben uns erst mit den Restaurator*innen zusammengesetzt, denn die Möbel waren in einem desolaten Zustand und sind es nach wie vor. Die Kolleg*innen haben sie dann für die Ausstellung transport- und ausstellungsfähig gemacht, auf­wen­dig restauriert wurden sie aber nicht.

Erstmals werden die Möbel und persönlichen Gegenstände der Geschwister Nietzsche in einer Ausstellung gezeigt, © Klassik Stiftung Weimar – Foto: Henry Sowinski

Was erzählen die Objekte über das Zusammenleben der Geschwister Nietzsche?
Manuel Schwarz: Für die Ausstellung haben wir die Objekte so gruppiert, wie sie auf den historischen Fotos vom Obergeschoss des Nietzsche-Archivs, wo Nietzsche im Jahr 1900 verstarb, zu sehen sind. Man kann sich fragen, wie authentisch die Räume sind. Alle Innenraumaufnahmen, auf die wir uns beziehen, sind in Weimar ent­stan­den. Zur Zeit der Aufnahmen war Nietzsche also bereits geistig um­nach­tet be­zieh­ungs­weise tot. So gesehen handelt es sich bei den Räumen um In­sze­nierungen von Elisabeth Förster-Nietzsche: 1897 hat sie ihren kranken Bruder nach Weimar geholt und ihn noch drei Jahre bis zu seinem Tod gepflegt und ausgewählten Gästen vorgeführt.

Sabine Walter: Nietzsche selbst hat auch nicht viel Wert auf ein spezielles Ein­rich­tungs­design gelegt. Es war seine Schwester, die seine Baseler Wohnung eingerichtet hat. Die Wahl der Möbel und des Hausrats war damals eher Frauensache. Wir können nur von zwei Möbeln nachweisen, dass der „denkende“ Nietzsche darin in Basel ge­lebt hat: Ein barocker Kabinettschrank und ein Biedermeierschrank. Beide sind in der Aus­stel­lung zu sehen. Die restliche Einrichtung war sicherlich im zeittypischen Stil des His­to­ris­mus. Nachdem Nietzsche 1879 Basel verlassen hat, war er freier Philosoph ohne einen festen Wohnsitz. Er ist also viel gereist und hat oft in Gästezimmern ge­lebt, die vermutlich ähnlich altdeutsch eingerichtet waren. Dabei kritisierte Nietz­sche die „Jahrmarktsbuntheit“ des deutschen Historismus, den er als „Tumult aller Stile“ und als rückwärtsgewandt beschrieb. Dass Nietzsche Kritik an einem Stil übte, in dem er selbst lebte, ist einerseits widersprüchlich, andererseits muss man ihm zu­gu­te­halten, dass er keine Wahl hatte: Er hatte weder Geld noch Möglichkeit, sich bei­spiels­weise mit den neuen Arts-and-Crafts-Möbeln aus England einzurichten und der moderne Jugendstil kommt erst später. Nietzsche stirbt zwar 1900, der denkende Nietzsche ist aber bereits 1889 tot.

Curt Stoevings Porträt von Friedrich Nietzsche, 1894, Klassik Stiftung Weimar – Museen

Erst in den 1890er-Jahren setzt eine künstlerische Auseinandersetzung mit Nietzsche ein, © Klassik Stiftung Weimar – Foto: Henry Sowinski

Und die Bildnisse von Friedrich Nietzsche?
Manuel Schwarz: Interessanterweise hat sich Friedrich Nietz­sche vor seinem gei­stigen Zusammenbruch nicht malen lassen. Er war auch noch nicht sehr berühmt, sodass keine große Nachfrage nach seinem Bildnis existierte. Erst mit dem be­gin­nenden Ruhm und dem Nietz­sche-Kult in den 1890er-Jahren setzte eine künst­le­rische Auseinandersetzung mit ihm ein. Teil­weise kamen die Künstler freiwillig, teilweise handelte es sich um Auftragsarbeiten von Zeitschriften oder von Elisabeth Förster-Nietz­sche. Man kann anhand von Briefen zeigen, wie sie Einfluss auf das Nietz­sche-Bild genommen hat. Dabei stand die Frage im Raum, wie man „diesen Nietzsche“ darstellt: als Kranken, als Märtyrer, als großen Denker oder als Über-Nietz­sche? Curt Stoevings erstes Gemälde von 1894 wurde von der Schwester bei­spiels­weise kritisiert, weil sie fand, dass ihr Bruder darauf zu krank wirkte. Vor allem die Port­räts von Hans Olde und Max Klinger wurden von ihr und anderen sehr gelobt und prägten das Nietz­sche-Bild – bis heute.
Was ist mit dem privaten Besitz der Geschwister passiert, nachdem Elisabeth Förster-Nietzsche am 8. November 1935 gestorben ist?
Sabine Walter: Zunächst blieben die Dinge vor Ort, als Max Oehler, der Cousin der Geschwister Nietzsche, die Leitung des Archivs übernommen hat. 1945 wurde das Nietzsche-Archiv von der sowjetischen Militäradministration geschlossen und ver­siegelt. Oehler, ein vom Nationalsozialismus überzeugter ehemaliger Major und inzwischen über 70jährig, kam ins Gefängnis und wurde wegen vermeintlicher „Kriegs­verbrechen“ hingerichtet. In den 1950er Jahren löste die Vorgängerinstitution der Klassik Stiftung Weimar die Einrichtung auf. Die heutige Herzogin Anna Amalia Bibliothek übernahm die Bücher. Möbel und Hausrat gelangten in wechselnde Museumsdepots. Manuskripte, Typoskripte, Fotos und Briefe kamen in das Goethe- und Schiller-Archiv.

Das Nietzsche Archiv im Jahr 1903, © VG Bildkunst 2023

Wie wurde mit Friedrich Nietzsche in der DDR umgegangen?
Sabine Walter: Nietzsche galt zu DDR-Zeiten als Persona non grata. Aus damaliger Sicht nicht zu Unrecht, denn Elisabeth Förster-Nietzsche und die Familie Oehler haben sich den faschistischen Systemen in Italien und Deutschland aktiv angedient. Und tatsächlich gibt es problematische Aussagen von Nietzsche, welche die Nazis in ihrem Sinne verwendet haben. Daher wurden seine Werke lange unter Verschluss gehalten. Man kam an nichts ran, nicht an seine Briefe und auch nicht an seine Werke. Nietz­sches Bücher konnte man allerhöchstens heimlich „unterm Ladentisch“ er­wer­ben. Erst seit den 1980er Jahren hat sich die DDR wieder für eine neue Nietz­sche-Rezeption geöffnet. 1991 wurde eine neue Dauerausstellung im Nietzsche-Archiv eröffnet, allerdings nur im Erdgeschoss mit der Jugendstilausstattung von Henry van de Velde.
Und die Möbel der Geschwister?
Sabine Walter: Der gesamte Hausrat liegt seit den 1950er Jahren im Museumsdepot und wir wissen eigentlich nicht, was wir damit machen sollen. Kunsthistorisch sind die Dinge weitgehend unbedeutend, das Interessante an ihnen ist ihre Herkunft. Heute wollen wir sie nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, als „Reliquien“ ausstellen. In einer musealen Präsentation auf Sockeln und unter Glas würden sie zu Fetischen. Friedrich Nietzsche hätte sich diese Ikonisierung auch verbeten. Außerdem würden wir Elisabeth auf den Sockel heben, die Einrichtung geht ja auf sie zurück. Also, wie geht man heute mit Nachlässen historisch bedeutender Persönlichkeiten um? Das ist eine spannende Frage.
… die Sie auch mit Ihrer Inszenierungspraxis aufgreifen. Können Sie etwas dazu sagen, warum die Exponate auf Paletten und in Transportkisten ausgestellt werden?
Sabine Walter: Uns war von Beginn an klar, dass wir die Dinge ungewöhnlich zeigen müssen. Beim Eintreten soll deutlich werden, dass hier etwas in Frage gestellt wird: Die Ausstellung präsentiert sich unfertig, die Dinge sind nicht in Vitrinen oder unter Verschluss und edel inszeniert. Stattdessen zeigen wir einen nicht erforschten Bestand, der viele Fragen aufwirft. Beispielsweise sind die Möbel schwarz angemalt. Warum? Vielleicht, weil Nietzsche empfindliche Augen hatte? Wir wissen es nicht.

Manuel Schwarz: Die Inszenierung in Kunsttransportkisten hat auch etwas mit der Ort­losig­keit der Objekte zu tun. Seit 1945 waren die Gegenstände in un­ter­schied­lichen Depots und dabei immer unter Verschluss. Bis 1945 sind die Möbel teilweise viel gereist und bei vielen wissen wir nicht, wo sie herkommen. Wurden sie angekauft? Handelt es sich um Erbstücke? Von welchen Familienmitgliedern sind sie? Kommen sie aus Weimar, Basel, Naumburg? Welchen Weg haben sie genommen? Da gibt es noch viel zu erforschen.

Sabine Walter: Wir wollen aber noch ein weiteres Thema aufgreifen: Wertvolle Ob­jekte erhalten für den Trans­port maßgefertigte Klimakisten. Die kann man sich wie Matrjoschkas vorstellen, die mit ihren mehreren Schichten das Kunstgut vor Er­schüt­te­rungen und Klima­schwan­kungen schützen. Sobald sie ihren Dienst geleistet haben, werden sie ge­schred­dert. Nur selten werden sie mehrfach genutzt. Das ist, was Nach­hal­tig­keit betrifft, natürlich äußerst fragwürdig. Wir haben uns deshalb überlegt, ge­brauchte Kisten zu verwenden und diese nach der Ausstellung ab­zu­geben. Man kön­nte sie beispielsweise zu Regalen oder Hochbeeten umbauen.

Zimmer von Elisabeth Förster-Nietzsche im Nietzsche-Archiv, 1926, Foto: Atelier Louis Held

Welche Gegenstände, die in der Ausstellung zu sehen sind, haben Sie besonders fasziniert?
Sabine Walter: Der barocke Kabinettschrank ist interessant. Das Pappschild „Basel F.N. 6“ auf der Rückseite belegt, dass er tatsächlich in Nietzsches Wohnung im Spa­lentor­weg 48 in Basel stand. Da er verschließbar ist, hat er sicherlich Wert­ge­gen­stände enthalten. Was hat Nietzsche hier wohl aufbewahrt? Vielleicht den Brief­wechsel mit Richard Wagner? Die Querschliffprobe von der Fassung zeigt uns, dass er ursprünglich rot war und zwölfmal überstrichen wurde. Heute ist er tiefschwarz mit goldenen Zierstreifen, was ästhetisch mit einer gewissen Todes-Faszination assoziiert werden kann, die der Lichtmetaphorik in Nietzsches Schriften krass widerspricht.

Manuel Schwarz: Spannend ist auch der riesige Spiegel von Elisabeth Förster-Nietzs­che. Der ist etwa zwei Meter groß und wir haben herausgefunden, dass Elisabeth vor dem Spiegel in Naumburg geheiratet hat. Das geht aus einem Brief der Mutter an Friedrich Nietzsche hervor, in dem sie die Hochzeitszeremonie beschreibt. Für uns war das nicht vorstellbar. Die Räume in Naumburg sind vergleichsweise klein und mit alten, schweren Möbeln vollgestellt. Also hat Dr. Ralf Eichberg vom Nietzsche-Dokumentationszentrum den Raum für uns ausgemessen. Nun können wir mit Gewissheit sagen, dass Elisabeth vor dem Spiegel in Naumburg geheiratet hat. Das ist aber noch nicht alles. Auf dem Foto ist alles exakt so aufgestellt – der Spiegel, die Stühle, ein Ozelotfell –, wie es die Mutter in dem Brief beschreibt. Es war sehr span­nend, das herauszufinden und in Naumburg zu überprüfen. Auch hier kann man also zeigen, wie Elisabeth ihr eigenes Zimmer zu einem Memorialraum inszeniert hat.

Manuel Schwarz ist Historiker und hat 2023 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert. Er forscht und publiziert vorwiegend zur Thüringer Monarchie-, Kultur- und Landesgeschichte. Als Ausstellungskurator war er u.a. für das Haus der Bayerischen Geschichte tätig. Aktuell leitet er beim Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel (MWW) die Studie „Kunst und Memoria“ zum dinglichen Nachlass des Nietzsche-Archivs und die Forschungsgruppe Raum.

Sabine Walter hat Kunstgeschichte in Tübingen und Paris studiert und arbeitet seit 1996 bei der heutigen Klassik Stiftung Weimar. Als Kustodin in der Abteilung Bauhaus-Museum, Moderne und Gegenwart der Direktion Museen betreut sie die Bestände Malerei, Plastik und Kunstgewerbe aus der Zeit von 1860 bis 1918. Walter verantwortet museumsseitig das Museum Neues Weimar, das Nietzsche-Archiv und das Haus Hohe Pappeln und leitet das Projekt Werkverzeichnis Henry van de Velde.

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